Paul Keller
Drei Brüder suchen das Glück
Paul Keller

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Auf und nieder

Bergsteiger gibt es, die sagen: Ja, hinaufkraxeln auf einen Gipfel, sich an Felsenzinken festkrallen, auf schmalen Steinstufen feststehen mit einem halben Fuße, einen Kamin durchklettern, den Rücken an eine Wand, die Füße an die gegenüberliegende gestemmt, das Rückgrat bis zum Zerspringen angespannt, über einen messerscharfen Grat reiten, einen Abgrund zur rechten, einen Abgrund zur linken – das ist leicht! Aber dann, wenn der Sieg durch Mut, eigene Kraft und Geschicklichkeit entschieden ist, wenn es oben weit über allen Niederungen so erhaben, so unaussprechlich schön gewesen ist, dann hinuntergehen, das ist schwer! Führt nach der Höhe eine lockende, lachende, mutzusprechende Fee, die immer ruft: »Hinauf!« – so steht nach unten eine Spötterin am Wege, eine, die mit Handgebärden droht: jetzt stürzest du ab, eine, die Schwindel erregt, eine die ruft: »Es geht bergab! Deine Kraft ist hin. Mit dir ist's aus!«

Es wiederholt sich alles im Leben. So wie es mit dem Aufstieg und Abstieg im Hochgebirge ist, so ist es auch auf den Steilpfaden des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens. Hinaufklimmen, und wenn die Hände bluten – herrlich; bergab gehen müssen auf ausrutschenden Sohlen – ist schrecklich!

Irene Bruckner hat die Häßlichkeit des Abstiegs geschmeckt, schon beim Umzug von ihrem Luxusquartier ins Mietsstübchen der Vorstadt. Sie erinnerte sich einer kleinen Kindergeschichte; Komteßchen sagte zu ihr: »Irene, jetzt wollen wir mal arme Leute spielen, ganz arme Leute, Leute, die so arm sind, daß sie nur einen einzigen Diener haben.« Soviel wissen die Reichen von der Armut.

Ja, Reichwerden ist oftmals ganz leicht, Armwerden ist immer furchtbar schwer.

Sie hatte nun wirklich keinen einzigen Diener, sie war »ganz arm«; sie hatte nur eine Hauswirtin, die geschwätzig, neugierig und abgeschmackt war. Widerlich war ihr diese Frau! Sie tat so falsch mütterlich zu ihr, so wie: »Armes, entgleistes Kind!«, und das war unausstehlich. Viel stand im Wege, nach Hause zurückzukehren. Nicht ein väterliches Verbot, o nein! Ihr Vater hatte ihr einen kurzen Brief geschrieben: »Ich verreise auf unbestimmte Zeit; wenn Du wieder zur Vernunft gekommen sein wirst, werde ich mich freuen, Dich zu Hause anzutreffen. Und dann soll die Losung sein: Reden wir über all diese unangenehmen Dinge nicht mehr – es hätte ja doch keinen Zweck! Seien wir vernünftig! Auf gesundes Wiedersehen!«

War er nicht vernünftig? War er nicht besser als sie selbst? War sie nicht ein ungezogenes Ding, das aus dem Vaterhause fortlief, nur, weil in einer geschäftlichen Angelegenheit es nicht nach ihrem Kopfe ging?

Nein! Nein! Nein!

Die Fabrik stand! Die Maschinen rasselten, alle Einrichtungen waren da, Arbeiterheere gingen ein und aus, dreiviertel Millionen stehengebliebenes Kapital der verstorbenen Frau Geheimrat Bruckner steckten in diesem Betrieb. Und die Brucknersöhne hatten nichts! Wohnten bei einem Portierehepaar und litten Not!

