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Bis zum Ende seiner Tage wird Harvey den Anblick nie vergessen. Die Sonne stand klar am Horizont, die Sonne, die sie fast acht Tage nicht gesehen hatten, und das rote Licht des Morgens fiel in die Toppsegel von drei Fischerflotten, die da vor Anker lagen, eine im Norden, eine im Westen, eine im Süden. Es mochten an die hundert Schoner sein von jeder möglichen Bauart und Form, weit weg ein quergetakelter Franzose, alle sich verneigend und einander begrüßend. Aus jedem Boot schwärmten Jollen aus, wie Bienen aus einem überfüllten Stock, und das Stimmengewirr, das Knarren der Taljen und Blöcke und das Aufklatschen der Ruder scholl meilenweit über das wogende Wasser. Die Segel zeigten alle Farben von Schwarz, Perlgrau und Weiß in der aufsteigenden Sonne, und immer mehr Boote tauchten südlich aus dem Nebel auf.
Die Jollen sammelten sich zu Hauf, trennten sich, schlossen sich wieder zusammen, trieben wieder auseinander, dabei immer die gleiche Richtung einhaltend, während die Mannschaft rief und pfiff und spottete und sang, und das Wasser mit Abfall gesprenkelt war.
»Das ist wirklich wie eine Stadt«, sagte Harvey. »Disko hat ganz recht. Es ist wirklich eine Stadt!«
»Ich hab' schon kleinere gesehn«, sagte Disko. »Es sind an tausend Mann hier herum. Und da drüben ist die ›Virgin‹. Er zeigte auf einen freien Platz, wo das Wasser grünlich schimmerte und keine Jollen zu sehen waren.
Diskos Schoner umsegelte das nördliche Geschwader; er winkte einem Freund nach dem andern zu und ging so glatt vor Anker wie eine Sportsjacht bei Saisonschluß. Gute Seemannschaft wird in den Bänken schweigend vorüber gelassen, aber die Stümper werden der Reihe nach mit Spott überhäuft.
»Gerade recht für den Käppling!« rief die »Mary Chilton«.
»Viel Salz naß?« erkundigte sich der »König Philipp«.
»He, Tom Platt, kannst du nich 'rüber zum Abendbrot kommen?« fragte die »Henry Clay«. Und so flogen Fragen und Antworten hin und her. Manche hatten sich schon früher getroffen, beim Jollenfischen im Nebel, und nirgends schreitet Fama schneller als in den Bänken. Sie alle schienen schon von Harveys Rettung erfahren zu haben und fragten, ob er schon sein Salz wert sei. Das junge Volk neckte sich mit Dan herum, der selbst eine lose Zunge hatte, und man spickte sich gegenseitig mit den Spitznamen, von denen man wußte, daß sie am empfindlichsten trafen.
Manuels Landsleute schnatterten in seiner Muttersprache herüber, und selbst den schweigsamen Koch konnte man rittlings auf dem Klüverbaum sitzen sehn und auf Gälisch einem Freund etwas zurufen hören, der so schwarz war, wie er selbst.
Nachdem sie sich verankert hatten – denn der Grund um die »Virgin« herum ist felsig, und Nachlässigkeit hat Ankerbruch und Treibgefahr zur Folge –, nachdem sie sich also verankert hatten, schickten sie ihre Jollen aus, um sich der Schar der anderen Boote anzuschließen, die eine Meile voraus verankert lagen. Die Schoner schaukelten und wiegten sich in gesicherter Entfernung wie Entenmütter, die ihre Brut sorgend beobachten, während die Jollen sich benahmen wie ungezogene junge Entlein.
Als sie in diesen Wirrwarr hineinfuhren, Boot dicht an Boot, klangen Harvey die Ohren von tausend kritischen Bemerkungen ringsumher, die seiner neugebackenen Ruderkunst galten. Jeglicher Dialekt von Labrador bis Long Island, vermischt mit Portugiesisch, Neapolitanisch, Lingua Franca, Französisch, Gälisch, mit Gesängen, Rufen, Flüchen schlugen an sein Ohr, und es war ihm zumute, als sei er die Zielscheibe von dem allen. Zum erstenmal in seinem Leben fühlte er sich verlegen – vielleicht weil er so lange nur mit den Leuten von der »Da sind wir« gelebt hatte – zwischen all diesen wilden Gesichtern, die in ihren tanzenden Jollen auftauchten und wieder verschwanden: bald hob eine leichte, schwellende Dünung, drei Achtelmeilen lang von Tal bis Kamm, eine Reihe buntbemalter Jollen sanft auf ihre Schulter – da schwebten sie einen Augenblick lang wie ein wundervoller Fries gegen den Horizont, indes ihre Insassen gestikulierten und grüßten – bald waren die offenen Münder, die winkenden Arme, die nackten Brüste im nächsten Augenblick wieder verschwunden und eine andre Dünung brachte ein völlig neues Bild herauf, wie Figuren in einem Puppentheater. Harvey starrte und staunte. »Paß auf!« rief Dan, ein Streichnetz schwingend, »wenn ich kommandiere: eintauchen, tauchst du ein. Der Käppling kann jeden Augenblick schwärmen. Wo wollen wir halten, Tom Platt?«
Stoßend, schiebend, ziehend, hier alte Freunde grüßend, dort alte Feinde warnend, führte Kommodore Tom Platt seine kleine Flotte sicher in Lee von dem allgemeinen Gewühl, und sogleich begannen drei oder vier ihre Anker aufzuholen, in der Absicht, in den Windschutz der »Da sind wir« zu gelangen. Aber eine Lachsalve erhob sich, als eine Jolle wie ein Pfeil von ihrem Halteplatz herübergeschossen kam, indes die Insassen wie närrisch an der Leine zerrten.
»Laßt aus!« brüllten zwanzig Stimmen, »daß er freikommen kann!«
»Was ist denn los?« fragte Harvey, während die Jolle nach Süden weiterschoß. »Ist er nicht verankert?«
»Verankert schon. Aber seine Grundleine ist ihm wacklig geworden. 'n Walfisch hat sie ihm unklar gemacht … Tauch ein, Harvey. Da kommen sie schon.«
Das Wasser rund um sie wurde wolkig und verdunkelte sich. Und dann wellte es auf von Schauern winziger Silberfische, und über eine Fläche von fünf bis sechs Morgen hin begannen die Stockfische zu springen, wie die Forellen im Mai; und hinter den Stockfischen wieder kamen drei oder vier breite schwarzgraue Rücken schäumend dahergerauscht.
Jetzt schrie alles durcheinander, jeder versuchte seinen Anker zu lichten und in den Fischzug zu kommen, und dabei geriet man dem Nachbar ins Tau und schrie einander zu, was man auf dem Herzen hatte, und warf wie besessen Streichnetze aus unter Rat und Warnung, während das Wasser zischte wie frisch geöffnetes Sodawasser und Stockfische, Menschen und Wale sich gemeinsam auf die unglücklichen Köderfische stürzten.
