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38

Ich erkrankte. Diese Reihe von Tagen, bis ich müde zusammenstürzte, bis ich liegen blieb und mich nicht mehr rührte, sie ist in meinem Gedächtnis ausgestrichen!

Ich erkrankte.

Wie lange lag ich krank? Ich weiß es nicht. Dann erwachte ich wieder. Eine Stimme flüsterte. »– Du Herr, der du Berge versetzen kannst und Mauern einstürzen mit dem Atem deines Mundes, nimm dich des armen Kranken an, auf daß er genese –«

Ich hob die Lider. Ich lag im Bette, am Fenster saß die alte Maria, eine große Brille auf der Nasenspitze und betete. Wie Stricke lagen ihre gebleichten Haare auf dem runden rosigen Schädel. Wo hatte ich dieses Rosige schon gesehen und dieses Kränzchen? Richtig, bei Spanferkeln, genau so, von hinten gesehen.

Und ich lag stille, es machte mir Freude zuzuhören, wie jemand mit seinem Gotte sprach, für mich, immerzu für mich. Ich kicherte beinahe, so schön hörte sich das an, wie Maria Gott pries, als wolle sie ihn durch Schmeicheleien willfähriger stimmen, und dann um meine Gesundheit flehte.

»Die Sonne steht still auf dein Geheiß –« Tatata, dachte ich bei mir.

»– und Tote stehen auf, auf dein Wort –« Tatata, dachte ich bei mir.

»Sieh auf den armen Kranken und schicke ihm Gesundheit –«

Nach Belieben, dachte ich bei mir. Es war mir so leicht ums Herz und ich war zum Scherzen aufgelegt. Ich schlief wieder ein und als ich aufwachte, war es Abend geworden. Maria saß bei einem Lichte und betete immer noch.

Und ich schlief wieder ein und erwachte am lichten Morgen.

Nun war ich gesund. Ich stand auf und kleidete mich an. Ich war gesund und frisch, wie neugeboren und wollte singen. Aber gerade in dem Augenblicke, da ich beginnen wollte, konnte ich nicht singen. Es war eine eigentümliche Traurigkeit in mir, die mich nicht singen ließ.

Was aber war das doch für eine Traurigkeit? –

Tiefer Winter. Tiefer Winter.

Säcke voll Schnee hat der Himmel über die Wälder geschüttet, die Bäume sind starr und glashart. Ein roter Mond geht auf, eine rote Sonne kriecht durch den dunstigen Tag. Wie Grotten aus blauem Eise sind die Nächte. Der Schnee knarrt, im Walde bellen die Füchse. Sonst regt sich nichts mehr. Die Kälte zerfrißt die Augen. –

Heute schien die Sonne durch den Dunst und das Tal glitzerte weithin vor Freude. Eine Ahnung vom Frühling zitterte tief in der Erde.

Ich sah in die Sonne, es war mir als müßte ich durchsichtig sein wie Glas. Sie wärmte so ganz anders als das lustigste Feuer. Und ich dachte, daß der Frühling schön sei. Ein blühender lachender Apfelbaum am Wege, eine lachende Sonne, eine lachende Wiese, ein Hirtenmädchen, das den Mund bis zu den Ohren verzieht und lacht, ganz wie die Sonne, das ist der Frühling.

Ich schlüpfte in die Lodenjoppe, zog die hohen Stiefel an, nahm den Stock und das grüne Hütchen und ging.

Ausgestorben liegt das Haus, ausgestorben liegen die Ställe und Scheunen, mit dicken Polstern weißen Schnees bedeckt. Sie sind in die Erde gesunken. Die Fenster sind schwarz. Vieh und Pferde sind verkauft, Mägde und Knechte sind fortgegangen.

Nun, ich hielt sie nicht. Sie wollten sich einen andern Dienst suchen. Zu einsam sei es hier oben im Bergwalde. Ich hielt sie nicht auf.

Nur die alte Maria ist bei mir geblieben. In Tücher eingehüllt sitzt sie in ihrem Kämmerchen, wie eine Kastanienverkäuferin in der kalten Straße. Sie wird alt und friert. Am Abend jedoch fällt ein gelber Lichtfleck auf den Schnee des Hofes, aus dem Fenster der Gesindestube. Wer ist noch in der Gesindestube?

