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»O dolce Napoli,
Suolo beato,
Ove sorridere
Volle ill Creato;
Tu se l'imperio
dell allegria
Santa Lucia!«
O süßes Neapel – seliger Hafen – der Schöpfer lächelte, als er dich schuf – du bist das Reich der Freude! – Heilige Lucia.«
Buntgekleidete italienische Straßenmusikanten standen vor zwei Bänken am Kai von Neapel, ein Geiger, ein Mandolinenspieler, ein schwarzhaariges Mädchen. Sie spielten und sangen ihr Heimatlied von der wunderschönen Stadt Neapel. Die beiden Bänke waren mit deutschen Zuhörern besetzt. Die Zuhörer italienischer Musik da unten sind zumeist Deutsche. Die weiche, süße Weise erklang, die Musikanten bekamen ihr Trinkgeld und zogen weiter.
Leise plätscherten die blauen Wellen des tyrrhenischen Meeres ans Ufer, drüben in der großen Bucht lag das zackige Felseneiland Capri in blauem Verklärungslicht, daneben ragte wie eine Riesenpyramide die Insel Ischia aus dem Wasser, links drüben prangten die Orangen- und Zitronengärten von Sorrent, im Hintergrunde reckte der Vesuv seine still brennende Fackel zum Himmel.
»Ove sorridere Volle ill Creato –«
Ja, der Schöpfer selbst hat lächeln müssen, als er soviel Schönheit schuf. Den einsamen Mann auf der Uferbank aber schien dieses Übermaß von Schönheit und Lieblichkeit eher zu bedrücken als zu erfreuen. Er saß ganz still. Immer wieder richtete er den Blick forschend nach den Wasserstraßen, die zwischen den abschließenden Inseln Capri, Ischia und Porcida in den Golf von Neapel hineinführen, die den Weg für alle von Westen kommenden Schiffe bilden, für Schiffe aus England, Frankreich, Deutschland.
Der Einsame zog zum zehnten Mal die Brieftasche und betrachtete die Schiffsfahrkarte, die auf Neapel – Alexandria lautete. Dann sah er abermals nach der Uhr. Es war immer noch viel Zeit bis zur fahrplanmäßigen Ankunft des erwarteten Schiffes. Ungeduld beflügelt keinen Zeiger der Uhr. Der Einsame ging nach seiner deutschen Pension zurück, die in der via Partenope lag. Dort gab er ganz unnützerweise noch einmal den Auftrag, daß ihm der Facchino den Koffer ja rechtzeitig zum Schiffe bringen solle. Dann schlenderte er ein Stückchen die via Roma hinauf, kehrte aber bald um und ging nach einer Hafenschenke, wo er einen Fensterplatz als Auslug frei fand.
Endlich kam das erwartete Schiff. Es wurde, da es seine erste Fahrt machte, von einer italienischen Hafenbehörde empfangen; eine italienische Kapelle spielte am Strande die deutsche Hymne, die von der Bordkapelle mit der »Marcia reale« erwidert wurde. Und nun das bunte Hafenbild bei der Ankunft eines Schiffes, Geschiebe und Gedränge, Lärm über alle Maßen, Jungen sprangen nackt ins Wasser und tauchten nach Silbermünzen, die von Bord aus ins Meer geworfen wurden, Zoll- und Sanitätsbeamte gingen aufs Schiff, die Bordkapelle konzertierte, eine Armee von Straßenhändlern wartete auf ihre Beute, Gepäckträger mit ihren Ladungen keuchten durcheinander, Schilder wurden herumgetragen: »Vorsicht vor Taschendieben!«, gellend wurden die neuesten Zeitungen ausgerufen – kurz Tumult, Rummel.
Unser Einsamer stand am Strande neben seinem Koffer und suchte mit einem Zeißglas unausgesetzt die Bordlinie ab, die von eleganten Damen und dahinter stehenden Herren im Reiseanzug umkränzt war. Endlich überfuhr ein tiefes Rot das Gesicht des Beobachters.
»Sie sind da! Er steht neben ihr.«
Nun wandte er das Gesicht vom Schiffe ab; er wollte von Bord aus nicht erkannt werden. Endlich war es soweit, daß die Reisenden an Land gehen konnten. Für Neapel war ein Aufenthalt von zwei Tagen vorgesehen. Das Schiff wurde fast leer. Die Reisenden benutzten bei dem herrlichen Wetter die Gelegenheit für Ausflüge in die Umgegend.