Harvey wurde fast über Bord gestoßen durch die Stangen von Dans Streichnetz. Aber in all dem wilden Tumult sah er – und vergaß es nie – ein durchdringendes böses kleines Walfischauge auf sich gerichtet – ähnlich dem Auge eines Zirkuselefanten –, das fast in gleicher Höhe mit dem Wasser neben der Jolle einherglitt und ihm, wie ihm dünkte, zuzwinkerte. Drei Booten machten diese rücksichtslosen Ozeanjäger die Taue unklar, und sie wurden eine halbe Meile weit geschleift, ehe der Vorspann das Geschirr abschüttelte.
Dann war der Käpplingsschwarm vorbei, und fünf Minuten später war nichts mehr zu hören, als das Anschlagen der Senkgewichte, das Aufklatschen der Kabeljaue und das dumpfe Klopfen der Schlegel, womit die Fischer sie betäubten. Das war ein herrliches Fischen! Harvey konnte die schimmernden Stockfische unter Wasser sehn, langsam in Gruppen heranschwimmend und ebenso sicher anbeißend, wie sie schwammen. Das Gesetz der Bänke verbietet aufs strengste mehr als einen Haken an einer Leine, solange die Jollen in der »Virgin« und in den östlichen Untiefen sind. Aber so nahe lagen die Boote beieinander, daß selbst die einzelnen Haken sich verfangen konnten, und Harvey geriet darüber in heftigen Wortwechsel mit einem haarigen, freundlichen Neufundländer auf der einen und einem zeternden Portugiesen auf der andern Seite.
Noch schlimmer als die Verwirrung der Angelleinen war das Durcheinander der Ankertaue unter Wasser. Jeder hatte dort geankert, wo es ihm gut schien und trieb und ruderte um seinen Haltepunkt herum. Als die Fische dann nicht mehr so rasch anbissen, wollte jeder Anker aufziehn, um den Fischplatz zu wechseln; aber jeder dritte fand sich innig mit vier oder fünf Nachbarn verbunden. Einem andern das Tau zu kappen, gilt als unerhörte Gemeinheit auf den Bänken; dennoch geschah es, geschah unbemerkt drei- oder viermal an diesem Tage. Tom Platt erwischte einen aus Maine noch rechtzeitig bei dieser schwarzen Tat und schlug ihn über Dahlbord; und Manuel bediente einen Landsmann auf die gleiche Manier. Aber Harveys Ankertau wurde durchgeschnitten, und auch Penn geschah das gleiche, und ihre Jollen wurden nun dazu benutzt, um Fische nach der »Da sind wir« hinüberzuschaffen und so die überfüllten Boote zu entlasten.
Der Käppling schwärmte noch einmal im Zwielicht, und das wilde Getümmel begann von neuem. Bei Dämmerung ruderten sie heim, um die Fische bei Lampenlicht auszunehmen.
Es war ein riesiger Haufen, und fast schliefen sie unter der Arbeit ein. Am nächsten Tag fischten einige Boote gerade über dem Gipfel der »Virgin«; Harvey, der mit ihnen war, konnte durch das Wasser hindurch ganz klar die Gewächse auf diesem einsamen Felsen erkennen, der bis auf zwanzig Fuß an die Oberfläche emporragt. Legionen von Kabeljauen strichen da unten feierlich über die lederartigen Tangbüschel dahin. Wenn sie anbissen, dann bissen sie alle zugleich, und wenn sie nicht anbissen, dann tat es keiner. Zu Mittag war flaue Zeit, und die Jollen begannen sich nach Zeitvertreib umzusehn. Es war Dan, der die »Hoffnung von Prag« sichtete, die gerade herankam, und als ihre Boote heranruderten, wurden sie mit der Frage begrüßt: »Wer ist der gemeinste Kerl in der ganzen Flotte?«
Dreihundert Stimmen antworteten fröhlich: »Nick Bra-ady!« Es klang wie ein Orgelchor.
»Wer hat den Lampendocht gestohlen?« Das war Dans Beitrag.
»Nick Bra-ady«, sangen die Boote.
»Wer hat gesalzenen Köder in die Suppe getan?« Dies kam von einem unbekannten Verleumder irgendwo aus dem Hintergrund.
Wieder der fröhliche Chor. Nun war Brady eigentlich gar nicht so besonders gemein, aber er hatte nun mal den Ruf, und die Flotte gab das ihre dazu. Dann entdeckte man einen Truro-Fischer, der vor sechs Jahren überführt worden war, eine Angel mit fünf oder sechs Haken – eine »Harke« nennt man das in den Bänken – benutzt zu haben. Natürlicherweise hatte man ihn den »Harken-Jim« getauft, und obwohl er sich seither stets im Hintergrunde gehalten hatte, sah er sich doch sofort von allen Seiten mit seinem Ehrentitel begrüßt. Von ringsumher prasselte es wie Knallerbsen: »Jim! O Jim, Jim! Oh, Harken-Jim!« Es war eine rechte Lust! Und als ein poetisch veranlagter Mann aus Beverly – er hatte den ganzen Tag über diesem Opus geschwitzt und redete nachher noch wochenlang davon – den Sang anstimmte: »Der ›Carrie Pittman‹ hält der Anker nicht für einen Cent …«, war man rings in den Jollen restlos glücklich. Aber dann konnte man sich nicht enthalten, wiederum den Beverly-Mann zu fragen, wie es denn mit seinen Moneten stünde, denn selbst Poeten kann man nicht ganz ungeschoren lassen. Jeder Schoner, ja, fast jeder einzelne Mann bekam sein Teil ab. Gab es wo einen nachlässigen oder schmutzigen Koch? Die Jollen besangen ihn und seinen Fraß. War wo ein Schoner schlecht instand? Die Flotte erfuhr es ausführlich. Hatte einer einem Backskameraden Tabak geklaut? Hier in trautem Kreise kam es ans Licht; sein Name hüpfte von Welle zu Welle. Diskos unfehlbares Urteil; das Marktboot, das der lange Jack vor Jahren verkauft hatte; Dans Schatz (oh, wie verdüsterte sich Dans Antlitz!); Penns Mißgeschick mit seinen Bootsankern; Salters' Ansichten über Düngemittel; Manuels kleine Seitensprünge vom Tugendpfade an Land; Harveys damenhafte Art zu rudern – alles wurde der Öffentlichkeit preisgegeben. Und als der Nebel sich wie Silberlinnen über die Sonne zog und sich über sie alle schloß, klang es durch das Grau immer noch wie Stimmen unsichtbarer Richter, die ihre Urteilssprüche verkündeten.
