Paul Keller
Drei Brüder suchen das Glück
Paul Keller

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Von der Ehrlichkeit

In der Schreckenszeit, da die deutsche Währung zugrunde ging, da Millionen von Kleinrentnern sich die grauen Haare rauften und ihr in langem Arbeitsleben mühsam Erspartes vernichtet sahen, da brave Männer in Verzweiflung zur Pistole griffen, da über Geschäfts- und Lebensruinen der kalte Todeswind fuhr, der aus Männerstöhnen, Frauenweinen und Kinderjammern gemischt war, da schnüffelten über das schaurige wirtschaftliche Schlachtfeld menschliche Hyänen nach ihrem Leichenfutter.

Drei Jahre lang hat der Staat die kleinen Gläubiger völlig schutzlos gelassen; gaunerische Schuldner konnten sich »gesund machen«, d. h. sie konnten das Geld, das sie sich einst in gutem Golde geliehen hatten, nunmehr in schmutzigen, wertlosen Papierlappen ihren geprellten Gläubigern »zurückzahlen«. Alles – rechtens! Denn ein Schutzgesetz gegen solchen Betrug bestand nicht. Kein Mensch durfte einem Biedermann, der also verfuhr, auch nur ein Haar krümmen, und hätte ihn ein empörter Ehrlicher einen »Schuft« genannt, so wäre er bestraft worden; nicht den »Biedermann«, sondern den Ehrlichen hätte der Amtsrichter am Kragen gefaßt. Rechtens! Denn die Zeit war nun einmal so, glücklich der, der die »Konjunktur« auszunützen verstand; je schamloser er das tat, und in je »gesetzlich geschützterer« Form er das tat, desto besser war es für ihn.

Wenn August Breise einmal nicht recht um die Galle war, dann erzählte er eine Geschichte aus dem Kirchdorfe, in dem seine hochbetagte Mutter noch lebte. Die Kirchgemeinde war arm; nur aus früherer Zeit war aus frommen Schenkungen ein Kapital da von etwas über fünfzehntausend Goldmark. Das Kapital hatte einmal der reichste Bauer des Dorfes auf seine stattliche Wirtschaft entliehen. Im Jahre 1922 aber, als Schutzmaßregeln des Staates gegen Übervorteilung der Gläubiger durch ihre Schuldner noch nicht bestanden, zahlte der Erbe des Bauern, der sich von dem Kirchengelde zu großem Teile sein Gut gekauft hatte, die Goldschuldsumme in fast wertlosen Papierscheinen zurück. Der Erbe hatte Felder, Hof, Inventar, Maschinen, Gebäude, Vieh aller Art behalten, die Gemeinde besaß nicht mehr so viel, daß sie sich die im Kriege ihr abgenommenen Glocken für ihr Kirchlein neu anschaffen konnte. Der Erbe war ein schlauer Mann. In der zweiten Jahreshälfte von 1922 witterte er Aufwertungspläne der Regierung, und so zahlte er schleunigst seine Schuld in Inflationsgeld. Vielleicht waren es zwei oder drei Prozent der geliehenen Summe, die er »zurückerstattete«. Das andere verlor die Kirchgemeinde. Das geschah alles »rechtens«.

Wenn August Breise diese Geschichte erzählte, lief ihm die Galle wie eine Dachtraufe in die Leber und durch die Leber ins Blut. And dann überkam ihn der Predigerzorn, in den er manchmal verfiel. Er streckte dann seinen rechten Arm steil zur Höhe, daß er stand wie ein Turm. Oben auf dem Turm drehte sich der Zeigefinger wie eine Windfahne im Sturme der Empörung, und dann predigte August Breise:

»Ich aber sage euch: diesen Handel, so gesetzlich richtig er auch aussehen mag, diesen Handel, der zwischen einer armen Kirchgemeinde und einem Profitgierigen, schlauen Bauern abgeschlossen und von einem in heillose Anordnung geratenen Staate nicht verhindert wurde, diesen Handel wird der große Rechnungsrevisor im Himmel, der allein alle Schlußzettel schreibt, nie und nimmer billigen. Die toten Spender, die in den Gräbern modern, werden als Betrogene aufstehen und vor Gott klagen: Nicht dem Bauern, der Kirche gaben wir unser Geld. Ich wünsche keinem Menschen ewige Verdammnis. Aber daß einmal ein überirdischer Quälgeist die Papierscheine, mit denen der Bauer seine arme Kirchgemeinde »abgefunden« hat, in glühende Bleiplatten verwandeln und sie dem Sünder unter den Körperteil legen wird, der zwar unanständig, aber trotzdem empfindsam ist, das steht fest. Und ich sage euch: das wird dann in Wahrheit rechtens sein. Amen.«

