Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wenn Reggie Burke jetzt noch in Indien wäre, so würde er es übel vermerken, daß ich diese Geschichte erzähle; doch da er in Hongkong ist und sie nicht zu Gesicht bekommt, so kann ich sie ruhig berichten. Er war derjenige, der den großen Betrug bei der »Sind and Sialkote Bank« ins Werk setzte. Er war der Direktor der Filiale und ein praktischer, tüchtiger Mann, der große Erfahrung im Verkehr mit den Eingeborenen und dem Versicherungswesen besaß. Er verstand es, die Kleinlichkeiten des Alltagslebens mit seiner Arbeit zu vereinigen und doch noch Gutes zu thun. Reggie Burke ritt jedes Tier, das sich besteigen ließ, tanzte so gut, wie er ritt und war bei jedem Vergnügen in der Station gesucht.
Wie er selbst sagte, und wie viele Leute zu ihrer Ueberraschung herausfanden, gab es zwei Burkes, die beide sehr diensteifrig waren; Reggie Burke, der von 4 bis 10 zu allem bereit war, von einem Zechgelage bis zu einem Picknick zu Pferde – und von 10 bis 4 »Mister Reginald Burke«, der Direktor der »Sind and Sialkote Bank«. Man konnte nachmittags mit ihm Polo spielen und ihn seine Ansichten aussprechen hören, wenn jemand eine falsche Bewegung machte, und man konnte am nächsten Morgen bei ihm vorsprechen, um ein Darlehen von 2000 Rupien auf eine Lebensversicherungspolice von 500 Pfund – 80 Pfund als Prämie zahlbar – aufzunehmen. Er würde uns wohl wiedererkannt haben, aber wir hätten Mühe gehabt, ihn wiederzuerkennen. Die Direktoren der Bank – sie hatten ihren Hauptsitz in Calcutta, und das Wort ihres Generaldirektors hatte Gewicht bei der Regierung – verstanden es, sich ihre Leute gut auszusuchen. Sie hatten Vertrauen zu ihm, soweit Direktoren zu Filialleitern Vertrauen haben. Der Leser soll selbst sehen, ob ihr Vertrauen unberechtigt war.
Reggies Filiale lag auf einer großen Station und arbeitete mit dem gewöhnlichen Personal, einem Direktor, einem Buchhalter, die beide Engländer waren, einem Kassierer und einer Schar eingeborener Schreiber; außerdem war noch die Polizeipatrouille da, die den nächtlichen Dienst versah.
Die hauptsächlichste Arbeit – denn die Filiale lag in einem aufblühenden Distrikt – bestand darin, sich den Leuten anzupassen. Ein Narr hat keine Ahnung von solchem Geschäft, und ein gescheiter Mann, der sich nicht um seine Kunden kümmert und wenig von ihren Angelegenheiten weiß, ist noch schlimmer, wie ein Narr. Reggie sah jung aus, ging stets sauber rasiert, lächelte freundlich und hatte einen Kopf, auf dem selbst eine Gallone von Gunners Madeira keinen Eindruck machen konnte.
Eines Tages teilte er bei einem großen Diner mit, der Direktor hätte ihm von England ein naturgeschichtliches Wunder auf dem Gebiete der Buchhalterei geschickt. Er drückte sich durchaus richtig aus. Der Buchhalter, Mister Silas Riley, war in der That ein höchst merkwürdiges Tier – ein langer, tölpelhafter, eckiger »Yorkshireman«, der von jenem starken Selbstbewußtsein erfüllt war, das nur in Englands bestem Boden blüht. Arroganz wäre für das Benehmen des Mister S. Riley eine milde Bezeichnung gewesen. Er hatte sich nach 7 Jahren zu der Stellung eines Kassierers in Huddersfield emporgeschwungen, und seine ganze Erfahrung bezog sich auf die Faktoreien des Nordens. Vielleicht hätte er sich auf der »Bombay-Seite«, wo man mit einem halben Prozent Nutzen sich begnügt, und das Geld billig ist, besser geeignet. Für Vorderindien, einer Provinz mit Weizenbau, wo ein Mann schon einen tüchtigen Kopf und eine gewisse Phantasie besitzen muß, wenn er eine befriedigende Bilanz aufstellen soll, war er nicht zu gebrauchen.