Die Jollen schwärmten umher und fischten und zankten sich, bis die Dünung zunahm. Dann wichen sie, um nicht zusammenzustoßen, mehr auseinander, und einer rief, wenn es so anhalte, würde die »Virgin« bald loslegen. Ein vorwitziger Gallway-Mann und sein Neffe stritten das ab, holten den Anker ein und ruderten ganz nah an den Fels heran. Viele Stimmen riefen ihnen zu, davon abzulassen, während andre sie anfeuerten. Die scheinbar noch ruhigen Wellenberge von Süden her hoben die Jolle hoch und höher in den Nebel und warfen sie in ein häßlich gurgelndes, saugendes Wasserloch, wo sie sich keine zwei Fuß vom verborgenen Felsen weg um ihren Anker zu drehen begann. Das hieß mit dem Tod spielen aus schierer Prahlerei; – und die Boote sahen in beklommenem Schweigen dem Schauspiel zu, bis schließlich der lange Jack hinter seinem Landsmann herruderte und ihm in aller Ruhe das Tau durchschnitt.
»Hört ihr nicht, wie sie schon brummt?« schrie er. »Rudert los, wenn euch euer bißchen Leben lieb ist! Los!«
Die Männer fluchten und versuchten zu widersprechen, indes das Boot abtrieb; die nächste Woge verlangsamte sich einen Augenblick, wie einer, der über einen Teppich schreitet. Dann kam ein tiefer Seufzer, ein anwachsendes Brüllen, und die »Virgin« schleuderte einen Riesenfladen schäumenden Wassers, wild, weiß, gespensterhaft, über die Untiefen empor. Alle Boote schrien dem langen Jack Beifall zu, und die Gallway-Leute hielten wohlweislich ihren Mund.
»Ist das nicht fein?« kreischte Dan und sprang herum wie ein junger Seehund in seinem Element. »So macht sie's alle halben Stunden, wenn die Dünung nicht stark zunimmt. Wie oft kommt sie, wenn sie richtig in Schwung ist, Tom Platt?«
»Alle fünfzehn Minuten, auf den Glockenschlag. Harve, jetzt hast du das Großartigste erlebt, was es gibt in den Bänken, und wenn der lange Jack nicht gewesen wär', hätt'st du noch ein paar Tote dazu gesehn.«
Lustige Stimmen kamen aus der Gegend, wo der Nebel dichter lag, und die Schoner läuteten ihre Glocken. Vorsichtig steckte eine große Bark ihre Nase aus dem Nebel und wurde mit Geschrei und Zurufen, wie: »Immer 'ran, Schatz!« von den Irischen empfangen.
»Wieder ein Franzmann?« fragte Harvey.
»Hast du keine Augen? Die is aus Baltimore. Schau, wie sie zimperlich anrückt. Der werden wir zusetzen, daß kein heiler Fetzen an ihr bleibt. Taxiere, das ist das erstemal, daß ihr Käpt'n hier mit der Flotte zusammentrifft.«
Es war ein schwarzes, wohlbeleibtes Achthundert-Tonnen-Fahrzeug. Seine Großsegel waren gerefft, und das Marssegel flatterte unentschieden in dem bißchen Wind, der wehte. Nun ist eine Bark ohnehin die weiblichste aller Töchter der See. Und dieses große, zaudernde Geschöpf mit der weißen, vergoldeten Gallionsfigur nahm sich genau so aus wie ein verlegenes Frauenzimmer, das zierlich seine Röcke hebt, um unter dem Gespött böser kleiner Buben eine schmutzige Straße zu überqueren. Die Situation war in der Tat ganz ähnlich. Sie wußte, daß sie sich nicht weit von der »Virgin« befand, hatte das Getöse vernommen und wollte deshalb vorsichtshalber nach dem Weg fragen. Was folgt, ist nur ein kleiner Teil von dem, was sie von den sie umtänzelnden Jollen zu hören bekam:
»Die ›Virgin‹? Was schwatzt ihr? Das ist doch hier Le Have und heut ist Sonntag! Geht heim und schlaft euch nüchtern!«
»Macht, daß ihr nach Hause kommt, ihr Sumpfschildkröten! Nach Hause mit euch, und sagt, daß wir bald nachkommen!«
Als ihr Stern mit Rollen und Gurgeln in ein Wellental sank, kam es aus einem Dutzend Kehlen in melodischem Chor: »Siehst – de – woll!«
»'rauf! 'rauf! wenn euch euer Leben lieb ist! Ihr seid grade über ihr!«
»'runter! Immer 'runter! Laßt aus!«
»Alle Mann an die Pumpen!«
»Nieder mit dem Klüver! Bootsstangen 'raus!«
Jetzt riß dem Schiffer die Geduld, und er begann zu schimpfen. Sofort hörte man mit Fischen auf, um ihm besser antworten zu können, und er erfuhr die sonderbarsten Tatsachen über sein Schiff und den nächsten Hafen. Sie fragten ihn, ob er versichert sei und wo er seinen Anker gestohlen hätte, denn der gehöre, spotteten sie, der »Carrie Pittman«; sie schimpften sein Boot eine Müllfuhre, und er sei überhaupt bloß hier, um ihnen die Fische zu verjagen mit seinem Abfall, den er über Bord schmisse. Sie schlugen ihm vor, ihn ins Schlepptau zu nehmen auf Rechnung seiner Ollschen. Und ein besonders kecker Bursch schlüpfte bis fast unter die Gillung, schlug mit der flachen Hand dagegen und schrie: »Hopp! Hoch! Alter Bock!«
Der Koch schüttete ihm dafür einen Eimer Asche auf den Schädel, und der Junge erwiderte mit Fischköpfen. Dann feuerte die Besatzung der Bark mit Stückkohlen aus der Kombüse herüber, und die Jollen drohten ihrerseits, an Bord zu kommen und sie zu »rasieren«.
Wäre die Bark wirklich in Gefahr gewesen, so hätte man sie sofort gewarnt. Aber da man sie in sicherer Entfernung von der »Virgin« wußte, kostete man die Gelegenheit nach Kräften aus. Der Spaß wurde dadurch verdorben, daß der Felsen wieder zu spucken begann, eine halbe Meile luvwärts, und die gequälte Bark alles hißte, was zu hissen war, und ihrer Wege zog. Aber die Jollen behielten das Bewußtsein zurück, die Sieger geblieben zu sein.