So war es! Nicht anders! Anrecht wird niemals zu Recht dadurch, daß man es leugnet oder sich vor ihm zu verstecken sucht. Der Standpunkt der jungen Fanatikerin war: ein Anrecht kann gesühnt und dann von Gott und den Menschen vergeben werden; aber es gibt kein Anrecht, das von selbst verjährt. Res clamat ad dominum. Die Sache schreit zum Herrn! Zehntausend Mark besaß sie. Davon wandte sie zunächst die Hälfte den Brucknersöhnen zu. Das war nicht leicht, denn die Brucknersöhne waren stolz. Eines ganzen Betrugsmanövers bedurfte es, des Briefes eines Anwaltsbüros aus Philadelphia: ein Mister William Green hätte den Söhnen seiner Verwandten, der verstorbenen Frau Geheimrat Bruckner, geborene Grün, zwölfhundert Dollar zugedacht. Nähere Angaben hätte Herr William Green nicht gemacht, auch seine Adresse nicht hinterlassen wollen. Dieser Brief und die dazu gehörende Geldsendung kamen an die Brucknersöhne, Salzstraße 15, richtig an. Jetzt hatte sie noch 5000 Mark. Sie rechnete aus, das sie damit etwa fünf Jahre leben könne. Nach Monatsfrist sah sie ein, daß das Geld schon nach einem Jahre zu Ende sein würde. Sie konnte keine groben Strümpfe tragen, konnte sich nicht mit ordinärer Seife waschen, konnte nur am sauber gedeckten Tische eines guten Restaurants etwas mit Appetit essen.

Ja, es geht sich schwer bergab.

*

Eines Tages lud Frau Julia Irene aufs dringendste in den »Zuckerhut«.

Die gute Frau war außer sich, fiel Irene um den Hals und weinte vor Freude.

»Irenchen – Irenchen! Das Glück ist bei uns eingekehrt: die Jungens haben Geld geschickt gekriegt, viel Geld – aus dem fernen Amerika, aus einer Stadt, die Philadelphia heißt. Ach, dieses Glück! Von einem Großonkel, einem Verwandten ihrer Mutter! William Green heißt er. Schickt 1200 Dollar. Elmar, der Dichter, war es, dem ich es zuerst sagen konnte; er hatte keine Ahnung, wieviel 1200 Dollar in deutschem Gelde sind, dann kam Richard nach Hause; der hätte es wohl gekonnt, aber er hatte einen Kummer im Kopfe und gab nicht acht; dann kam Kurt, der freche Schlingel; der wurde ganz verrückt, raste in der Stube herum, zerschlug mir meine geschliffene Karaffe und brüllte: ›Zwölfhundert Dollar zusammen, zwölfhundert Dollar! Da kriege ich den dritten Teil, das sind dreihundert Dollar‹. Na ja, es waren ja vierhundert, aber im Rechnen hat er immer mangelhaft gehabt und ist deswegen sitzengeblieben. Ich muß ja gestehen, ich wußte auch nicht, was zwölfhundert Dollar sind. Wer soll so etwas wissen, ehe er sich erkundigt hat? Aber da kam mein August, mein Mann, nach Hause. Nun, als ich ihm alles sagte, hat er zuerst auch ein Freudentänzchen gemacht und meinen Nähtisch im Entree umgeschmissen, aber dann hat er gesagt: ›Zwölfhundert Dollar? Zum Kurs von vier Mark zwanzig. Na, das sind fünftausendvierzig Mark. Und in drei Teile? Nun, da kriegt eben jeder eintausendsechshundertachtzig Mark‹. Also, stell dir vor, Irenchen, solch ein Rechengenie ist der. Der schüttelt so was aus dem Überziehärmel im Entree, neben dem umgeschmissenen Nähtisch – so alles ohne Bleistift und Papier weiß er das! Ja, ja, er ist schon einer! Nun, einen ungebildeten Mann hätte ich mir ja auch niemals genommen. – Ja, Irenchen, freust du dich denn gar nicht? Du sitzest so still da!« »Es ist recht und gut, wenn die Brucknersöhne etwas bekommen,« sagte Irene.

»Muß das nicht ein herrlicher, edler Mensch sein, der Herr William Green – Gott segne ihn! – der unseren Jungen so viel Geld schickt?«

»Vielleicht war es nur eine Laune von ihm.«

»Wie kannst du so kühl sein, Irenchen?«

»Man kommt nie hinter den wahren Menschen. Vielleicht hatte jener Absender des Geldes Gewissensbisse, irgend eine Veranlassung; aus ganz freien Stücken tut selten ein Mensch etwas Gutes.«

»Kind, Kind, wie bist du verbittert!«

»Und was sind sechzehnhundert Mark? Was ist denn damit heute ausgerichtet?«

»Viel! Kurt, der Lümmel, hat sich zu allererst einen Rasierapparat gekauft, obwohl er nicht so viel Haare unter der Nase hat, wie man mit einem Schwamm wegwischen könnte.«

Julia lachte so über den »Lümmel«, daß ihr die Verliebtheit für ihn aus den Augen blitzte.