Frau Julia, die bei solchen Predigten ja meist zugegen war und die bei andern Anlässen ihren Ehegatten durch ein scharfes »Kohle nicht!« sofort zur Ruhe bringen konnte, widersprach ihrem Gemahl niemals, wenn er eine solche Bußpredigt hielt; denn sie wußte, daß er dann recht hatte. Doch konnte sie es als fromme Frau nicht unterlassen, ihn zu größerer christlicher Milde zu ermahnen. Dann trumpfte August Breise auf und sagte: »Christliche Milde ist gut, aber menschliche Anständigkeit hat auch was für sich!«

Wenn August Breise ins Predigerhafte kam, war er ein gewaltiger Mann. Sein Lieblingsschriftsteller war Abraham a Sancta Clara. Manche von den Predigten des gewaltigen Kanzelredners von Wien, der eigentlich biederer Schwabe war und Megerle hieß, konnte Breise auswendig. In seiner Portierloge lagen diese Predigten dicht neben dem Eisenbahnfahrplan, dem internationalen Postgebühren-Verzeichnis und den Depeschenformularen. Wenn Frau Julia ihren August einmal mit in eine Kirchenpredigt führte, was nicht allzu oft gelang, kam er meist unbefriedigt heraus. »Zu zahm! Zu wenig drastisch! Sie sagen es einem nicht genug mitten in die Visage hinein!«

August Breise konnte sich ein solches Urteil erlauben, denn in Predigtsachen war er Fachmann. August ließ die Frage nach Recht oder Unrecht in der Inflationssache nicht Rast noch Ruh. Einmal stieg ein »Professor der Moral« im »Continental« ab. Das Continental-Hotel war zwar klein, aber es erfreute sich in jeder Beziehung eines ausgezeichneten Rufes, lag in idyllischer Ruhe mitten in einem schönen Garten und war preiswert. Aus einer Zeitungsnotiz wußte August, daß der Herr, der auf Nummer 4 wohnte, ein berühmter Gelehrter in Dingen der Moral sei, der hierher zu einem Kongreß gekommen war. Zwei Tage lang schlich August Breise mit seiner brennenden Frage um den Gelehrten herum, wagte sich aber nicht an ihn heran. Am dritten Tage – der Professor war die einzige »Abreise«, die »Ankunftshalle« war ganz leer – legte der Professor ein Trinkgeld auf die Brüstung der Portierloge. Da aber sagte August:

»Bitte von einem Douceur ergebenst abzusehen, aber mir eine Frage, die ich freundlichst an Herrn Professor richte in Dingen der Moral, hochachtungsvoll zu beantworten, da mich diese Frage unausgesetzt quält. Herr Professor haben noch genau 32 Minuten Zeit zum Zug, kommen sonst viel zu zeitig auf den Bahnhof.«

»Na, was ist denn? Was quält Sie? Wie kann ich Ihnen helfen? Erzählen Sie!«

Da erhob sich August Breise, streckte den rechten Arm nach oben, ließ den Zeigefinger im Sturme der Empörung wie eine in Aufruhr versetzte Wetterfahne sich drehen und erzählte die Geschichte von der armen Kirchengemeinde, der das kleine Vermögen durch ein Gemeindemitglied verloren ging. And dann tat er die Frage: »Wenn nun auch durch die Behörden in dieser Sache nichts mehr zu machen ist, gilt solcher Handel vor Gott als moralisch?«

Der Geistliche, hier an der Gasthaustüre also gestellt, fühlte sich offenbar nicht recht behaglich diesem pathetischen Portier gegenüber; aber er war ein Menschenfreund, und so gab er etwa folgende Auskunft:

»Einer der unerschütterlichsten Grundsätze der Moral in Eigentumssachen lautet: Res clamat ad dominum. Das heißt wörtlich übersetzt: »Die Sache schreit zum Herrn!« Der Sinn bedeutet: Wenn einem Menschen oder einer Gemeinschaft ein rechtmäßiger Besitz von anderer Seite unrechtmäßig durch Raub, Diebstahl, Betrug, Wucher oder auf andere unerlaubte Weise, wozu auch die Ausnutzung einer Notlage gehört, ganz oder teilweise genommen wird, so ist eine Aussöhnung mit Gott nur möglich, wenn der Schade ersetzt wird, soweit es in den Kräften des Schädigers steht.«

»Ich danke, Herr Oberkaplan!« keuchte August, dem in der Erregung ein höherer geistlicher Würdentitel nicht einfiel.