Der Neuankömmling wanderte ruhelos auf dem leeren Schiff hin und her, zornig über sich selbst. Warum war er denn nicht auch einmal nach der blauen Märchengrotte von Capri gefahren, oder nach Pompes, nach der Stadt, die schon Jahrtausende tot war und in deren Straßen und Gäßchen man immer noch wandern konnte? Warum war er nicht auch den Vesuv hinaufgefahren mit der Bergbahn und dann mit einem Führer über brennenden Boden zum Krater gewandert, um einen schaudernden Blick hinabzuwerfen in diese schaurige Hölle? Oder warum ist er nicht die wonnigste Straße Europas entlang gefahren von Castella mare über das goldene Sorrent nach der Traumstadt am Meere, nach Amalfi? Warum marschiert er hier an Deck des Schiffes und langweilt sich zum Sterben? Es war nicht des Geldes wegen; es war darum, weil er nicht wußte, welchen der berühmten Ausflüge sie wählen würde. Ach, er hätte ihr sofort nachgehen sollen! Er hatte es aber nicht vermocht; wie gelähmt war er gewesen, als er sie wiedersah, umgeben von drei Männern, von denen er den einen gar nicht, die beiden andern aber nur allzu gut kannte.
Die zwei Wartetage vergingen. Die Reisenden kehrten an Bord zurück.
*
»Du, Richard?«
»Ja, ich!«
»Was willst du denn hier in Neapel? Wie kommst du auf dieses Schiff? Wohin willst du?«
»Zunächst nach Alexandrien!«
»Was willst du denn da?«
»Dasselbe wie du – ich will mir Ägypten ansehen.«
»Du – Ägypten ansehen? Ich bin von der Zeitung geschickt.«
»Du bist nicht von der Zeitung geschickt, mein Lieber! Die ganze Geschichte war Schwindel. Deine Zeitung hat überhaupt keine Einladung von der Schiffahrtsgesellschaft bekommen. Du bist ausgerissen, bist auf eigene Kappe gefahren. Ich war bei eurem Chefredakteur, der mir das gesagt hat. Bei dieser Gelegenheit bemerkte er auch, daß die Zeitung auf deine weiteren Dienste verzichte, da du ohne ordnungsgemäßen Urlaub vor Schluß der Theaterspielzeit, wo du gebraucht wirst, auf und davon bist.«
Elmar saß ganz gebrochen vor seinem Bruder.
»Und da kommst du, um mich zurückzuholen?«
»Im Gegenteil! Ich werde dich begleiten!«
»Sieh, Richard, ich habe euch wirklich belogen. Es ist nicht schön, wenn jemand lügt. Aber du weißt, daß ich nur selten lüge, obwohl ich ein Dichter bin. Und es ist doch ein großer Unterschied zwischen einer gemeinen Lüge und einer Notlüge. Ich mußte diese Notlüge erfinden, um fortzukommen. Sonst hätten die Breises die Reise verhindert. Nicht bloß des Geldes wegen, nein, die Julia hat plötzlich eine Todesangst bekommen, das Schiff werde untergehen, weil es ein neues Schiff ist, das die erste Fahrt macht. Ich habe ihr klar zu machen versucht, daß, wenn alle Schiffe auf der ersten Fahrt verunglückten, es überhaupt kein einziges Schiff gäbe, daß dagegen alle Ozeane, Meere und Seen von Schiffen wimmelten. Es war umsonst – wenn die alte Pute Angst um ihre Jungen kriegt, dann kann sie nicht beruhigt werden. Obwohl ich schon alle Papiere in der Tasche hatte, mußte ich mich bei Nacht und Nebel davon machen.«
»Die Julia ist eine herzensgute, ja, sie ist trotz ihrer Schlichtheit eine edle Frau.«
»Das ist sie. Ich habe eine Menge Ansichtskarten an sie geschickt.«
Es entstand eine kurze Pause.
»Elmar, du bist Fräulein Sabine Sabina nachgelaufen?«
»Wieso?«
»Verstelle dich nicht wieder! Du wirst nicht leugnen wollen, daß Sabine Sabina auf diesem Schiff ist.«
»Ich leugne es nicht. Schon beim Souper wirst du sie sehen können. Sie fährt nach Kairo, wo sie eine Reihe von Rollen in italienischer Sprache spielen wird, darunter die Shakespearesche Julia. Das ist ein künstlerisches Ereignis.«
»Elmar! Wegen dieses künstlerischen Ereignisses fährst du nicht nach Kairo, zumal du kein Wort Italienisch verstehst. Du bist wie ein Toller verliebt in Sabine Sabina! Das sage ich dir auf den Kopf.«
»Und wenn – ?«
Richard stampfte mit dem Fuße auf.
»Es soll – es darf nicht sein!«
»Warum nicht?«
Richard gab keine Antwort. Elmar ging ein wenig an Deck hin und her, dann blieb er vor Richards Liegestuhl stehen.
»Wie kommst du eigentlich hierher? Wissen sie zu Hause, daß du hier in Neapel bist?«
»Nein, ich habe gesagt, ich fahre irgendwohin zur Erholung in ein Bad.«
»Nun, da hast du doch auch geschwindelt, oder zum mindesten verschleiert. Was willst du auf diesem Schiff? Ebensowenig wie ich eines künstlerischen Ereignisses wegen nach Kairo fahre, ebensowenig bist du hier, nur um eine schöne Menschenseele zu retten, nämlich meine! Ich will dir auf den Kopf sagen: du bist ganz rasend in Sabine Sabina verliebt. Du hast Wind bekommen, daß sie auf diesem Schiff ist, und bist deswegen hier.«
»Und wenn –?«
Elmar trampelte mit beiden Füßen auf.