Die ganze Nacht hindurch brüllte die »Virgin« dumpf; und am nächsten Morgen sah Harvey die Flotte mit flackernden Segeln auf bösen, schaumgekräuselten Wellen liegen und auf einen Leithammel warten. Nicht eine einzige Jolle wurde vor zehn Uhr heruntergelassen. Bis endlich die Jeraulds von der »Sonnenblume«, eine vermeintliche Windstille ausnutzend, den Anfang machten. Einen Augenblick später war die Hälfte aller Jollen draußen und hüpfte im unruhigen Wasser; aber Troop ließ seine Leute, die beim Ausnehmen waren, ruhig bei ihrer Arbeit. Er sah in unnützem Wagnis keinen Sinn, und als der Sturm am Abend zunahm, hatten sie das Vergnügen, so manchen durchnäßten Gast aufzunehmen, der nur zu froh war, bei dem bösen Wetter eine Zuflucht zu finden. Die Jungen standen mit Laternen an den Jollentaljen, die Männer bereit zum Aufhissen, ein Auge immer auf die heranstürzenden Wellen gerichtet, um im Notfall sofort alles fallen zu lassen und sich auf Leben und Tod festzuklammern, falls eine davon über Bord schlagen sollte. Und immer wieder kam aus dem Dunkel der Schrei: »Jolle! Jolle!« Dann wurden rasch Tauenden ausgeworfen, und ein völlig durchnäßter Mann mit einer Jolle, die schon am Sinken war, wurde heraufgehault, bis ihr Deck wie besät war mit Jollen aller Art und alle Kojen überfüllt.
Fünfmal während ihrer Wache mußten Harvey und Dan in die Wanten springen und sich mit Armen, Beinen und Zähnen an Tauen, Sparren und durchweichten Segeln festhalten, indes eine Riesenwelle das Deck überschwemmte. Eine Jolle wurde völlig zertrümmert, und die See warf den Mann kopfüber an Deck, daß er sich den Schädel aufschlug; und gegen Morgengrauen, als die rasende See weithin aufzuglimmen begann mit kalt-weißen Kämmen, kam ein anderer Mann, blau und gespenstig, mit gebrochener Hand an Deck gekrochen und wollte etwas von seinem Bruder erfahren. Sieben Extramäuler setzten sich zum Frühstück, ein Schwede, ein Schiffer aus Chatham, ein Junge aus Hancock im Staate Maine, einer aus Duxbury und drei aus Provinzstädten.
Am nächsten Morgen erfolgte ein Generalaustausch. Und obgleich keiner etwas sagte, aßen alle mit besserm Appetit, sobald es von Boot zu Boot hieß: »Alle Mann an Bord!« Nur zwei Portugiesen und ein alter Mann aus Gloucester waren ertrunken; aber viele waren schwer oder leichter verletzt. Zwei Booten waren die Ankertaue gerissen, und sie waren drei Tagereisen weit nach Süden abgetrieben worden. Auf einer Franzosenbark starb ein Mann – es war dieselbe Bark, mit der die »Da sind wir« Tabak getauscht hatte. An einem feuchten, bleichen Morgen machte sie sich still davon, zu einer Stelle, wo tieferer Grund war, alle Segel schlaff herumhängend, und Harvey sah das Seemannsbegräbnis durch Diskos Fernglas. Es war nur ein längliches Bündel, das über Bord glitt. Es schien keinerlei Andacht damit verbunden, aber in der Nacht hörte Harvey über das schwarze, mit Sternenpünktchen besäte Wasser einen Gesang, der wie ein Choral klang, ganz langsam und feierlich:
»
La brigantine
Qui va tourner
Roule et s'incline
Pour m'entrainer,
Oh, Vierge Marie,
Pour moi priez Dien,
Adieu, patrie;
Quebec, adieu!«
Tom Platt besuchte die Bark, weil er sagte, der Tote sei als Freimaurer sein Bruder gewesen. Man erfuhr, daß eine Welle den armen Kerl über das Hiel des Bugspriets geschleudert und ihm das Rückgrat gebrochen hatte. Die Neuigkeit verbreitete sich blitzartig, denn gegen allen sonstigen Brauch veranstalteten die Franzosen eine Versteigerung seines Nachlasses – er hatte weder Verwandte in St. Malo noch in Miquelon. Alles war auf dem Dach des Deckhauses ausgelegt, von seiner gestrickten roten Mütze an bis zum Ledergürtel und dem Messer in der Scheide. Dan und Harvey waren gerade mit der »Hattie S.« draußen und ruderten natürlich auch hinüber, um mit dabei zu sein. Es war ein hübsches Stück Weg bis hin, und sie blieben nur eine kleine Weile. Dan erstand das Messer, das einen sonderbaren Metallgriff hatte. Als sie wieder in ihrer Jolle saßen und in Staubregen und Kappwellen hineinruderten, fiel es ihnen plötzlich schwer aufs Herz, daß sie ihre Angeln im Stich gelassen hatten.
»Taxiere, es wird uns nichts schaden, wenn wir uns 'n bißchen anwärmen«, sagte Dan, den es unter seinem Ölzeug schauerte. Und sie ruderten mitten in einen weißen Nebel hinein, der wie gewöhnlich ohne Warnung sie überfallen hatte.
»Zu viel vertrackte Strömung, als daß man sich auf seinen Instinkt verlassen könnte«, sagte er. »Wirf den Anker aus, Harve. Wir fischen, bis das Zeug sich gelichtet hat. Bind das schwerste Blei an. Drei Pfund sind nicht zuviel in dem Gewässer. Schau, wie sie schon straff liegt am Tau.«
Um den Bug gurgelte es ganz gehörig, da irgendeine unerwartete Strömung die Jolle straff am Tau hielt; sie konnten keine Bootslänge weit nach irgendeiner Richtung sehn. Harvey schlug seinen Kragen hoch und beugte sich über die Angelleine mit der sorgenvollen Miene des erfahrenen Seemanns. Nebel hatten keine Schrecken mehr für ihn. Sie fischten eine Weile schweigend und waren mit dem Anbiß zufrieden. Dan zog sein Messer aus der Scheide und versuchte die Schärfe am Dahlbord.
»Das ist ein Prachtstück«, bewunderte es Harvey. »Wieso hast du's so billig gekriegt?«
»Das kommt von dem verdammten Aberglauben bei den Katholischen«, antwortete Dan, mit der blanken Klinge spielend. »Sie wollen nichts Metallenes von einem Toten, verstehst du? Hast du die Franzmänner zurückweichen sehn, wie ich drauf geboten hab'?«
»Aber eine Auktion ist doch was andres, als einem Toten was wegnehmen. Das ist doch einfach 'ne Geschäftssache.« »Das sagen wir. Aber gegen Aberglauben is nix zu machen. Das is eben der Vorteil, wenn man in einem fortschrittlichen Lande lebt.« Und Dan begann fortschrittlich zu pfeifen.
»Aber warum hat denn der aus Eastport nicht mitgeboten? Er hat seine Schuhe gekauft. Sind sie denn in Maine nicht fortschrittlich?«
»Maine? Pah! Die haben nich mal Geld genug, um ihre Häuser anzustreichen, und ungebildet sind sie auch. Ich war dort. Der Eastporter hat mir gesagt, daß das Messer schon mal … gebraucht worden ist – das hat ihm der Käpt'n von den Franzosen gesagt –, voriges Jahr, an der französischen Küste irgendwo.«
»Einen gestochen? – Wirf mir den Schlegel her!« Harvey holte seinen Fisch ein, steckte neu auf und warf wieder ein.
