Paul Keller
Drei Brüder suchen das Glück
Paul Keller

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Familienrat

Es war ein sonniger Sonntagvormittag. Die ganze Familie Breise war in der Kirche gewesen: das Ehepaar, die drei Brucknerjungen und Irene Bruckner. Sie hatten heut Wichtiges vor und lebten nach der kernig schönen Regel, die auch im modernen Deutschland noch nicht völlig vergessen ist: »Mit Gott fang' an, mit Gott hör' auf, das ist der beste Lebenslauf.« Auf dem Heimwege wurde auf Julias Wunsch kurz im »Zuckerhut« eingekehrt. Ach, es war schön und friedlich in der schlichten Breise-Wohnung!

Kurt hatte den Kanarienvogel aus dem Bauer gelassen. Der spazierte nun auf dem Rücken des Argos herum, der faul im Sonnenschein lag. Gern hatte Argos diese Spaziergänge auf seinem Felle nicht, es juckte fast so, als ob er Flöhe hätte. Argos ließ den Vogel gewähren, denn er sagte sich: »Ich kann mich doch mit so einem Firlefanz nicht in einen Kampf einlassen.« Nur wenn der Vogel auf den Kopf flog, wurde Argos unruhig; denn der Kanari war ein unverschämtes, boshaftes Vieh; er hackte den Argos in die Hirnschale. Selbst diese Mißhandlung ließ sich der gutmütige Hund gefallen.

Dieses Idyll wiederholte sich in der Breiseschen Wohnung fast Tag für Tag. Das Irenchen lachte manchmal Tränen. »Ach, Argos, was bist du für ein dummer Kerl!« Dann schmunzelte Julia und sagte: »Paß auf, nun kommt die Strafe!« Sie holte dann ein leckeres Bisquit, hielt es dem Vogel vor den Schnabel, zog es aber gleich zurück und steckte es dem Hunde ins Maul. Der Vogel schimpfte darüber wie rasend.

Kleine Leute haben auch ihre Freuden. Sie sind »naiv«. Aber wirkliche Freuden sind »naiv«.

*

Nach dem Gottesdienste waren sie draußen auf dem Friedhofe bei den Gräbern von Geheimrat Bruckner und seiner Frau, den Eltern der Brucknerjungen, gewesen. Das sind die stillen Besuche, bei denen kein Wort gesprochen wird, weil keine Antwort kommt. Und es wird doch gesprochen; aus weiter Ferne kommt denen, die in Sehnsucht und Trauer sind, ein stiller Liebessegen, den sie bei der Rückkehr von den Gräbern ins Leben mitnehmen.

Ein Gedenken ging wohl von jedem auch in ein fernes Land, wo neben einem einsamen Grabhügel wie eine riesige Totenfackel der Vesuv brannte. Das war Friedensschluß.

*

Die Brucknersöhne hatten sich kräftig und ganz ehrlich gesträubt, die königliche Gabe, die Irene ihnen anbot, anzunehmen. – Irene wollte ihnen ihr volles Erbe im Betrag von 750 000 Mark zurückzahlen.

Ja, die Brucknersöhne wehrten sich stolz und ehrlich, alle drei! Selbst das Ehepaar Breise war nicht einverstanden.

»Irenchen,« sagte Breise, »du bist eine reiche Erbin, dir gehört nun der ganze große Betrieb. Aber du bist jung, du bist geschäftlich unerfahren; bedenke, ob es der Betrieb, ohne Schaden zu erleiden, aushält, wenn du soviel Geld herausziehst, zumal dein Vater in der letzten Zeit nicht sparsam war.«

»Ich habe mit den leitenden Herren des Betriebes gesprochen; es ist zu ermöglichen; es ist leicht, da mein zukünftiger Gemahl als Gesellschafter eintritt und seinen Anteil bei uns stehen läßt.«

»Ich lasse meinen Anteil auch stehen,« sagte Elmar; »ich hatte zwar vor, eine neue literarische Zeitung zu gründen, hatte auch schon einen bildschönen Titel: ›Der neue Ton‹.«

»Neuer Ton für neue Vasen und Töpfe?« fragte Breise.

