Paul Keller
Drei Brüder suchen das Glück
Paul Keller

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vater und Tochter

Irene Bruckner trocknete die Tränen, welche die Kinder gesehen hatten.

Er verachtet uns, er verachtet auch mich; er ist wohl zornig darüber, daß ich ihn angesprochen habe. Ich hätte es nicht tun sollen. Glühende Scham stieg in dem Mädchen über all das auf, was nun zwischen ihrem Vater und damit auch zwischen ihr und ihren Verwandten lag. Müde setzte sie sich auf eine Bank. Wohin sollte sie gehen? Sie wußte nichts Genaues, wußte nur, daß die verwandte Familie einmal durch ihren Vater um viel Geld gekommen sei. Wieviel es war, hatte ihr der Vater nie gesagt. Wenn sie auch nur eine Andeutung machte, fuhr sie der Vater an, sie solle sich nicht um Geschäfte kümmern, von denen sie nichts verstehe. Er war dann barsch mit ihr, er, der sie sonst mit Zärtlichkeiten überhäufte.

Sie wollte sich Gewißheit verschaffen; sie wollte nicht Annehmlichkeiten und Vorteile von einem Reichtum genießen, wenn an ihm irgend ein Makel haftete. »Wie soll es uns gehen? Es geht uns schlecht. Wir leben von der Gnade eines Hotelportiers.

Wie mochten diese Leute heißen? Sie wußte weder ihren Namen noch ihre Wohnung. Ganz dunkel erinnerte sie sich, daß sie mit ihrer Mutter manchmal bei dieser anderen Bruckner-Familie gewesen war. Damals war sie noch ein kleines Mädchen.

Sie hatte den zwingenden Wunsch, herauszubekommen, wo die drei Brüder wohnten und wie die Portierleute hießen, die für sie Gutes taten. Dabei faßte sie eine zage Hoffnung, sie könne dann in irgend einer Form etwas Versöhnliches tun. Im Adreßbuch, das Irene in einer Konditorei sich vorlegen ließ, waren die Brüder nicht verzeichnet, da sie keine eigene Wohnung hatten. Nun ging Irene zum Wohnungsamt und dort erfuhr sie die Adresse Richard Bruckners, Gerichtsreferendar, bei Hotelportier Breise, Salzstraße 15, vierter Stock. Sie erfuhr auch, daß August Breise Portier im Hotel Continental sei, daß die anderen Brüder Bruckner, die bei Breise wohnten, Elmar und Kurt hießen.

Irene faßte einen raschen Entschluß. Sie wollte Gewißheit, wollte ins Continental, wollte diesen August Breise ausfragen.

August Breise saß in voller Portiermajestät in seiner Loge und hatte Abraham a Sancta Claras »Wohlgefüllten Weinkeller« aufgeschlagen. Ein Stubenmädchen erschien vor ihm. Breise erhob sich wie ein Richter und sagte streng:

»Betty, du hast hier im Hotel einen vermaledeiten Stunk aufgebracht. An den Türen horchst du und guckst durch die Schlüssellöcher. Dann machst du einen großen Tratsch, aus dem bloß böses Ärgernis entsteht.«

Das Mädel fing an zu heulen und wollte sich verteidigen. »Schweig! Ich weiß Bescheid. Heute früh um sechseinhalb, als Nummer Acht einmal auf Nummer 00 gegangen war, sah er dich bei seiner Rückkehr an seiner Tür, hinter der er mit seiner jungen Frau wohnte, lauschen und durchs Schlüsselloch gucken. Schockschwerenot, er hat sich grimmig beschwert. Noch so ein Fall, Betty, und du fliegst. Vorläufig will ich dir zur Verwarnung vorlesen, was Abraham a Sancta Clara, der berühmteste Prediger der Welt, über solches Gelichter, wie du bist, sagt im ›Wohlgefüllten Weinkeller.‹ Er sagt:

›Der bösen Dienstmenschen ist eine nicht geringe Zahl. Das hat mit sondern Schaden Petrus erfahren. Wie die giftigen Schlangen, wie die anblasende Wiesel, wie die bissige Kettenhund seind die Dienstmenscher gewest in dem Palast des Hohen Priesters Caiphas. Diese seins geloffen, diese haben geschrien, diese haben kurrt, daß allen Anwesenden die Ohren haben wehgetan. Die Torwärtlin, als ein gemeiner Mistfink, als ein zerlumpter Grindschippel, war die erste, so Petrum ganz unverschämt hat angefaßt, die Kammerfrau aber war so keck, daß sie mit ihrem Geschrei einen ganzen Tumult hat erweckt, auch die meiste Bediente und Soldaten hat aufgereizt. O ihr verruchte Rotzmäuler, ihr unverschämte Klappergroschen, was geht euch solcher Handel an! Bleibt bei Kochlöffel, Kleiderbürsten und Besenstiel und mischt euch nicht in solche Sachen. Aus all dem ist zu entnehmen, daß diese Dienstmenscher in Boden hinein nichts nutz gewest, sondern freche, geschwätzige, verlogene, versoffene, verlöffelte, vermessene und unverschämte Bestien, welche der Teufel selbst anstatt Jagdhund zum Hetzen hätte können brauchen. Wehe einem Haus, wo dergleichen Schmutzengel zu finden.«

August Breise legte sein Predigtbuch beiseite.