»Totgestochen! Wie ich das gehört hab', wollt' ich es natürlich erst recht haben.«
»Heilige Weihnacht! Das hab' ich nicht gewußt«, sagte Harvey, sich umwendend. »Ich geb' dir einen Dollar dafür – wenn ich meine Heuer krieg'. Zwei Dollar!«
»Wirklich? Gefällt's dir so gut?« fragte Dan errötend. »Um die Wahrheit zu sagen, ich wollt's dir eigentlich schenken. Aber ich wollt' nicht davon anfangen, eh' ich nicht sicher war, wie du's aufnimmst. Dir gehört's, und ich geb' dir's gern, denn wir sind Jollenbrüder und so weiter und so fort. Da, nimm's, Harve!«
Er hielt es ihm hin, samt Gürtel.
»Aber Dan, schau her, wie kommst du dazu …«
»Nimm's nur, ich brauch's zu nichts. Ich will, daß du's nimmst.«
Die Versuchung war unwiderstehlich. »Dan, du bist ein feiner Kerl! Ich werd's in Ehren halten, solang' ich lebe.«
»Das läßt sich hören!« rief Dan mit vergnügtem Lachen; und dann, um rasch das Thema zu wechseln: »Mir scheint, du hast wieder einen Anbiß!«
»Tang, taxier' ich«, sagte Harvey, an der Leine zerrend. Bevor er einholte, band er sich den Gürtel um und hörte mit Entzücken die Scheide gegen die Ducht schlagen. »Donnerkiel!« schrie er. »Die Leine benimmt sich, als wär' sie in einem Erdbeerbeet. Hier ist doch Sandboden?«
Dan griff zu und tat einen prüfenden Ruck. »Fühlt sich an wie 'n Heilbutt, der nich recht 'ran will. Das ist kein Erdbeergrund. Ruck ein paarmal hin und her. Sie wird schon nachgeben. Am besten, wir holen ein und schauen nach.«
Sie zogen gemeinsam und belegten jedesmal ein Stück Leine an den Klampen. Die unsichtbare Last hob sich langsam.
»Gleich haben wir's! Zieh!« kommandierte Dan; aber der Ruf endete in einem schrillen Doppelschrei des Entsetzens, denn aus dem Wasser kam – die Leiche des Franzosen, der vor zwei Tagen versenkt worden war. Der Haken hatte ihn unter der rechten Achselhöhle gefaßt, und so tauchte er auf, steil und schauerlich, Kopf und Schultern über Wasser. Die Arme waren an den Leib gebunden, und – er hatte kein Gesicht mehr.
Die Jungen schlugen der Länge nach auf den Boden hin. Da blieben sie liegen, während das grauenhafte Ding längsseits anschlug, von der kurzen Leine gehalten.
»Die Strömung hat ihn hergebracht«, stotterte Harvey mit zitternden Lippen und nestelte an der Gürtelschnalle herum.
»O mein Gott, Harve!« stöhnte Dan. »Schnell! Er kommt sein Messer holen! Gib's ihm wieder! Herunter damit!«
»Ich will es nicht! Ich will's ja gar nicht! Ich kann die Sch… Schließe nicht finden!«
»Schnell, Harve! Er hängt an deiner Leine!«
Harvey setzte sich auf, um den Gürtel loszumachen; dicht vor ihm ragte der Kopf, der kein Gesicht hatte unter dem strähnigen Haar. »Er ist noch angehängt«, flüsterte er Dan zu, der sein Messer aus der Tasche holte und die Schnur durchschnitt, während Harvey den Gürtel in weitem Bogen über Bord warf. Die Leiche versank mit einem »Blubb«, und Dan richtete sich vorsichtig in den Knien auf, bleicher als der Nebel.
»Er hat sich's geholt! Er hat sich's geholt! Ich hab' einmal eine Leiche mit einem Fangnetz einholen sehn. Das hat mir nichts weiter ausgemacht. Aber der ist eigens zu uns gekommen.«
»Ich wünschte …, ich hätte das Messer nicht angenommen. Dann wär' er an deine Schnur gegangen.«
»Was wär' da für 'n Unterschied gewesen? Wir sind beide zehn Jahre älter geworden an dem Schrecken. O Harve, hast du seinen Kopf gesehn?«
»Frag nicht! Ich werd' es nie vergessen. Aber schau mal, Dan, er kann es doch nicht gewollt haben. Es war nur die Strömung.«
»Die Strömung! Er ist sein Messer holen gekommen, Harve. Denk doch, sie haben ihn sechs Meilen südlich von der Flotte versenkt, und wir sind noch zwei Meilen weiter ab. Sie haben mir gesagt, daß sie ihn mit anderthalb Faden Kette versenkt haben.«
»Was mag er wohl mit dem Messer an der französischen Küste gemacht haben?«
»Irgend was Schlimmes. Wahrscheinlich muß er's fürs letzte Gericht bei sich haben, oder so –. Was machst du denn da mit den Fischen?«
»Ich schmeiß' sie über Bord«, antwortete Harvey.
»Warum? Wir brauchen sie doch nicht zu essen?«
»Einerlei. Ich hab' in sein Gesicht gesehn, wie ich mir den Gürtel abgenommen habe. Du kannst deinen Fang behalten. Ich mag meinen nicht.«
Dan antwortete nichts, warf aber auch seine Fische wieder über Bord. »Besser ist besser«, murmelte er schließlich. »Ich würd' meine Monatsheuer hergeben, wenn der Nebel endlich abziehn würde. Bei Nebel gehen Dinge um, die man bei klarem Wetter nich sieht – Wiedergänger und Gespenster und so –. Ich bin noch froh, daß er so gekommen ist, statt zu gehn. Er hätt' ja auch gehn können.«
»Schweig endlich, Dan! Jetzt sind wir grad' über ihm. Ich wünschte, ich wär' heil an Bord, selbst wenn's Prügel setzt von Onkel Salters.«
»Sie werden gleich nach uns schauen. Gib die Tute.«
Dan nahm das Blechhorn zur Hand, wollte blasen, setzte aber wieder ab.
»Los!« rief Harvey. »Ich hab' nich Lust, die ganze Nacht hier zu sitzen.«
»Fragt sich nur, wie er das aufnimmt. Ich kenn' einen von der Küste da unten, der hat mir erzählt, er war auf einem Schoner, wo sie sich nie traun wollten, nach den Jollen zu tuten, weil der Schiffer – aber nicht der, mit dem sie jetzt fuhren, sondern ein Käpt'n, der das Schiff fünf Jahre vorher hatte –, weil der in der Besoffenheit einen Jungen hatte ersaufen lassen. Und seither kam der Junge immer herangerudert und rief: ›Jolle, Jolle!‹ wie die andern.«
»Jolle! Jolle!« rief da grade eine gedämpfte Stimme durch den Nebel. Sie kauerten sich wieder hin, und Dan fiel vor Schreck das Horn aus der Hand.