»Was die andern mit dem sündhaft vielen Gelde anfangen werden, weiß ich noch nicht. Komm nächsten Freitag wieder in den ›Zuckerhut‹, da werde ich dir weiter berichten über unser Glück.«

Beim nächsten Zusammenkommen brachte Julia Neuigkeiten mit.

»Also, Elmar, der Dichter, macht eine Weltreise im ehrenvollen Auftrag seiner Zeitung. Wer hätte das von ihm gedacht, da er noch vor kurzem die Marktberichte schrieb! Eine große Schiffahrtsgesellschaft macht eine Probefahrt mit einem ganz neuen Schiffe. Typ heißt man so ein neues Schiff. Da werden nun Zeitungsredaktionen eingeladen, je einen Vertreter zu entsenden, der die Reise umsonst mitmachen kann. Das heißt, umsonst ist die Fahrt und das Essen. Das andere: Getränke, Zigarren, Trinkgelder, Landausflüge und dergleichen müssen die Herren aus eigener Tasche bezahlen. Und das ist bitter. Wie soll so ein Redakteur, wenn er Weib und Kinder hat, drei- bis vierhundert Mark Spesen für eine Spazierfahrt nach Ägypten aushalten? Nun, sie sind alle todbetrübt gewesen, denn jeder einzelne hätte gar zu gern mitgewollt, aber sie konnten es nicht machen. Sie wandten sich an den Verlag um einen Zuschuß, aber der Verlag lehnte ab. Elmar sagt: die Haupttätigkeit aller Verleger ist: abzulehnen. Nun, da wären noch zwei gewesen, die es hätten erschwingen können, weil sie Junggesellen sind. Aber der eine hat gesagt: Wenn er nur an die See und ein Schiff denke, drehe es ihm schon den Magen und die Gedärme um. Er sei einmal von Danzig nach der Halbinsel Hela gefahren, stundenlang habe die Fahrt gedauert, und er hätte in der Zeit Jahrtausende von Höllenqualen erlitten. Nein, er gehe nie wieder auf hohe See! – Der zweite Junggeselle, der angefragt wurde, hat gesagt: Wenn irgend jemand glaube, daß ein Junggeselle billiger lebe als ein Ehemann trotz allerhand Kinder, so sei das eben ein alberner Aberglaube. Nun, Irenchen, das ist aber ein geliebtes Haderlumpchen, pumpt unter seinen Kollegen die bekümmertsten Familienväter an. Bei meinem August steht er auch schon mit einhundertzwölf Mark fünfzig in der Kreide, und mich selbst hat er angepumpt. Fünf Mark habe ich ihm gegeben, denn ich bin ja nicht so leichtsinnig wie mein Mann. Ja, die Zeitung war ohne Vertreter für die Fahrt nach Ägypten. Da hat sich unser Elmar gemeldet, dank des vielen Geldes, das er von seinem Verwandten William Green aus Philadelphia – Gott segne ihn – bekommen hat. Das ist angenommen worden. Zuschuß hat er nicht bekommen, aber man hat ihm glückliche Reise gewünscht. Das ist immerhin etwas – das ist Wohlwollen. Elmar hat sich gefreut und zieht selig los. Er will Ägypten bedichten, von unten bis oben und bis fünftausend Jahre vor Christus hinauf und mit diesem Gedichtsbuche will er viel Geld verdienen. Dann will er die Insel Kreta bedichten. Da bleibt er zwar nur drei Stunden; aber er sagt, das genügt schon; der erste Eindruck sei der bleibende. – Sagst du gar nichts, Irenchen, zu unserem Glück?«

»Ich freue mich aufrichtig, daß Herr Elmar Bruckner nach Ägypten fahren kann.«

»Der gute, goldene William Green! Dem allein verdankt er sein hohes Glück!«

Irene schwieg. Endlich fragte sie:

