Rudyard Kipling
Indische Erzählungen
Rudyard Kipling

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Lispeth.

Sie war die Tochter des Sonoo, eines Bergbewohners und der Jadeh, seiner Frau. Als ihnen in einem Jahre die Maisernte fehlschlug und zwei Bären nachts in ihr einziges Mohnfeld einbrachen, das gerade über dem Thale Sutley in der Nähe von Kortagh gelegen war, wurden sie im folgenden Jahre Christen und brachten ihr Kind nach der Mission, um es taufen zu lassen. Der Kaplan von Kortagh nannte die Kleine Elisabeth, was im Sahari oder Bergdialekt zu Lispeth wurde.

Später wütete die Cholera im Thale Kortagh und raffte Sonoo und Jadeh dahin. Lispeth war halb die Magd und halb die Gesellschafterin der Frau des Kaplans zu Kortagh.

Ob nun das Christentum Lispeth besser machte, oder ob die Götter ihres Volkes unter allen Umständen dasselbe bei ihr bewirkt hätten, weiß ich nicht; aber sie wuchs auf und ward reizend! Wenn ein Mädchen aus den Bergen hübsch ist, so ist es der Mühe wert, fünfzig Meilen auf schlechten Wegen zu wandeln, um sie sich anzusehen. Lispeth hatte den »Typus«, sie besaß eines jener Gesichter, die man so häufig gemalt sieht, und so selten trifft. Ihre Gesichtsfarbe war blasser als Elfenbein und sie war für ihre Rasse ungewöhnlich groß. Auch ihre Augen waren wunderbar. Wenn man Lispeth unvermutet im Berge traf, so hätte man glauben können, die jagende Diana vor sich zu sehen, obwohl sie nur jene abscheulichen bedruckten Stoffe trug, die in den Missionen eingeführt sind.

Lispeth fand bald Geschmack am Christentum, und als sie älter wurde, verließ sie es nicht, wie viele Mädchen aus den Bergen. Ihr Volk verabscheute Lispeth, weil sie, wie sie behaupteten, eine Memsahib war und sich alle Tage wusch. Die Frau des Kaplans wußte nicht, was sie mit ihr anfangen sollte. Es ist sehr schwer, eine 5 Fuß 10 Zoll hohe Göttin zu bitten, sie möchte das Geschirr abwaschen. Nun spielte Lispeth mit den Kindern des Kaplans, nahm die Sonntagsschule mit, las alle Bücher im Hause und wurde immer schöner, wie die Prinzessin der Feenmärchen. Die Frau des Kaplans sagte, das junge Mädchen solle sich in Simla einen Dienst als Kinderbonne oder eine andere passende Stellung suchen. Aber Lispeth hatte dazu keine Lust. Sie fühlte sich da, wo sie war, sehr glücklich.

Wenn Reisende nach Kortagh kamen – damals kamen noch nicht viel – dann schloß sich Lispeth in ihr Zimmer ein, aus Furcht, nach Simla oder anderswohin, weit fort, in die unbekannte Welt mitgenommen zu werden.

Lispeth war seit einigen Monaten 17 Jahre alt. Eines Tages ging sie aus, um einen Spaziergang zu machen. Sie ging nicht wie die Engländerinnen ein bis zwei Meilen zu Fuß und fuhr zurück im Wagen. Sie legte bei ihren Ausflügen 20-30 Meilen zurück und zwar ging sie sehr schnell die Strecke von Kortagh nach Narkunda. Bei jenem Spaziergang kam Lispeth bei Einbruch der Nacht zurück, etwas Schweres in ihren Armen tragend. Mit dieser Last stieg sie den sehr steilen Hügel hinunter, der nach Kortagh führt. Die Frau des Kaplan schlummerte im Salon, als Lispeth, ganz atemlos, unter dem Gewicht ihrer Bürde fast erliegend, eintrat. Lispeth legte dieselbe auf das Sofa und sagte: »Das ist mein Gatte. Ich habe ihn auf dem Wege nach Bagi gefunden. Er ist verwundet. Wir werden ihn pflegen. Wenn er genesen ist, wird der Kaplan uns verheiraten.«

Diese erste Anspielung Liespeths auf ihre Heiratspläne veranlaßte die Frau des Kaplans, ein lautes Geschrei auszustoßen. Doch der Verwundete, den Lispeth auf das Sofa gelegt hatte, verlangte sofortige Pflege. Er war ein junger Engländer. Sein Kopf war von einem spitzen Gegenstand bis auf den Knochen durchschnitten worden. Lispeth erklärte, den jungen Mann im Khud gefunden und von dort hergetragen zu haben. Er atmete mühsam und war bewußtlos.