»Halt!« rief Harvey, »das ist der Koch!«
»Ich weiß gar nicht, wieso ich auch gerade auf die dumme Geschichte kommen muß. Natürlich, der Doktor.«
»Dan! Danny! Oh! – Dan! Harve! Harvey! Ho, Haaar–veee!«
»Hier sind wir!« riefen die beiden Jungen wie aus einem Munde zurück. Sie hörten Ruderschläge, aber sie konnten nichts unterscheiden, bis der Koch mit strahlendem Gesicht und tropfnaß an sie anstieß.
»Was ist passiert?« fragte er. »Das wird Prügel geben daheim.«
»Das wollen wir ja grade! Nichts lieber wie das!« rief Dan. »Alles, was wir daheim kriegen, ist uns recht. Wir waren in nicht sehr angenehmer Gesellschaft!« Während ihnen der Koch einen Strick zuwarf, erzählte ihm Dan das Erlebnis.
»Ja, er hat sich sein Messer geholt«, war alles, was der Koch zum Schluß sagte.
Noch nie hatte die kleine, schaukelnde »Da sind wir« so heimelig und köstlich ausgeschaut wie jetzt, da der Koch – der von Kindesbeinen an im Nebel zu Hause war – sie zu ihr hinüberruderte. Ein warmes Licht drang aus der Kajüte, und ein wohltuender Duft von Speise mischte sich hinein, und es war himmlisch, die Stimmen von Disko und den andern zu hören, leibhaftig alle und von Fleisch und Blut, wie sie da über die Reling gebeugt standen und ihnen eine erstklassige Tracht Prügel in Aussicht stellten. Aber der Koch war ein schwarzer Meister der Strategie. Er ließ die Jollen nicht hochziehn, ehe er die wichtigsten Punkte der Erzählung berichtet und, immer um die Gillung herumschaukelnd und -lavierend, auseinandergesetzt hatte, daß Harvey ihr Talisman sei, ausersehn, alles Unglück von ihnen abzuwenden.
So kamen die Jungen an Bord als Helden wider Willen, und alles drängte sich an sie mit Fragen, anstatt sie zu verhauen für alle Sorge, die man um sie ausgestanden hatte. Der kleine Penn ließ eine richtige Rede vom Stapel über die Torheit des Aberglaubens; aber die öffentliche Meinung war gegen ihn und auf seiten des langen Jack, der die grausigsten Geistergeschichten auftischte, bis es Mitternacht schlug. Unter diesem Eindruck wagte niemand, außer Salters und Penn, etwa von »Götzendienerei« zu reden, als der Koch eine brennende Kerze, einen Kuchen aus Mehl und Wasser und eine Prise Salz auf ein Holzscheit placierte und das Ganze achtern über Bord warf, um den Franzmann zu beschwichtigen, für den Fall, daß er noch immer ruhelos herumtriebe. Dan zündete die Kerze an, weil er den Gürtel gekauft hatte, und der Koch murmelte und raunte Beschwörungen, solange er das hüpfende Talgflämmchen sehen konnte.
Als sie später nach ihrer Wache hinuntergingen, fragte Harvey Dan: »Wie steht's nun mit deinen fortschrittlichen Ansichten und dem katholischen Aberglauben?«
»Hu! Ich glaub', daß ich so fortschrittlich bin und so helle wie irgendeiner, aber wenn so 'n mausetoter Kerl kommt und 'n paar arme Jungs ganz verrückt macht vor Schreck, bloß wegen so 'nem lumpigen Dreißig-Cents-Messer, dann kann mich der Koch mit Haut und Haaren haben. Ich mißtrau' allen Fremden, lebend oder tot.«
Am andern Morgen waren alle außer dem Koch ein wenig beschämt über die nächtliche Zeremonie und gingen doppelt eifrig an die Arbeit, nur mürrisch das Nötigste miteinander redend.
Die »Da sind wir« kämpfte einen scharfen Wettkampf mit der »Parry Norman«, um die letzten Fänge. Und so erbittert war das Rennen, daß die ganze Flotte Partei nahm und Tabakwetten abschloß. Alle Mann arbeiteten an den Angeln oder salzten ein, bis sie fast vor Müdigkeit einschliefen – begannen von neuem bei Morgengrauen und hörten erst auf, wenn es zu dunkel war, um noch irgend etwas zu sehn. Der Koch selbst mußte sich als Fischspießer mißbrauchen lassen, und Harvey mußte in den Packraum, um Salz zuzureichen, während Dan beim Ausnehmen zu helfen hatte. Zum Glück verrenkte sich einer auf der »Parry Norman« den Knöchel bei einem Sturz ins Logis, und so gewann die »Da sind wir«. Harvey begriff längst nicht mehr, wie auch nur ein Fisch noch in den Laderaum gequetscht werden konnte; aber Disko und Tom Platt stauten und stauten und trimmten die Fischberge mit großen Ballaststeinen hinunter, so daß es immer wieder hieß: »Grad' noch Platz für eine Tagesschicht.«
Disko sagte keinem ein Wort, als all ihr Salz »naß« war. Eines Tages schlingerte er einfach nach achtern zum Packraum hinter der Kajüte und machte sich daran, das schwere Großsegel herauszuholen. Das war gegen zehn Uhr morgens. Bis Mittag war das leichte Toppsegel ab, und das Groß- und Marssegel gesetzt, und Jollen kamen an den Schoner heran, um Briefe nach Hause mitzugeben, ein bißchen neidisch auf ihr gutes Glück.
Endlich waren die Decks klar, die Flagge gehißt – ein Vorrecht des Schoners, der als erster die Bänke verläßt –, die Anker gelichtet, und die »Da sind wir« setzte sich in Bewegung. Disko führte unter dem Vorwand, es den Mannschaften erleichtern zu wollen, die ihre Briefpost noch nicht abgegeben hatten, sein Fahrzeug graziös zwischen den Schonern hindurch. In Wirklichkeit war es ein kleiner Triumphzug, durch den er, nun schon zum fünftenmal in fünf Jahren, der Flotte seine Meisterschaft vor Augen führte. Dans »Schifferklavier« und Tom Platts Fiedel begleiteten jene zaubermächtige Strophe, die erst gesungen werden darf, wenn »alles Salz naß ist«:
»Heijeih! Joho! Schickt eure Briefe her!
Das Salz ist naß, der Anker hält nicht mehr!
Die Segel hoch! Wir fahr'n zum Yankeeland!