»Es soll nicht sein, es darf nicht sein!«
Kalt, haßerfüllt sahen sich die Brüder in die Augen.
*
Das Schiff hatte den Hafen von Neapel verlassen, sich nach Westen gewandt, Capri zu, dessen Lichter an der grande Marina aufleuchteten. Dann südlicher Kurs, Sizilien zu, der Straße von Messina.
Abendessen, die Franzosen nennen es »souper«, die Engländer sagen »supper«, die Deutschen nennen es nie »Abendessen«, sondern sie sagen auch entweder »souper« oder »supper«, je nachdem sie das eine oder andere Wort falscher auszusprechen vermögen.
Sabine Sabina fand vor ihrem Teller einen Strauß köstlicher Rosen. Sie war an solche Huldigungen gewöhnt, aber sie stutzte doch, als sie las: »Ein alter Tennispartner aus Deutschland entbietet der göttlichen Sabine Sabina einen Gruß!«
Sie erhob die Augen, sah Richard an einem entfernten Platze sitzen, sprang mit dem Temperament und der Ungeniertheit der Schauspielerin auf, eilte auf Richard zu, reichte ihm beide Hände, strahlte ihn an, überhäufte ihn mit einem Schwall von Fragen und Worten. Die Tischnachbarn von Sabine Sabina waren der Kommerzienrat Franz Bruckner und der polnische Graf Luwowsky.
»Wer ist der Mensch, auf den sie so lebhaft einspricht, zu dem sie hinstürmt,« fragte der Fabrikbesitzer, »er war bisher nicht auf dem Schiff! Sehen Sie nur, wie sie ihn anstrahlt! Es fehlt wenig, daß sie ihm um den Hals fällt. O, Weiber! Wer ist der Kerl?«
»Er ist mein Bruder!« sagte Elmar, der den Platz gegenüber innehatte.
»Ihr Bruder? Was für ein Bruder?«
»Der Referendar Richard Bruckner.«
»Na, dann wimmelt es ja von Bruckners auf diesem Schiff! Fährt er nach Ägypten? Hat er dort Geschäfte, oder reist er zum Vergnügen?«
»Nur zum Vergnügen so wie Sie, Herr Kommerzienrat, und der Herr Graf!«
An dem ganzen Tonfall merkte man, daß die drei Herren sich nicht besonders liebten.
»Er ist Ihnen wohl aus lauter brüderlicher Liebe und Besorgnis nachgereist!«
»Ja!« sagte Elmar.
»Rührend, solche Bruderliebe! Schöne Sache, wenn ein Referendar sich eine Vergnügungsreise nach Ägypten leisten kann.«
»Wir können es uns eigentlich nicht leisten, denn wir sind durch einen Verwandten um unser immerhin beträchtliches Erbe geprellt worden.«
»Geprellt – ist ein häßliches Wort. Na, mich geht's nichts an. – Sie spricht immer noch mit ihm!«
Da aber kam die »Göttliche« schon zurück.
»Na, Ihr Bruder ist ein famoser Kerl. Fährt auch nach Ägypten. Er sagt, er könne italienisch und wolle mich in Kairo als Julia sehen und hören.«
»Der kann italienisch? Ein paar Phrasen kann er!« Die Herren lachten.
»Lachen Sie nicht, meine Herren, etwas Sprachkenntnis ist wertvoller als gar nichts. Und Sie können gar nichts von meiner göttlichen Muttersprache. Leider! Es ist rührend von Herrn Richard, daß er nach Kairo kommt. Ich werde nur für ihn sprechen!«
Die drei Herren der Umgebung verzogen das Gesicht.
Herr Kommerzienrat Bruckner beauftragte einen Schiffsangestellten, ihm im nächsten Hafenort italienische Lehrbücher zu besorgen: Grammatik, Sprachführer, Polyglott-Kunze, Dantes Komödie, Tasso und was halt so zur italienischen Sprache gehört. An seine Tochter Irene schrieb er an diesem Abend einen kurzen Brief.
»Auf meinem Schiffe, das nach Ägypten fährt, sind zwei Söhne des verstorbenen Geheimrats Bruckner, Herr Referendar Richard Bruckner und Herr Zeitungsschreiber Elmar Bruckner. Sie amüsieren sich ausgezeichnet; es geht ihnen finanziell offensichtlich gut. Einer von ihnen, der Referendar, hat einer mitreisenden Schauspielerin eine kostbare Rosenspende gemacht. Also, tröste dich, mein Täubchen; kehre ins Vaterhaus zurück; es ist alles verziehen.«