In geschäftlichen Angelegenheiten war er furchtbar beschränkt, und da er eben erst in die Gegend gekommen war, so hatte er keine Ahnung davon, daß das indische Bankwesen von dem heimatlichen vollständig verschieden ist. Wie die meisten Selfmademen hatte er die größte Meinung von sich selbst und sich in der einen oder andern Weise aus den üblichen höflichen Ausdrücken seines Engagementsbriefes die Ansicht herauskonstruiert, die Direktoren hätten ihn wegen seiner besondern glänzenden Talente ausgewählt und hielten große Stücke auf ihn. Diese Ansicht wurde immer stärker und krystallisierte sich förmlich im Verein mit seinem angeborenen heimatlichen Eigendünkel. Außerdem war er schwächlich, litt an Brustbeklemmungen und war aufbrausend. Man wird zugeben, daß Reggie recht hatte, wenn er den neuen Buchhalter ein naturgeschichtliches Wunder nannte. Die beiden Männer gerieten oft in Streitigkeiten. Riley betrachtete Reggie als einen hohlen, leichtsinnigen Idioten, den der Himmel nur für das Geschwätz am Stammtisch geschaffen, und der für den feierlichen und ernsten Beruf des Bankwesens völlig ungeeignet war. Er konnte Reggies jugendliches Aussehen und sein schneidiges Aussehen nicht vertragen; auch seine Freunde gefielen ihm nicht – elegante, sorglose Männer von der Armee – die zu den großen sonntäglichen Frühstücksschmausereien in der Bank herübergeritten kamen und gepfefferte Geschichten erzählten, bis Riley aufstand und das Zimmer verließ. Riley machte Reggie stets darauf aufmerksam, wie die Geschäfte geleitet werden müßten, und Reggie mußte ihn mehr als einmal daran erinnern, daß eine beschränkte siebenjährige Erfahrung zwischen Huddersfield und Beverley einen Mann nicht berechtigte, ein großes Geschäft im oberen Lande zu leiten. Dann knurrte Riley und bezeichnet sich selbst als einen »Pfeiler« der Bank und einen »lieben Freund« der Direktoren, während Reggie sich die Haare raufte. Wenn es einem in diesem Lande an englischen Hilfskräften fehlt, so gerät er in eine schlimme Lage, denn die Hilfe der Eingeborenen hat ihre bestimmten Grenzen. Im Winter war Riley sechs Wochen hintereinander lungenleidend, und Reggie hatte die doppelte Arbeit zu leisten, doch zog er das noch den ewigen Reibereien vor, wenn Riley gesund war.
Einer der Reiseinspektoren der Bank entdeckte diese Zufälle und berichtete sie der Direktion. Nun war Riley aber der Bank von einem Parlamentsmitglied empfohlen worden, der der Unterstützung von Rileys Vater bedurfte, der wiederum bemüht war, seinen Sohn wegen des Lungenleidens in einem wärmeren Klima unterzubringen. Das Parlamentsmitglied hatte wohl Einfluß auf die Bank, aber einer der Direktoren wollte einen seiner Günstlinge hineinschieben, und als Rileys Vater gestorben war, machte er seine Kollegen darauf aufmerksam, daß ein Mann, der sechs Monate im Jahr krank war, besser thäte, seine Stelle einem Gesunden abzutreten. Hätte nun Riley die wirkliche Geschichte seiner Ernennung gewußt, so hätte er sich wohl anders benommen, doch da er nichts wußte, so wechselten seine Krankheitsanfälle mit ruhelosen, beharrlichen Behelligungen und Zänkereien ab, und er benahm sich, wie nur ein eingebildeter Subalternbeamter sich benehmen kann. Reggie schimpfte, um seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, hinter seinem Rücken tüchtig darauf los, doch nie sagte er ihm etwas ins Gesicht, denn er meinte: »Riley ist solch schwächlicher Kerl, daß die Hälfte seines ekelhaften Hochmutes sicherlich von seiner Lungenkrankheit stammt.«
Im April vorigen Jahres wurde Riley wirklich sehr krank. Der Doktor behorchte und beklopfte ihn und sagte ihm dann, er würde in kurzer Zeit besser werden. Dann ging der Doktor zu Reggie und sagte:
»Wissen Sie, wie krank Ihr Buchhalter ist?«
»Nein,« versetzte dieser. »Aber je schlimmer, desto besser; hole ihn der Teufel! wenn er gesund ist, so ist er überhaupt nicht zu ertragen. Ich gestatte Ihnen, die Bankkasse auszurauben, wenn Sie ihn während der heißen Jahreszeit zum Schweigen bringen können.«
Aber der Doktor lachte nicht, sondern sagte:
»Lieber Freund, ich scherze nicht; ich gebe ihm noch drei Monate in seinem Bett und eine Woche zum Sterben. Auf Ehre und Gewissen, das ist alles, was er in der Welt zu erwarten hat. Die Schwindsucht hat ihn bis aufs Mark ausgezehrt.«
Reggies Gesicht verwandelte sich sofort in das Gesicht des Mister Reginald Burke, und er erwiderte:
»Was kann ich thun?«
»Nichts,« entgegnete der Doktor, »für alle praktischen Arbeiten ist der Mann jetzt schon tot. Halten Sie ihn ruhig und vergnügt, und sagen Sie ihm, er würde bald wieder gesund werden. Das ist alles; ich werde natürlich bis zum Schluß nach ihm sehen.«
Der Doktor ging fort, und Reggie setzte sich nieder, um die Abendpost zu öffnen. Der erste Brief, der ihm in die Hände fiel, war von der Direktion; man teilte ihm mit, Mister Riley hätte laut den Bedingungen des Vertrages mit einmonatlicher Kündigung seine Stellung niederzulegen; außerdem erhielt Reggie die Nachricht, ein Brief an Riley würde folgen; und ferner wurde er von dem Eintreffen eines neuen Buchhalters unterrichtet, eines Mannes, den er kannte und schätzte.