Mit fünfzehnhundert Zentnern,
Ja, fünfzehnhundert Zentnern,
–zehnhundert guten Zentnern,
Zwischen Queereau und Grand.«
Die letzten Briefe klatschten auf Deck, um Stücken Kohle gewickelt, und die Gloucester-Leute riefen noch Botschaften an ihre Weiber, an andres Frauenvolk und an die Reeder herüber, solange die »Da sind wir« ihren musikalischen Umzug durch die Flottille nahm, indes ihr Stagsegel bebte wie eine zum Abschied erhobene Menschenhand.
Harvey entdeckte bald, daß die »Da sind wir«, die, nur mit dem Toppsegel, von Ankerplatz zu Ankerplatz schlenderte, und die »Da sind wir«, die mit geblähten Segeln südwestlichen Kurs heimwärts nahm, zwei ganz verschiedene Schiffe waren. Selbst bei »Schiffsjungenwetter« schnappte und schlug das Steuer, er spürte die schwere Ladung durch die Brandung stoßen, und das rastlose Strömen und Schäumen der See machte ihn schwindlig.
Disko hielt seine Leute bei den Segeln in Schwung. Und wenn alle so schön standen, wie bei einer Jacht auf der Regatta, mußte Dan das große Marssegel bedienen, das jedesmal beim Wenden von Hand beigeholt wurde. Wenn nichts andres zu tun war, mußten sie pumpen, denn die gestauten Fische ziehn Salzwasser, das der Ladung schädlich ist.
Da aber nicht mehr gefischt wurde, hatte Harvey Zeit, sich die See von einem neuen Gesichtspunkt aus zu betrachten.
Der Schoner mit seinem großen Tiefgang stand naturgemäß in intimsten Beziehungen zu seiner Umgebung. Vom Horizont war wenig zu sehn, außer, wenn die »Da sind wir« auf einem Wellenberg saß; meistens suchte sie sich, bald boxend und stoßend, bald gütlich, ihren Weg durch graue, graublaue oder schwarze Wellentäler, eingesäumt und kreuz und quer geziert mit schaumigem Gekräusel; dann wieder schmiegte sie sich zärtlich an die Flanke eines besonders großen Wellenbergs. Es war, als wollte sie sagen: »Du wirst mir doch sicher nicht weh tun? Ich bin ja nur die kleine ›Da sind wir‹.« Und dann glitt sie fort, in sich hineinkichernd, bis sie dem nächsten Hindernis gegenüberstand.
Der stumpfste Mensch kann das nicht Stunde um Stunde, Tag um Tag sehn, ohne es zu beachten. Und Harvey, der alles eher als stumpf war, fing an, den herben Chor der rastlos sich überstürzenden Wogenkämme zu verstehen und zu genießen; die eiligen Winde, die durch offenen Raum jagen und die lilablauen Wolkenschatten vor sich hertreiben; das herrliche Emporschwellen des roten Sonnenaufgangs; die Nebel, die sich im Morgen zusammenfalten, um dann schichtweise zu verschwinden, Wand um Wand abgelöst von ihrem weißen Grund; die salzig frische Helle am Mittag; Guß und Kuß des Regens auf Tausende Meilen lebloser Fläche herab; das fröstelnde Schwarz, das alles einhüllt, wenn der Tag zu Ende geht; und die Millionen faltiger Kerben des Meers im Mondlicht, indes der Großbaum im tiefen Sternenhimmel feierlich seinen Weg sucht. Dies war die Stunde, wo Harvey dann mit besonderem Genuß hinunterging, um sich vom Koch einen Kuchen zu erbetteln.
Aber das größte Vergnügen war es für die beiden Jungen, wenn sie zusammen am Steuer stehn durften, Tom Platt in Rufweite, indes die »Da sind wir« ihre Reling in das rauschende Blau schmiegte, einen kleinen, selbsterzeugten Regenbogen in vollem Rund über ihr Spill spannend. Dann knirschten die Rahen gegen den Mast, und die Schotten knarrten, und die vollen Segel dröhnten wie Gelächter. Und wenn sie in ein Wellental glitt, stolperte sie, wie eine Frau, die sich in ihrem eigenen Seidenkleid verfängt, und tauchte wieder empor, naß bis an den Klüverbaum, sehnsüchtig nach den Zwillingslichtern von Thatchers Island ausschauend.
Sie ließen das kalte Grau der Bänke hinter sich, stießen auf Holzfrachter, die nach Quebec gingen über die Straße von St. Lawrence, auf Jersey-Salzbriggs aus Spanien und Sizilien, und gerieten vor den Artimonbänken in einen braven Nordost, der sie bis in Sicht des Ostfeuers von Sable-Island brachte – ein Anblick, bei dem sich Disko nicht lange aufhielt – und sie noch weiter, an Western und Le Have vorbei, bis an die nördliche Ecke von Georges geleitete. Von da an kamen sie in tieferes Wasser und ließen dem Schoner fröhlich freie Bahn.
»Hattie denkt jetzt mächtig an uns«, vertraute Dan seinem Freund an. »Hattie und Mutter. Nächsten Sonntag kannst du dir einen Jungen heuern, der dir Wasser ans Fenster schüttet, damit du einschlafen kannst. Gelt, du bleibst bei uns, bis deine Leute kommen? Weißt du, was das beste ist, wenn man wieder an Land ist?«
»Ein warmes Bad?« fragte Harvey. Seine Augenbrauen waren ganz weiß von eingetrocknetem Salzwasser.
»Das ist auch gut. Aber ein Nachthemd ist noch besser. Ich träum' jetzt immer von Nachthemden, seit wir das Großsegel untergeschlagen haben. Da kann man seine Zehen ordentlich recken. Mutter hat sicher schon ein neues bereit, ganz weich gewaschen. Das ist die Heimat, Harve, die Heimat, du kannst es schon in der Luft spüren. Jetzt kommen wir gleich in eine wärmere Welle, ich kann schon den Lorbeer riechen. Ob wir wohl noch grade zum Abendbrot ankommen? Einen Strich Backbord!«
Die schlaffen Segel flappten und wankten in der schwülen Luft, während das Wasser rundum immer glatter, blauer und öliger wurde. Als sie nach einem Wind pfiffen, kam nur Regen, scharf wie mit Stachelruten, und peitschte und trommelte auf Deck, und hinterdrein Donner und Blitz eines Augustgewitters.