Der Mönch. Hin und her geht er, im Mantel, den großen Hut auf dem Kopfe.

Er hat keine Ruhe. Er büßt für etwas. Wofür? Niemand geht das etwas an.

Ich schwinge den Stock und gehe hinein in den stillen Wald. Ich lächle. Ich rücke den Hut zurück und möchte lachen und singen. Aber sobald ich die Lippen öffne, um zu lachen und zu singen, hält mich etwas zurück. Ich weiß nicht was es ist.

Es ist ein eigentümliches Gefühl.

Was ist es doch für ein Gefühl? Rührung, Ergriffenheit, Traurigkeit, Freude?

Von allem ein wenig.

Zartblau ist der Schnee im Walde zwischen den fahlen gefleckten Stämmen der Buchen. Gelbe Wege, gelbe Streifen, das ist die Sonne. Der Himmel schimmert weiß. Die Wipfel der Bäume sind wie in dicke Watte gepackt. Ein Ästchen rührt sich, eine kleine weiße Schlange gleitet herab. Von vielen Büschen sieht man nur noch einzelne Zweigchen, die aus dem Schneehaufen hervorlugen. Über den Weg laufen Spuren von Rehen und Füchsen. Ein Häufchen Krähenfedern liegt im Walde. In der Ferne lacht ein Häher.

Die Gräben sind gefroren und wenn ich mit dem Stocke auf das Eis stoße, so fallen lange Scheiben splitternd ins bereifte Gras. Ein spiegelglatter Tümpel. Ich nehme einen Anlauf und sause darüber hinweg.

Es ist nicht kalt. Die Luft ist frisch und so oft man sie einatmet, glaubt man Eiswasser zu schlürfen.

Da liegt eine Wiese am Waldesrande, sieht aus wie das reinlichgedeckte Bett eines Riesen. Im Sommer stehen gelbe Blumendolden darauf, aus denen der Honig tropft.

Honigtröpflein heißt die Wiese.

Und ich denke an den Sommer. Schweiß, Honig und Feuer ist der Sommer, denke ich, und ein heißer Kuß im Traume.

Ich gehe durch den Wald, stundenlang, auf, ab, auf, ab. Ich muß tüchtig ausgreifen, der Weg bis zum Revier Otternbrücklein ist weit.

Einsam ist es, einsam und feierlich. Der weiße Tod haust im Walde.

Ich komme in fremdes Gebiet. Axtschläge fallen im Walde. Das ist wunderschön, so still, so feierlich und diese Axtschläge. Man glaubt das Herz des Waldes schlagen zu hören. Das Gefühl, daß ein Mensch in der Nähe ist, tut wohl. Man will nichts von ihm, man sieht ihn gar nicht und doch tut es wohl, zu wissen, daß dort einer ist.

Ja!

Da erschrecke ich und trete hinter einen Baum. Ein Wolf! Nein, ein Fuchs. In weitem Bogen zieht er vorüber, den dicken Schwanz durch den Schnee schleifend.

Ich lächle. Weshalb fürchtete ich mich? Nie in meinem Leben war ich furchtsam.

Ich greife tüchtig aus. Hochwald. Das ist Revier Otternbrücklein. Dort liegt die Hütte des Holzfällers.

Vater Giselher sitzt vor der Türe in dunkler Sonntagskleidung. Ernst ist sein Gesicht und er sieht weder nach rechts noch nach links. Seine derben Hände liegen auf den Knien, sie ruhen wie er.

»Guten Tag, Vater Giselher!« rufe ich und schwinge den Hut.

»Guten Tag.«

»Ich kam lange nicht dazu, dich zu besuchen, Vater Giselher,« sage ich. Ich komme in Verlegenheit.

Selbstsüchtig seien Jugend und Glück. Hätten nicht Augen und Ohren für andere.

Ja, er zürnt immer noch, weil wir den Pfarrer nicht nahmen, damals. Er blickt weder nach links noch nach rechts.