Man brachte den Verwundeten zu Bett; der Kaplan, der ein bischen Medizin verstand, behandelte ihn. Lispeth wartete auf der anderen Seite der Thür, um sofort einzutreten, wenn ihre Anwesenheit von Nutzen sein konnte. Sie erklärte dem Kaplan, sie wäre entschlossen, diesen Menschen zu heiraten. Der Kaplan und seine Frau setzten ihr in strengem Tone auseinander, wie unpassend ihr Benehmen wäre. Lispeth hörte ihre Ermahnungen ruhig an und wiederholte dieselben Worte. Es bedarf einer langen, langen christlichen Erziehung, um die wilden Instinkte der Orientalen, zu denen auch die Liebe auf den ersten Blick gehört, zu verwischen. Da sie einen Mann gefunden, den sie anbetete, so begriff Lispeth nicht, warum sie ihre Wahl verschweigen sollte. Sie ließ sich weder mehr aus dem Hause, noch aus dem Zimmer fortschicken, in dem sie den verwundeten Engländer so lange zu pflegen gedachte, bis er kräftig genug war, um sie zu heiraten. Das war ihr Programm.

Nach 14 Tagen des Fiebers kam der Engländer wieder zu sich, und dankte dem Kaplan, seiner Frau und Lispeth – namentlich Lispeth – für ihre Güte. Er reise im Orient, sagte er, und war aus Dehra Dnu gekommen, um auf den Bergen in der Umgegend von Simla Pflanzen und Schmetterlinge zu suchen. Er glaubte, in eine Schlucht gestürzt zu sein, als er sich bückte, um ein Farrenkraut auszureißen, das auf dem Stumpfe eines verfaulten Baumes wuchs. Seine Kulis hatten jedenfalls sein Gepäck geraubt und sich aus dem Staube gemacht. Der junge Engländer hatte die Absicht, nach Simla zurückzukehren, sobald er sich nicht mehr so schwach fühle. Er hatte keine Lust mehr zu weiteren Ausflügen.

Der Verwundete beeilte sich keineswegs, Kortagh zu verlassen, und kam langsam wieder zu Kräften. Lispeth wollte die Ratschläge des Kaplans und seiner Frau nicht befolgen, und nun erzählte der Kaplan dem jungen Engländer, was in dem Herzen des Mädchens vorging. Dieser lachte herzlich und meinte, es wäre sehr hübsch, sehr romantisch, eine richtige Idylle vom Himalaya. Da er aber mit einem in England lebenden jungen Mädchen verlobt wäre, so hätte die Sache übrigens gar keine Bedeutung. Er würde gewiß klug verfahren. Er hielt sein Versprechen auch. Aber er fand es doch sehr angenehm, mit Lispeth zu plaudern, mit ihr spazieren zu gehen, ihr liebenswürdige Dinge zu sagen und ihr kleine vertrauliche Beinamen zu geben, während er genas und sich zur Abreise anschickte. Diese Intimität hatte für ihn nichts zu sagen; für die arme Lispeth war er alles auf der Welt. Vierzehn Tage war sie sehr glücklich, weil sie einen Mann gefunden, den sie liebte.

Da Lispeth eine Wilde war, so nahm sie sich keine Mühe, ihre Gefühle zu verbergen, und der Engländer amüsierte sich über ihre Naivität. Als er abreiste, begleitete ihn Lispeth in die Berge bis nach Narkunda; sie war sehr verwirrt und höchst unglücklich.

Die Frau des Kaplans, die vor allem den Skandal und das Aufsehen fürchtete, hatte den jungen Engländer gebeten, Lispeth zu sagen, er würde wiederkommen, und sie heiraten. – »Sie ist nur ein Kind,« sagte sie, »und wissen Sie, ich fürchte, sie ist im Grunde ihres Herzens doch nur eine Heidin.« Daher schlang der Engländer, während sie einen 12 Meilen langen Weg hinaufstiegen, seinen Arm um Lispeths Taille und versicherte sie, er würde wiederkommen und sie heiraten. Lispeth ließ ihn sein Versprechen unaufhörlich wiederholen. Sie weinte auf dem Gipfel des Narkunda-Berges, bis er im Fußpfad von Multiani ihren Blicken entschwand.

Nun trocknete Lispeth ihre Thränen, kehrte nach Kortagh zurück und sagte zu der Frau des Kaplans: »Er wird wiederkommen und mich heiraten. Jetzt ist er zu seinen Eltern gereist, um es ihnen zu sagen.« Die andere beruhigte Lispeth und wiederholte: »Ja, er wird wiederkommen.« Nach zweimonatlichem Warten fing Lispeth an, die Geduld zu verlieren. Man sagte ihr, der Engländer müsse Meere durchfahren, um nach England zu gelangen. Sie wußte, wo England lag, denn sie hatte kleine geographische Aufsätze gelesen, doch sie konnte sich natürlich nicht vorstellen, was das Meer war, da sie stets nur ihre Berge gesehen hatte. Im Hause befand sich eine alte auf Holz geklebte Weltkarte. Als sie noch Kind war, hatte sie immer mit dieser Karte gespielt.