»Und nun, Betty, du Schmutzengel dieses Hauses, das ist meine letzte Mahnung. Bist du jetzt noch nicht bekehrt, so wird dir das begegnen, was Abraham a Sancta Clara an einer andern Stelle sagt: ›Werft dieses Ungeheuer in die Wolfsschlucht‹. Marsch ab!« Das Mädchen eilte heulend die Treppe hinauf.

August Breise legte Abrahams »Wohlgefüllten Weinkeller« befriedigt zum Eisenbahnfahrplan zurück. Der Türbursche näherte sich ihm respektvoll und sagte:

»Herr Breise, eine Dame wünscht Sie zu sprechen.«

Jetzt erst gewahrte der Herr Portier den neuen Gast.

»Ein wunderhübsches Fräulein,« war sein erster Eindruck. »Vornehm und solide.« Hotelportiers sind vielleicht die schärfsten Menschenkenner, die es gibt, hauptsächlich im Punkte der Moral.

»Hat sie die ganze Predigt mit angehört?«, fragte er leise.

»Sie kam gerade beim Mistfink zurecht!« erwiderte der Bursche ebenso behutsam.

August Breise verließ die Loge, zog seine Mütze, verbeugte sich tief vor Irene Bruckner und sagte:

»Gnädiges Fräulein, ich bitte vielmals um Entschuldigung, daß ich Ihren Eintritt nicht augenblicklich bemerkt habe. Ich hatte eben eine unangenehme Angelegenheit mit einer unzuverlässigen Hausangestellten zu erledigen und war sehr erregt.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Herr Portier.«

Sie lächelte ihn an. August dachte: charmantes Fräulein! Sie ihrerseits dachte: dieser Portier, bei dem die Brucknersöhne wohnen, macht einen ausgezeichneten Eindruck. Das volle, graue Haar paßt prächtig zu seinem ehrlichen Gesichte; er hat tadellos erhaltene, schneeweiße Zähne und sieht überhaupt geradezu gepflegt aus.

So war der Eindruck, den die zwei von einander gewannen, auf den ersten Blick ganz trefflich. »Gnädigstes Fräulein, es ist mir ungemein peinlich, daß gnädigstes Fräulein gerade auf die häßliche Szene stießen. Dieses Hotel hier ist sonst durch seine Friedlichkeit berühmt, das darf man wohl sagen. Und um diesen guten Ruf zu wahren, gehe ich gegen jeden Störenfried an. Diese weibliche Person, die ich verwarnen mußte, ist eine Störenfriedin oder entwickelt sich zu einer solchen. Gnädigstes Fräulein wollen den peinlichen Vorfall dem Hotel gütigst niemals nachtragen!«

»Ich denke gar nicht daran,« lachte Irene. »Die Strafpredigt, die Sie vorlasen, war ganz köstlich. Von wem war sie denn?«

»Von Abraham a Sancta Clara, den gnädiges Fräulein gewiß im Verein mit der ganzen gebildeten Welt als einen Klassiker, als ein Genie schätzen werden. Er predigt ohne Verschleierung mit großer Deutlichkeit. Und nun bitte ich, womit ich dem gnädigen Fräulein dienen kann. Ein Zimmer?«

»Nein! Von Ihrem Hotel will ich diesmal nichts; ich möchte nur um eine Auskunft bitten, Herr Breise!«

»Gnädiges Fräulein belieben meinen Namen zu wissen?«

»Jawohl! Sie sind Herr August Breise, Salzstraße 15 und bei Ihnen wohnen die Herren Richard, Elmar und Kurt Bruckner.« »Ich staune, gnädiges Fräulein, es stimmt alles.«

»Ich habe mich erkundigt. Herr Breise, ich bitte Sie jetzt nur um eine Auskunft von höchstens fünf Minuten.«

»Gern!« sagte der erstaunte Breise. »Doch nicht hier im Vestibül.«

Er rief den Türhüter heran, gab ihm Bescheid und geleitete Irene ins benachbarte Schreibzimmer, in dem niemand anwesend war. Dort bot er der Dame einen bequemen Sessel an und blieb in respektvoller Entfernung vor ihr stehen.

Irene setzte sich nicht.

»Herr Breise, rund heraus: ich bin Irene Bruckner, Tochter des Fabrikbesitzers Bruckner, eine Verwandte der drei jungen Herren, die bei Ihnen wohnen.«

»Die – die sind Sie?« sagte Breise langgedehnt.