Sie lagen mit nackten Armen und Füßen auf Deck und erzählten einander, was ein jeder sich an Land als erste Mahlzeit bestellen wollte. Denn jetzt war das Land voll in Sicht. Ein Schwertfischboot aus Gloucester kam längsseit, ein Mann hockte in dem kleinen Sitz auf dem Bugspriet und schwang seine Harpune. Er war barhaupt und sein Haar ganz angeklatscht vom Regen. »Alles wohl!« rief er fröhlich, als wär' er Wache auf einem großen Linienschiff. »Wouverman erwartet Euch schon, Disko. Was gibt's Neues bei der Flotte?«
Disko schrie die Neuigkeiten hinüber, während das wilde Sommerungewitter über ihnen dröhnte und die Blitze von vier Seiten zugleich über die Kaps hinflackerten. Sie beleuchteten in grellen Momentbildern den niedrigen Hügelkranz um den Hafen von Gloucester, die Ten-Pound-Inseln, die Lagerschuppen, die Zickzacklinie der Häuserdächer und jede einzelne Spiere und Boje auf dem Wasser; die Bilder kamen und gingen, wohl zwölfmal in der Minute, indes die »Da sind wir« bei auflaufendem Wasser herankroch und die Heulboje hinter ihr drein stöhnte und klagte. Dann erstarb das Wetter in langen, immer selteneren, bösen Zuckungen blauweißer Flammen; ein letzter einzelner Donnerschlag folgte, wie das Brüllen einer Mörserbatterie, und die erschütterte Luft zitterte noch unter den Sternen nach, indes allmählich wieder Stille eintrat.
»Die Flagge! Die Flagge!« rief Disko plötzlich und wies nach oben.
»Was is damit?« fragte der lange Jack.
»Für Otto! Halbmast! Man kann uns schon von Land her sehn!«
»Hätt' ich total vergessen. Hat denn der Verwandte in Gloucester gehabt?«
»Ein Mädel, das er im Herbst heiraten wollte.«
»Maria sei ihr gnädig!« sagte der lange Jack und setzte die kleine Flagge auf Halbmast, für Otto, der in einem Sturm bei Le Have vor drei Monaten über Bord gegangen war.
Disko wischte sich über die nassen Augen und lenkte mit geflüsterten Kommandos seine »Da sind wir« zwischen moorigen Pfählen hindurch in Wouvermans Werft, ab und zu von Nachtposten angerufen, von den tintenschwarzen Piers her.
Durch alle Dunkelheit hindurch und über alle geheimnisvollen Vorgänge hinweg konnte Harvey fühlen, wie wieder das Land ihn umschloß, mit all den Tausenden schlafender Menschen und dem Geruch der Erde nach dem Regen und dem ihm wohlbekannten Geräusch einer Rangiermaschine, die sich irgendwo in einem Güterbahnhof auspustete; und das alles machte sein Herz schlagen und seine Kehle sich zusammenziehen, indes er an seiner Vorschott stand. Er hörte die Ankerwache auf einem Leuchtturmschlepper schnarchen, witterte in eine Sackgasse von Finsternis, aus der zwei Laternen glimmerten. Jemand erwachte mit einem Grunzer, warf ihnen ein Tauende hin, und sie machten sich in der schweigenden Werft fest, umflankt von großen, eisenüberdachten Schuppen, aus denen die warme Leere roch. Da lagen sie ohne Laut.
Dann setzte sich Harvey ans Steuer und schluchzte und schluchzte, als ob ihm das Herz brechen wollte. Und eine große Frau, die auf einer Werftwaage gesessen hatte, kam auf den Schoner und küßte Dan einmal auf die Backe; denn sie war seine Mutter und hatte die »Da sind wir« im Licht der Blitze erkannt. Sie nahm erst Notiz von Harvey, als er sich etwas beruhigt hatte und Disko ihr seine Geschichte erzählt hatte. Dann gingen sie zusammen zu Diskos Haus, indes schon der Morgen graute. Bis zu dem Augenblick, wo das Telegraphenamt geöffnet wurde und er an die Seinen telegraphieren konnte, war Harvey Cheyne wohl der einsamste Junge im ganzen weiten Amerika. Aber das Merkwürdige war, daß Disko und Dan nicht geringer von ihm zu denken schienen, weil er weinte.
Wouverman war auf Diskos Preise noch nicht präpariert, und Disko, sicher, allen anderen Gloucester-Schonern mindestens um eine Woche voraus zu sein, ließ ihm ein paar Tage Frist, sie zu verdauen. So hatten alle Zeit, in den Straßen herumzulungern, und der lange Jack machte sich einen besonderen Sport daraus, die Rocky-Neck-Straßenbahn so lange anzuhalten – aus Prinzip, wie er sagte –, bis ihn der Schaffner gratis mitfahren ließ.
Dan lief herum, seine sommersprossige Nase hoch in der Luft, spundvoll von Geheimnissen, und zeigte sich höchst patzig seinen Verwandten gegenüber.
»Dan, wenn du's so weitertreibst«, sagte Troop nachdenklich, »komm' ich dir noch aufs Fell. Du bist mir reichlich übermütig, seit wir an Land sind.«
»Wenn er mir gehörte, würd' ich's ihm lieber gleich geben«, sagte Onkel Salters sauer. Er und Penn wohnten bei Troops.
»Oho!« sagte Dan, sich mit seiner Ziehharmonika in den Hof flüchtend, bereit, über den Zaun zu springen, wenn der Feind vorrücken sollte. »Dein Urteil in Ehren, Papp! Aber denk dran, daß ich dich gewarnt hab'. Dein eigen Fleisch und Blut hat dich gewarnt! Ist nicht meine Schuld, wenn du dich diesmal verhauen hast. Aber ich werd' schon dabei sein, wenn's 'rauskommt. Und was dich betrifft, Onkel Salters – Pharaos Mundschenk is gar nichts gegen dich! Paß auf und wart's ab! Du wirst auch noch untergepflügt werden wie dein eigner Klee! Aber ich, Dan Troop, ich werde blühn wie der grüne Lorbeer, weil ich mich nicht auf mein eignes Urteil versteift hab'.«
Disko saß da in seiner ganzen häuslichen Würde, angetan mit einem Paar herrlicher Samtpantoffeln, und paffte gelassen an seiner Pfeife. »Du wirst noch gerade so närrisch wie der arme Harvey. Ihr zwei, ihr lauft die ganze Zeit 'rum und kichert und pufft euch und stoßt euch unterm Tisch, daß man schon gar keinen Frieden mehr im Haus hat«, sagte er.
»Bald wird's noch ganz anders kommen – für gewisse Leute. Wart's nur ab.«
Dan und Harvey fuhren mit der Straßenbahn nach East-Gloucester, trabten durch die Lorbeerbüsche bis zum Leuchtturm und legten sich auf die großen Felsen und lachten sich hungrig. Harvey hatte Dan ein Telegramm gezeigt, und die beiden hatten sich gelobt, darüber zu schweigen, bis die Bombe platzte.
»Harveys Familie?« sagte Dan beim Abendessen, ohne die Miene zu verziehn. »Pah, mir scheint, mit denen ist's nicht weit her. Sonst hätten sie schon was von sich hören lassen. Sein Alter scheint so 'ne Art Laden im Westen zu haben. Kann ja sein, daß du deine fünf Dollar kriegst, Papp.«
»Was sag' ich immer?« ermahnte Onkel Salters. »Man soll nicht mit vollem Mund schwätzen, Dan.«