Aber der Tod gebiete Versöhnung. »Meinen Dank, daß du kommst. Tritt nur ein, da drinnen liegt sie.«

»Wer?«

Wer lag da drinnen?

»Ihr Tagwerk ist vollbracht. Vierzehn Kinder hat sie geboren und großgezogen. Ihre Pflicht ist erfüllt. Der Herr weiß was er tut.«

Ich atmete auf, ich trat in die Hütte. Es war düster hier, eine hohe Kerze brannte. Daneben schimmerte das friedlich schlummernde, hohlwangige Gesicht einer alten Frau. Die Frau lag langgestreckt in einem breiten, derben Sarge. Ihr Mund war einwärts gezogen und fast kreisrund, der Tod hatte alles spitzig gemacht, die Nase, die Backenknochen, das Kinn. Die Hände lagen im eingefallenen Schoße der Toten, gelb mit blauen Nägeln.

Um den Sarg herum saßen still, die Hände gefaltet, die Kinder der Toten. Es mochten ihrer wohl zehn sein, in allen Größen, Mädchen mit hellblonden abstehenden Zöpfchen und Knaben mit nußbraunen Gesichtern und wirren Haaren. Ein schlankes Mädchen von siebzehn Jahren saß auf einem Stuhl und stopfte einen Strumpf. Ihr zu Füßen kauerte ein kleines Kind, das mit Bohnen spielte. Alle hatten rote Ohren und rote Nasenspitzen, denn es war kalt in der Hütte. Sie wandten mir die Gesichter zu, als ich eintrat, aber sie regten sich nicht. Sie blieben still, die Hände gefaltet.

»Ich bin Ingeborgs Mann,« flüsterte ich dem Mädchen zu, das den Strumpf stopfte. Ich schämte mich, dies zu sagen.

»Mutter ist tot – hohoho!« schluchzte das Mädchen und große Tränen fielen auf den Strumpf herab.

Hohoho – weinten sie alle ringsum und sie hörten auf, als die Schwester aufhörte.

Das Kind am Boden kroch unter den Sarg, eine Bohne war fortgerollt.

Und die Tote lächelte friedlich im Lichte der einzigen Kerze.

Da liegt sie! Ingeborgs Mutter ist das!

Das ist ja Ingeborgs Mutter! Sie ist tot. Seht, die Ingeborg geboren hat, ist gestorben!

Ich konnte mich nicht halten, ich brach in Schluchzen aus.

Das ist ja Ingeborgs Mutter!

Ist das nicht die Stirne Ingeborgs? O, ja! Ach, das ist Ingeborgs Kinn!

Ich schluchzte und beugte mich über die Tote und streichelte ihre kalten feuchten Wangen.

Ingeborgs Mutter ist das ja!

»Ich muß mich schicken,« sagte das älteste Mädchen. »Gleich werden sie da sein, um Mutter zu ho – ho – holen.«

Ob ich ihr nicht helfen wolle, Mutter den Strumpf anzuziehen.

O, ja, gerne wolle ich ihr helfen, Mutter den Strumpf anzuziehen.

Der Strumpf war naß von den Tränen des Mädchens. Ich betrachtete sie.

»Wie heißt du?« fragte ich und lächelte leise. Es war so manches in diesem Gesichte –

»Maria – ach nun ist Mutter tot!«

»Willst du nicht zu mir kommen, Maria?« flüsterte ich. Die Stimme wollte mir versagen. Ich hatte vergessen, daß eine Tote im Zimmer lag. »Mein Hauswesen führen?«

Sie brauchten sie hier.

Ich sah mir die Geschwister an. In jedem Gesichte fand ich etwas – etwas –

Vater Giselhers tiefe, ruhige Stimme wurde hörbar vor der Türe, Hüsteln und Sprechen.

Vater Giselher öffnete die Türe. »Tretet ein!« Durch den Spalt sah man den Kopf eines Schimmels, daneben das runde frostrote Gesicht eines Bauernburschen. Eine Anzahl alter Männerchen und Weiberchen trat ein, so daß das Gemach voller Menschen war. Sie flüsterten, hüstelten und eine Frau begann zu weinen, es klang wie Gekicher.