Se. Respektabilität lächelte und fuhr zum Bahnhof.

*

Diese Belehrung hatte August Breise stenographiert. Er war ein Meister des Systems Stolze-Schrey – 250 Silben in der Minute. Das Stenogramm war zweifellos richtig, nur der lateinische Satz war so greulich verhunzt, daß ihn nicht einmal ein Professor für alte Sprachen hätte übersetzen können. August schrieb seine »Auskunft« fünfmal ab, dreimal in »Courentschrift«, zweimal in Rundschrift. Dem Tippfräulein vertraute er ein so wichtiges Dokument nicht an.

*

Was wollte August Breise mit seinem »Dokument«? Gegen den Bauern in seinem Kirchdorfe wollte er nicht an. Das hätte keinen Zweck gehabt. Das Gesetz oder vielmehr die Gesetzlosigkeit sprachen für ihn, und ihm ins Gewissen reden zu wollen, wäre ganz zwecklos gewesen. Der Mann hatte kein Gewissen wie andere Leute, er hatte sein eigenes Gewissen, hatte eine innere Stimme, die ihn lobte, wenn er etwas tat, was günstig für ihn war, und die ihn tadelte, wenn er einmal in einen kleinen Nachteil geriet. Diese Art von Gewissen ist übrigens auf unserer geschäftstüchtigen Welt recht verbreitet.

Nein! August Breise brauchte seine »moralische Unterlage« für den schweren Fall Bruckner.

*

In den Trübsalsjahren 1919 bis 1923 sind nicht nur Geld und Gut verloren gegangen, eine »Entwertung« trat auch mit vielen Charakteren ein. Politische Überläufer, Spekulanten auf Ämter oder Geschäftsaufträge, Emporkömmlinge aller Art.

Darüber soll hier weiter nichts gesagt werden, es ist nicht nur zu traurig, es ist auch all zu widerlich.

Der Geheimrat Bruckner starb im Frühjahr 1914 als recht wohlhabender Mann. Er war in der ganzen Provinz der tüchtigste Fachmann für innere Krankheiten gewesen. Die Frau Geheimrat Bruckner, ob sie auch durch den Tod des geliebten Gatten tief gebeugt war, war wenigstens dem traurigen Lose entrückt, das Witwensorge heißt. Sie besaß nach bürgerlichen Begriffen ein stattliches Vermögen, reichlich viel, um ihr Witwenleben ohne Sorge zu führen und ihre drei Söhne gut zu erziehen und ausbilden zu können.

Da kam Vetter Franz, ihres Mannes richtiges Geschwisterkind, der Inhaber einer großen Firma für Lederwaren. Er hieß Bruckner wie ihr Seliger. Vetter Franz rang die Hände, die Verwandte solle doch um Himmelswillen ihm all ihr Hab und Gut zur Verfügung stellen, unerhörte Möglichkeiten beständen, zu märchenhaften Reichtümern zu kommen, sie solle bloß daran denken, was jetzt an Lederwaren für das Heer gebraucht werde, an Sätteln, Geschirren, Tornistern, Koppeln usw. Ihre Söhne würden Millionäre werden, wenn sie jetzt zugriffe, hier zeige er ihr riesige Aufträge der Heeresverwaltung vor, die er aber ohne großes Kapital nicht ausführen könne. Hat je eine Mutter anders gerechnet als mit dem Glück ihrer Kinder?

Frau Geheimrat Bruckner war ganz unpraktisch. Ihr seliger Mann hatte ihr immer alles, was mit lästiger Rechnerei zusammenhängt, abgenommen, wie so viele gute Männer es tun, die nur niemals vor ihren Frauen sterben sollten, da sie diese dann ratlos zurücklassen.

Frau Bruckner vertraute dem Vetter Franz, der nicht nur Bruckner hieß, sondern auch große Familienähnlichkeit mit ihrem Unvergeßlichen aufwies, sie dachte an die Zukunft ihrer Kinder und gab das, was sie besaß, dahin. Vetter Franz machte glorreiche Geschäfte mit seinem Lederkram, schickte viel Geld ins Ausland und zahlte im Herbst 1922 seine Schuld an Frau Bruckner in Papierscheinen zurück.

Februar 1923 starb die Frau Geheimrat.


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