»Ach, Unsinn!« sagte Julia, »das ist was Musikalisches.«

»Auch nicht, liebe Tante, der ›Neue Ton‹, das ist die neue Art, die Tiefen und Rätsel, die Sehnsüchte und Leidenschaften, die Siege und Niederlagen des Lebens in Sprachklängen zu deuten, die zuvor noch niemals in eines Menschen Ohr gedrungen sind. Ich hätte meine Zeitschrift auch ›Hesperidengarten‹ nennen können, Hesperidengarten, wo im einsamsten Westen der Welt die Töchter des Zeus und der Themis die goldenen Äpfel der Hera bewachten ...«

»Erlaube!« unterbrach ihn Richard; »hast du deinen Plan einmal einem vernünftigen Menschen vorgelegt?«

»Jawohl, meinem Chefredakteur.«

»Und was hat er gesagt?«

»Schafskopf! hat er gesagt, in freundlichem, mildem Tone. Dann hat er seine Meinung begründet. Er hat gesagt: ›Bruckner, wenn Sie wirklich zu Gelde kommen und wenn Sie dieser Besitz drückt und Sie wollen ihn durchaus auf anständige Art und Weise los werden, laufen Sie dann nicht etwa in die Spielsäle, denn der Teufel könnte wollen, daß Sie gewännen, nein, gründen Sie eine neue literarische Zeitschrift möglichst verschrobenen Kalibers, und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, in verhältnismäßig kurzer Zeit wird Ihnen eine glänzende Pleite beschieden sein!‹ –

Ich dachte, er ist ein erfahrener, lebenskluger Mann, auch voller Wohlwollen für mich, du wirst ihm folgen. So lasse ich meinen Anteil – an 250 000 Mark für mich ist natürlich nicht zu denken – also eben meinem Anteil in der Fabrik und werde in dem schönen und ehrenvollen Beruf eines Redakteurs, zumal wenn ich etwas Zuschuß habe, hoffentlich glücklich sein können.«

»Das wirst du, mein lieber Bruder!« rief Richard und schüttelt Elmar die Hand. Da hustete Kurt und sagte: »Bitte ums Wort! Ich möchte meinen Anteil – von 250 000 Mark für mich ist natürlich keine Rede, denn soviel Geld gibt's überhaupt nicht – auch gerne in der Fabrik stehen lassen; aber der Ehrgeiz kitzelt mich zu sehr. Ich möchte mich von der Gastronomie zurückziehen und meine kriminalistischen, angeborenen und durch Studium und Nachdenken geschärften Talente sich auswirken lassen. Ich möchte ein internationales Detektiv- und Auskunftsbüro begründen und meine Fäden um den ganzen Erdball spinnen.«

»Wenn dir dabei nicht das Garn ausgeht,« sagte Julia. Kurt wollte weitersprechen, aber Breise erhob sich.

»So kommen wir mit lauter Gerede und Plänemachen nicht weiter. Ich frage dich nun, Irene Bruckner, ist es dein unumstößlicher, wohlüberlegter Wille, den drei Brucknersöhnen das Darlehen deines Vaters in voller Höhe zurückzuerstatten?«

»Ja!« sagte Irene fest. »Das ist mein unumstößlicher Wille!«

»Ich frage euch, ihr Brucknersöhne, seid ihr bereit, diese Rückerstattung anzunehmen?«

»Nein!« sagte Elmar.

»Nein!« sagte Kurt.

Richard erhob sich.

»Liebe Brüder, ich bitte euch, Irenes Angebot anzunehmen. Mein Glück hängt davon ab. Wir haben alles vereinbart. Irene hat unter dieser Angelegenheit furchtbar gelitten, sie verlor ihr Heimathaus, verlor ihren Vater, den sie erst im Sterben wiederfand und der ihrem Ausharren im Tode zustimmte. Sie hat nun einmal ein so zartes Gewissen, beunruhigt es nicht weiter!«

»Das sage auch ich jetzt!« rief August Breise. »Nehmt, was euer ist, und schenkt dafür unserem goldigen Irenchen den vollen Herzensfrieden. Nimmst du nun die Rückerstattung an, Elmar?« »Ja,« sagte der mit niedergeschlagenen Augen.