Ein Greis sagte mit näselnder halblauter Stimme: »Da liegt sie nun, unsere Mutter Giselher.«

Und ein weißhaariges verwachsenes Mütterchen zischelte: »Einen schönen Tod hat sie gehabt,« und alle nickten mit den Köpfen.

»Sie ruht in Gott.«

Vater Giselher schob sich durch die Gruppe. Er nahm ein dickes Buch zur Hand und stellte sich hinter die Kerze. Seine Gestalt war aufrecht wie immer, und sein bärtiger Kopf saß fest und gefaßt auf den breiten Schultern.

Klar und hell war sein Auge.

Und er schlug das Buch auf und begann zu lesen. Wir standen um den Sarg und hatten die Hände gefaltet, die Greise und Mütterchen, die Kinder, und auch ich hörte zu mit gesenktem Kopfe, mit gefalteten Händen, wie die andern.

»Es stehet geschrieben in Gottes Wort,« las Vater Giselher, »in den Psalmen Davids, Psalm 39, Vers 6 bis 8: Siehe meine Tage sind einer Hand breit bei Dir und mein Leben ist nichts vor Dir. Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben! Sela. Sie gehen daher wie Schemen und machen sich viel vergebliche Unruhe, sie sammeln und wissen nicht, wer es kriegen wird. Nun Herr, wes soll ich mich trösten? Ich hoffe auf dich.«

Vater Giselher schloß das Buch. »Ich hoffe auf dich! Brüder und Schwestern im Herrn – eitel sind unsere Hoffnungen dieser Erde, wes soll ich mich trösten? Ich hoffe auf dich.« Vater Giselher sprach und sprach. Laut und markig klang seine Stimme und seine wasserblauen strahlenden Augen wanderten im Kreise umher.

Vater Giselher sprach lange von den Tugenden der Gestorbenen und der Herrlichkeit des himmlischen Reiches und Gottes hoher Gnade. Wenn er den Namen Gottes oder des Erlösers aussprach, so neigten die Männer und Weiber den Kopf.

Dann schwieg er und nach einer kurzen Pause begannen sie alle wie auf ein Zeichen das Vaterunser zu beten. Allen wurden die Augen naß, nur Vater Giselhers Auge blieb trocken.

Vater Giselher trat an den Sarg und sprach: »Ich sehe dich an und ich sehe dich nicht zum letzten Mal. Ich werde dich da droben wiedersehn, so wahr Gott ist, und Freude wird in unsern Herzen sein.«

Der Sarg wurde geschlossen und hinausgetragen und auf den Karren gelegt. Der Bauernbursche sagte: hüh! und der Schimmel wieherte und stampfte durch den Schnee.

Neben dem Sarge schritt Vater Giselher, das Trüpplein der Kinder folgte ihm, dann kam der Zug der alten Weiber und Männer und weit hinter allen ging ich.

Maria und das kleine Kind blieben in der Hütte zurück. »Adieu, Maria,« sagte ich leise und sah sie an. Sie hatte goldene Haare und blaue Augen – –

Der Schimmel stampfte durch den Schnee und nickte bei jedem Schritte mit dem Kopfe, die Kinder trippelten und die alten zusammengeschrumpften Männer und Weiber humpelten und hinkten, in Tücher eingehüllt, hinter dem schwankenden Sarge einher.

Der Wald begann ringsum zu rauchen. Feiner Schnee fiel.

Es ging steil bergab.

Da kam aus der Tiefe das wehmütige Bimmeln einer Glocke.

Die Kinder begannen bitterlich zu weinen.

Und ich preßte die Hände vors Gesicht und weinte wie die Kinder. Ich weinte leise, damit mich niemand hörte. Leise und unaufhörlich, und je mehr ich weinte, desto leichter wurde es mir im Herzen und ich wähnte nimmermehr aufhören zu können zu weinen.

Vor mir her schwankte der Zug, die Greise und Mütterchen, die Kinder, der Sarg. Feiner Schnee fiel vom Himmel.

Aus dem Tale rief die Glocke.

Und ich weinte, weinte, immerzu und immer heftiger, weinte, weinte – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –


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