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Neuer Morgen kam – er mußte kommen, die Sonne mußte aufgehen. –
Die Sonne geht auf und die Fenster des Schlosses strahlen, als sei es zu einem Feste beleuchtet.
Es ist kühl und im Tale ziehen Nebel. Feucht riecht der Wald, es glitzert und Tau perlt an den Gräsern. Spinnengewebe hängen an den Brombeerbüschen und zwischen den Halmen, und in jedem liegt ein ovaler Tautropfen wie in einer feingesponnenen Wiege.
Es rasselt, der Wagen fährt vor. Ich trete aus dem Hause, Pazzo folgt mir. Ich spreche mit dem Kutscher. Mägde schleppen das Gepäck.
Da kommt Ingeborg die Treppe herunter, sie knöpft sich die Handschuhe zu. Sie trägt einen breiten Hut und das ist auffallend, denn den ganzen Sommer über trug sie nie einen Hut. Der Hut verändert sie, der Reisemantel, fast wie eine Fremde sieht sie aus.
»Ein schönes Reisewetter, Ingeborg«, sage ich. Ich lächle, ich will es ihr leicht machen.
Ingeborg hat Tränen in den Augen.
»Verzeih, verzeih«, flüstert sie und beschwört mich mit den Blicken.
»Beruhige dich, Ingeborg!«
»Ich kann ja nicht anders. Es ist mein Schicksal!«
»Wohl weiß ich das.«
Die Pferde scharren mit den Hufen. Pazzo bellt und umkreist den Wagen. Der Kutscher sitzt steif und bereit zur Fahrt.
»Adieu, Ingeborg!«
»O, Axel!«
»Grüße Karl!«
»Ich danke, Axel!«
»Wenn du mich besuchen willst, ich freue mich immer über deinen Besuch, du weißt es.«
»Freilich, freilich besuche ich dich. Bald besuche ich dich.«
»Wenn du ausruhen willst, nirgends ist es stiller als hier, du weißt es.«
»Ich denke daran. Schreibe bald, Axel! Versprich es!«
»Ich werde schreiben.«
Hastig nestelt Ingeborg an den Handschuhen und zieht sie von den Händen.
»Lebewohl, Axel!«
»Ingeborg, lebewohl!«
Wir küssen uns. Ich stehe auf dem Trittbrett des Wagens und Ingeborg umschlingt mich mit den Armen. Unter dem Hoftore stehen Knechte und Mägde, die begreifen nichts.
Die Pferde ziehen an, der Wagen rollt die Straße hinab.
Pazzo heult kläglich, bellt, blickt auf mich.
Adieu! Adieu!
Ingeborg steht im Wagen und winkt mit dem Taschentuch.
Noch sehe ich ihre Augen deutlich und den bittenden Ausdruck des Antlitzes, das unter dem breiten Hute leuchtet. Golden schimmern die Lockenbüschel. Nun sehe ich die Augen nicht mehr, etwas Blasses schimmert unter dem Hute. Das weiße Tuch weht.
Der Wagen biegt um die Ecke, ganz klein ist er geworden.
Eine weiße Taube flattert im Walde, ein Beschläge blitzt, nichts ist mehr zu sehen. Wald, Wald, Wald –
Pazzo winselt und kläfft. Er springt an mir empor.
»Pazzo!«
Pazzo fliegt in großen Sprüngen den Berg hinunter. Das ist noch ein letzter Gruß, nicht?
Adieu, Ingeborg! – –
Ich habe einen Geschmack auf den Lippen.