Sie suchte sie auf, setzte die Stückchen – die Karte war nämlich zerschnitten worden – zusammen, weinte abends und versuchte sich vorzustellen, wo sich ihr Engländer wohl befinden könnte. Da sie weder von Entfernungen, noch von Dampfschiffen eine Ahnung hatte, so waren ihre Annahmen etwas irrig. Uebrigens hätte das auch keinen Unterschied gemacht, wenn sie richtig geraten hätte. Der Engländer hatte durchaus nicht die Absicht, zurückzukommen und ein Bergmädchen zu heiraten. Kurze Zeit nach seiner Abreise fing er Schmetterlinge in Assam und hatte seine Krankenpflegerin schon vollständig vergessen. In der Folge schrieb er ein Buch über den Orient. Doch Lispeths Name fand sich nicht darin vor.

Nach dreimonatlichem Warten pilgerte Lispeth tagtäglich nach Narkund und betrachtete die Landstraße, auf der der Engländer kommen mußte. Diese Märsche beruhigten sie ein wenig. Als die Frau des Kaplans sie fröhlicher sah, glaubte sie, sie vergäße diese barbarische und unpassende Thorheit. Doch bald konnten auch die Ausflüge Lispeths Ungeduld nicht mehr dämpfen; ihr Charakter wurde abscheulich. Die Frau des Kaplans hielt den Augenblick für gekommen, Lispeth die Wahrheit mitzuteilen; der Engländer hatte ihr seine Liebe versprochen, um sie zu beruhigen, doch er hätte nie ernste Absichten gehabt. Es wäre schlecht und unpassend von Lispeth, an die Ehe mit einem Engländer zu denken, der einer höheren Klasse angehörte und außerdem mit einer Engländerin verlobt war. Lispeth erwiderte, das alles wäre unmöglich; hatte er ihr nicht gesagt, daß er sie liebte, und hatte die Frau des Kaplans ihr nicht versichert, der Engländer würde wiederkommen?

»Was er gesagt hat und was Sie gesagt haben, ist also nicht wahr?« fragte Lispeth.

»Wir haben dir das nur erzählt, um dich zu beruhigen,« versetzte die Frau des Kaplans.

»Sie haben mich also belogen, Sie und er,« rief Lispeth.

Die Frau des Kaplans senkte das Haupt und schwieg. Lispeth blieb einige Augenblicke stumm; dann ging sie ins Thal hinunter und kam in ihrem furchtbar schmutzigen Bergkostüm wieder, doch ohne Ringe in der Nase und in den Ohren. Sie trug den langen Zopf ihrer geflochtenen Haare mit schwarzen Faden durchzogen, wie die Bergfrauen sie tragen, und sagte:

»Ich kehre zu meinem Volke zurück. Ihr habt Lispeth getötet. Jetzt ist nur noch die Tochter der Jadeh, die Tochter eines Pahari und die Anbeterin des Tarka Devi übrig. Ihr seid alle Lügner, ihr Engländer!«

Als die Frau des Kaplans sich von dem Schlage erholt, den ihr Lispeth dadurch versetzt, daß sie ihr mitteilte, sie werde zu ihren Göttern zurückkehren, war das junge Mädchen schon fort. Sie kam nie wieder, sondern faßte eine wilde Leidenschaft für ihr gräßliches Volk.

Einige Zeit darauf heiratete sie einen Holzhauer, der sie nach den Gewohnheiten der Paharis schlug, und ihre Schönheit welkte bald dahin.

»Es giebt kein Gesetz, das die Launen der Heiden zu erklären vermag,« sagte die Frau des Kaplans, »und ich glaube, daß Lispeth im Grunde ihres Herzens stets eine Ungläubige gewesen ist.«

Da Lispeth in den Schooß der anglikanischen Kirche in dem reifen Alter von fünf Wochen eingetreten war, so machte diese Behauptung der Frau des Kaplans gerade keine Ehre.

Lispeth starb in sehr hohem Alter. Sie sprach mit Leichtigkeit englisch, und man konnte sie manchmal dazu bringen, die Geschichte ihrer ersten Liebe zu erzählen.

Es wurde einem schwer, sich dieses schmutzige, runzliche Geschöpf als die Lispeth der Mission Kortagh vorzustellen.

 


 << zurück weiter >>