»Ja, die bin ich! Sie scheinen die Verachtung der Brucknersöhne gegen mich zu teilen. Aber ich schwöre Ihnen, ich weiß von all diesem unglückseligem Handel nichts, wenigstens nichts Bestimmtes. Deshalb komme ich zu Ihnen um Auskunft. Ich bitte Sie, mir zu sagen, um was es sich damals zwischen der Familie Bruckner und meinem Vater gehandelt hat, um was es sich noch heute handelt. Mein Vater verweigert mir die Auskunft.« »Hat er wohl Ursache! Denn so sagt Abraham a Sancta Clara in lateinischer Sprache: Res klammert addomino, das heißt auf deutsch: »Rück' alles Ungerechte wieder raus, sonst holt dich der Teufel«.«

Irene sank in den Sessel. Breise stand in schwerer Verlegenheit da. Es durchschütterte ihn der Gedanke, hier sei er ganz unvermutet in eine so schwierige Lage versetzt, daß sein Verstand mitsamt seinem Abraham a Sancta Clara nicht verhindern konnte, möglicherweise einen so schweren Fehler zu begehen, daß er nicht wieder gut zu machen war. Da kam ihm Hilfe von außen. Der »Boy« klopfte an die Tür und meldete, Nr. 14 wünsche eine augenblickliche Auskunft. August entschuldigte sich mit der schönen deutschen Phrase: »Pardon für einen Moment!« und verschwand. Nummer 14 erkundigte sich, ob der Bäderzug nach Karlsbad schon wieder laufe. Nein, er lief noch nicht, nächster Zug 17 Uhr 26. Nummer 14 bedankte sich und ging.

Aber Breise ging noch lange nicht ins Schreibzimmer zurück. Er fürchtete sich vor diesem Fräulein, das so schöne traurige Augen hatte, er fürchtete sich vor sich selber und vor seiner Verantwortlichkeit. Aber ein feiger Kneifer war August Breise Lebensfragen gegenüber nicht. Schon nach Ablauf einer Viertelstunde ging er mutig und entschlossen nach dem Schreibzimmer zurück. Er hatte eine Strafpredigt von Abraham über Unehrlichkeit sich aus dem Gedächtnis wiederholt; als er jedoch das schöne Mädchen wiedersah, versiegte sein Redestrom. Er droxte heraus:

»Gnädiges Fräulein, es ist ja sehr interessant, daß Sie das Fräulein Irene Bruckner sind. Aber ich kann dagegen nichts tun. Ich weiß auch in der unseligen Geschichte zu wenig Bescheid, denn ich stehe hier den ganzen Tag im Dienst, und was weiß ich da genauen Bescheid? Ich misch' mich überhaupt nicht gern in fremde Verhältnisse, denn »Jeder kehr' vor seiner Tür« und »Zupf dich an der eignen Nase« steht in der Bibel. Aber meine Alte, meine Julia, die weiß genau Bescheid. Die hat Ihre Frau Mutter gekannt, gnädiges Fräulein, und die ist bei der Frau Geheimrat Bruckner, der Mutter der Brucknersöhne, solange in Dienst gewesen, bis die edle Dulderin starb. Meine Jutta kann Ihnen Auskunft geben. Das heißt, wenn sie will, denn manchmal will sie nicht, und da kann ich auch nichts machen.«

Irene sprang auf.

»Lieber, lieber Herr Breise, bitte verschaffen Sie mir eine Aussprache mit Ihrer Frau.« Der »Boy« klopfte und sagte, Herr Breise werde am Telefon gewünscht. Herr Breise verschwand, erleichtert aufatmend, und Irene blieb wieder einsam in ihrer Erregung.

Am Telefon wünschte Nummer 20 eine Kanne heißen Wassers zum Waschen. August Breise beorderte dieses heiße Wasser augenblicklich nach Nummer 20, ehe er aber nach dem Schreibzimmer zurückging, ließ er sich zehn Minuten Bedenkzeit. Dann stieg er wieder mutig in die »augenblickliche Lage« hinein.

»Gnädiges Fräulein, ich werde mit meiner Frau sprechen. Wenn Julia will, wird sie Ihnen Auskunft geben. In meine Wohnung werden Sie wohl, da die drei jungen Herren dort sind, nicht wollen.«

»Nein – keinesfalls.«

»Also auf sogenanntem neutralen Boden. Wenn keine Absage kommt, dann bitte, gnädiges Fräulein, morgen Nachmittag 15 Uhr 30, also dreieinhalb Uhr im Café zum Zuckerhut, Salzstraße 27. Ich werde mein Möglichstes bei meiner Alten tun. Garantieren kann ich leider nicht.«

Irene drückte dem braven Breise warm beide Hände. Er begleitete sie und selbst als sie nun draußen auf der Straße war, fiel ihm im Traume nicht ein, sich unhöflich gegen sie zu benehmen. Doch war er vergnügt, die ärgerliche Sache los zu sein und seiner Alten aufgehalst zu haben. Er tat das meist bei ärgerlichen Sachen.


 << zurück weiter >>