Reggie steckte sich eine Cigarre an, und bevor er sie noch ausgeraucht, hatte er bereits den Plan zu einem Betruge entworfen. Er beseitigte den Brief der Direktion und ging zu Riley, der so ungenießbar wie gewöhnlich war und sich den Kopf zerbrach, wie die Bank während seiner Krankheit bestehen konnte. An die Extraarbeit, die auf Reggies Schultern lastete, dachte er nicht, sondern nur an den Schaden, der seinem eigenen Fortkommen erwachsen könnte. Reggie versicherte ihm, alles ginge gut, und er würde täglich mit Riley die Geschäfte der Bank besprechen. Riley war ein bischen besänftigt, gab aber in vielen Worten zu verstehen, er halte nicht viel von Reggies Geschäftstüchtigkeit. Reggie schwieg bescheiden, und doch hatte er Briefe von der Direktion im Pult, auf die ein jeder stolz sein konnte.
Die Tage vergingen in dem großen, dunklen Hause, Rileys Entlassungsbrief traf ein und wurde von Reggie beiseite geschafft, der jeden Abend die Bücher in Rileys Zimmer brachte und ihm zeigte, was sich ereignet hatte, während Riley knurrte. Reggie that sein möglichstes, um Riley zufrieden zu stellen; doch der Buchhalter war überzeugt, die Bank würde ohne ihn rettungslos zu Grunde gehen. Im Juni, als der Aufenthalt im Bett ihn bereits beunruhigte, fragte er, ob die Direktion von seiner Krankheit verständigt sei, und Reggie erklärte, sie hätten äußerst sympathische Briefe geschrieben und die Hoffnung ausgesprochen, er würde in kurzem seine schätzenswerten Dienste wieder aufnehmen können. Er zeigte Riley die Briefe, und dieser meinte, die Direktion hätte an ihn selbst schreiben können. Einige Tage später öffnete Reggie Rileys Post in dem Halbdunkel des Zimmers und gab ihm den Brief – nicht das Couvert – ein Schreiben der Direktion an Riley. Riley sagte, er würde Reggie dankbar sein, wenn er sich nicht um seine Privatkorrespondenz kümmern würde, und dieser entschuldigte sich.
Dann änderte Riley sein Benehmen wieder und schalt Reggie wegen seiner Lebensweise, seiner Pferde und seiner schlechten Freunde. »Natürlich, wenn ich hier auf dem Rücken liege, Mister Burke,« meinte er, »so kann ich Sie nicht im Zuge halten; doch wenn ich wieder gesund bin, hoffe ich, werden Sie meinen Worten Gehör schenken.«
Reggie, der das Polospiel, das Tennis und die Diners aufgegeben hatte, um Riley zu pflegen, sagte, er würde sich bessern; dann legte er Rileys Kopf auf die Kissen und hörte, ohne ein Zeichen von Ungeduld, seinem Schimpfen und Schelten zu.