»And die anderen beiden Brucknersöhne?«

Ach, der Kurt! Der hat sich Brillantknöpfe für's Oberhemd gekauft. Die Brillanten sind ja bloß aus Rheinkiesel, aber mein August hat sie ihm doch mit Gewalt weggenommen. Er hat gesagt: Was verkündet Abraham a Sancta Clara: »Solche von denen Untergebenen und Bediensteten, so sich mit unechtem Schmuck behängen, soll man das Zeug ins Maul stecken und es sie fressen lassen, daß es ihnen den Magen verderbe und die Gedärme zergrimme.«

»Der Pater Abraham hat sehr deutlich gepredigt,« lächelte Irene. »Im Vertrauen gesagt, Irenchen, mein August schwindelt sich viel dazu. Er macht sich vieles selbst.« »Er ist ein famoser Mann.« »Kein Mann ist famos, merk' dir das, Irenchen, sondern alle Männer sind Lumpen! Ach, was habe ich mein Leben lang um den August für Sorgen ausstehen müssen! Ich habe halt immer gehofft, wenn erst der Abend des Lebens kommt mit seiner sanften Milde, dann wird's besser werden mit ihm. Aber bei dem kannst du lange warten, bis die abendliche Milde eintritt.« »Du bist ja so verliebt in ihn, Julia!« »Ich – verliebt in den August –?« Julia lachte, daß der ganze »Zuckerhut« widerhallte. »Ich verliebt in den August – ausgerechnet in den August, in diesen alten Krippensetzer! Hah! Haha! Das ist lustig!« »Warum bist du denn dann so eifersüchtig? Du bist die eifersüchtigste Frau, die ich in meinem Leben kennengelernt habe.« Julia schlug auf den Tisch. »Hört sich doch alles auf! Ich eifersüchtig! Nein, nein, Irenchen, du verstehst noch nichts von der Liebe, deshalb nehme ich dir deine grundfalsche Meinung über mich nicht übel. Ich bin nicht verliebt in meinen August und nicht eifersüchtig wegen ihm; ich passe nur auf wie ein Geier, daß er auch nicht einmal mit einem kleinen Seitenblick vom Pfade der unbedingten ehelichen Treue abweicht. Er tut das auch nicht, denn er hat viel zu viel Angst vor mir. Aber er möchte es tun, und das ist es, was mich an dem alten Filou empört. Reden wir nicht mehr von ihm, sprechen wir lieber von den Brucknerjungen: der einzige, der mir Sorge bereitet, ist Richard, der Älteste!« »Was ist mit ihm?« »Er muß irgendwie krank sein oder er mag einen großen Kummer haben. Denke dir, Irenchen, daß er sich über das Geld, das er von seinem Verwandten aus Amerika bekommen hat, so gut wie gar nicht gefreut hat. Er hat ein bißchen gelächelt und gesagt: Na, Onkel Breise, da kann ich dir wenigstens meine Schulden bezahlen. Mein Mann hat das durchaus nicht annehmen wollen, aber Richard hat ihm das Geld aufgedrängt. Nun, so nehme ich's halt, vorläufig, hat mein August gesagt – darin ist er ein Staatskerl – und wenn du es wieder einmal gebrauchen kannst, gebe ich dir's abermals. Nein, der Richard ist irgendwie krank; er macht mir Kummer. Ich habe schon an Liebesschmerzen gedacht.« »Sicher!« sagte Irene leise. »Aber siehst du, Irenchen, das mit der Bankierstochter hat nicht gestimmt. Da hat mir der Lausbube, der Bälleaufsammler, einen Bären aufgebunden. Denn die Bankierstochter hat zu derselben Zeit, da ich ihr zuzusehen glaubte, in Kalifornien den ersten Tennispreis bekommen.«

»So wird es eine andere sein?«

»Aber welche – welche? Im ganzen ist Richard nicht für Liebe, so glaube ich. Er ist sehr ernst, fast gedrückt, es quält ihn wohl, daß er bei uns leben muß.«

»Er ist bei euch gut aufgehoben.«

»Ärmlich, Irenchen, ärmlich! Ach, man hat schon allerlei Kummer. Woher sollte ich da die Zeit und die Laune nehmen, in meinen August verliebt zu sein?« –


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