»Und du, Kurt?«

Der knurrte: »Nu, wenn's durchaus sein muß – unverschämt ist es – aber meinetwegen!«

»Das ist brav, mein Junge! Und nun höre, was ich dir sage: Ich bin als dein Pflegevater auf Wunsch deiner seligen Mutter bestellt. Pflegevater ist mehr als Vormund. Erst in zwei Jahren wirst du volljährig. Also, die windige Idee mit dem Detektivbüro schlage dir aus dem Kopfe, da stimme ich nicht zu. Aber ich mache dir nun einen anderen Vorschlag. Mein liebes, altes ›Continental‹ ist in der Gefahr, unter den Hammer zu kommen. Es ist ein hervorragend gutes Hotel. Wir Angestellten haben es auch nicht verlottern lassen; die Zimmer sind täglich fast alle besetzt, der Speisesaal ist gut besucht. Aber der jetzige Wirt ist ein Süffling und Herumtreiber. Es geht zu Ende mit ihm. Wenn er nicht das Hotel bald freihändig verkaufen kann, kommt es unter den Hammer. Also, lieber Kurt, du sollst das ›Continental‹ kaufen.«

Kurt sprang auf. Er stand da und stieß ein meckriges Gelächter aus.

»Erschrick' nicht so, Kurt! Es wird ausgezeichnet gehen; ich habe alles überlegt und berechnet. Daß ich für dich aufpassen werde in jeder Weise, das wirst du wohl von deinem alten Onkel ohne weiteres voraussetzen. Meine paar Schweizer Kröten leihe ich dir. Ich will beileibe nicht etwa Mitbesitzer werden. So lange mir Gott Leben und Gesundheit schenkt, behalte ich meine Portiermütze auf dem Kopfe. Denn Abraham a Sancta Clara sagt: »Einem ehrlichen Hotelportier wird sich seine goldgeränderte Dienermütze im Sarge in eine Krone verwandeln!‹«

Julia und Irene begannen leise zu weinen.

»Und nun frage ich dich, Richard, bist du gesonnen, dich mit dieser hier gegenwärtigen Jungfrau Irene zu verloben?«

»Das bin ich!« rief Richard glückstrahlend; »ja, wir sind beide entschlossen, bald zu heiraten. Assessorexamen und Doktor kann man machen, auch wenn man verheiratet ist.«

»Das ist richtig! Ihr sollt nicht ein einziges Jahr eurer wonnigen Jugendzeit verlieren. – Alte, hole den Wein! Aber erwisch' nicht etwa die Kümmelflasche! Der Champagner steht draußen rechts.«

Julia verschwand. Kurt wälzte sich indes auf dem Teppich herum. Argos, der Hund, biß ihn spielerisch in die Waden. Der Kanarienvogel trillerte wie besessen.

»Argos, du Lump, hab' mehr Respekt vor mir; ich bin Onkel Breises Chef!«

»Chef!« rief Breise. »Chef, setz' dich!«

*

Julia brachte den Wein.

Es wurde still. Es war plötzlich wie feierliche Beklemmung über allen. Breise erhob sich.

»Inniggeliebtes Brautpaar! So verlobe ich euch denn als alter, treuer Freund in Gottes Namen. Ich habe die Ringe mitgebracht. Nehmt sie als Verlobungsgeschenk von Onkel und Tante Breise an. Ich – ich müßt' ja jetzt noch eine Rede halten; aber ich kann nicht. Nur einen Satz möcht' ich noch sprechen: Werdet so glücklich wie ich mit meiner Julia!«

Laut auf weinte Julia, fiel ihrem Manne um den Hals, küßte ihn ab und schluchzte:

»Semper Augustus!«

Ende


 << zurück