Als der neue Buchhalter kam, teilte er ihm die Thatsachen mit, während er Riley davon unterrichtete, er hätte einen Gast, der bei ihm wohnte. Riley meinte, er hätte auch mehr Rücksicht üben können, als seine zweifelhaften Freunde zu solcher Zeit in sein Haus zu bringen. Infolge dessen ließ Reggie Carron, den neuen Buchhalter, im Klubhaus schlafen. Carrons Ankunft nahm die schwerste Arbeit von seinen Schultern, und er hatte Zeit, Rileys Launen zu ertragen, zu erklären, zu beruhigen, zu erfinden, den armen Kerl in seinem Bett zurechtzulegen, und schmeichelhafte Briefe aus Calcutta fertig zu stellen. Am Schlusse des ersten Monats wünschte Riley seiner Mutter etwas Geld nach Hause zu senden. Reggie schickte eine Tratte ab. Am Ende des zweiten Monats erhielt Riley pünktlich sein Salair. Reggie bezahlte es aus seiner eigenen Tasche, und außerdem schrieb er Riley einen schönen Brief von der Direktion.
Riley war in der That sehr krank, und die Flamme seines Lebens flackerte unruhig. Dann und wann zeigte er sich sehr fröhlich und blickte vertrauensvoll in die Zukunft, wobei er Pläne entwarf, nach Hause zu fahren und seine Mutter zu besuchen. Reggie hörte geduldig zu, wenn die Tagesarbeit vorüber war, und sprach ihm Mut ein. Zu andern Malen bestand Riley darauf, Reggie solle ihm die Bibel und methodistische Traktätchen vorlesen. Aus diesen Traktätchen hielt er dem Direktor Vorträge über seine Moral. Dabei fand er aber immer noch Zeit, Reggie über die Angelegenheiten der Bank zu ärgern und ihm zu zeigen, wo eigentlich der »schwache Punkt« lag.
Dieses stubenhockerige Leben im Krankenzimmer, diese beständige Aufregung brachten Reggie ziemlich herunter, erschütterte seine Nerven und reduzierte seine Billardpartie um 50 Points. Doch die Geschäfte der Bank und die Angelegenheiten im Krankenzimmer wurden weiter erledigt, obgleich das Thermometer 116 Grad im Schatten zeigte.
Gegen Ende des dritten Monats war Riley sehr heruntergekommen und fing an, zu erkennen, daß er sehr krank wäre. Dennoch hielt ihn der Dünkel, der ihn veranlaßte, Reggie zu quälen, davon ab, das Schlimmste zu glauben.
»Er braucht etwas geistige Anregung, wenn er so herunter ist,« sagte der Doktor; »halten Sie das Interesse am Leben in ihm aufrecht, wenn Ihnen an seinem Leben überhaupt gelegen ist.«
So erhielt Riley allen geschäftlichen und finanziellen Gebräuchen entgegen von der Direktion eine Gehaltszulage von 25 Prozent. Die geistige Anregung hatte einen schönen Erfolg. Riley war glücklich und fröhlich, und wie das bei der Schwindsucht oft der Fall ist, geistig am gesündesten, wenn der Körper am schwächsten ist. Er schleppte sich noch einen Monat hin, brummte und quälte sich wegen der Bank, sprach von der Zukunft, ließ sich die Bibel vorlesen, schalt Reggie wegen seiner Sünden und fragte sich, wann er im stande wäre, ins Ausland zu reisen.
Gegen Ende des September, an einem furchtbar heißen Tage, erhob er sich plötzlich in seinem Bett mit leichtem Seufzer und sagte ruhig zu Reggie:
»Mister Burke, ich werde sterben; ich weiß es jetzt selbst. Meine Lunge ist vollständig hohl und ich habe nichts mehr zum Atmen. Soviel ich weiß, habe ich stets alles vermieden, um schwere Sünden auf mein Gewissen zu laden, und ich rate Ihnen, Mister Burke . . .«
Bei diesen Worten erstarb seine Stimme, und Reggie neigte sich über ihn.
»Senden Sie mein Gehalt für den September an meine Mutter . . . hätte noch große Dinge an der Bank verrichtet, wenn ich verschont geblieben wäre . . . heillose Wirtschaft . . . meine Schuld ist es nicht.«
Dann wandte er sein Gesicht nach der Wand um und starb. Reggie zog das Laken über sein Gesicht und ging hinaus auf die Veranda mit seiner letzten »geistigen Anregung« – einem liebenswürdigen Trostbrief von der Direktion – in der Tasche.
»Wenn ich nur zehn Minuten früher gekommen wäre,« sagte er sich, »so hätte ich ihn vielleicht so weit aufgefrischt, daß er sich noch einen Tag gehalten hätte.«