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Es gab einen Tag, an dem sie noch nicht die Augen geöffnet hatte.
Die ganze Nacht hatte sie gefiebert und geredet und phantasiert, nun lag sie vollkommen erschöpft und still.
Ich saß neben dem Bette und beobachtete sie. Ihr Atem ging schnell und leicht, sie war durchsichtig blaß, mit bläulichen Schatten unter den Augen und in den Wangen. Ihre fahlen Lippen waren halb geöffnet und die langen Wimpern schwebten über den Augen, die als ein schmaler Spalt zu sehen waren. Der Puls am Handgelenk zuckte.
Am Vorhange spielte eine bleiche Sonne, es wurde wieder dunkel und abermals spielte die bleiche Sonne an den Vorhängen. Eine Uhr ticktickte. Sie hämmerte und von Zeit zu Zeit begann es im Gehäuse zu sausen und zu klingen. Zuweilen war es mir, als bewege ich mich sehr schnell von der Stelle, als säße ich in einem dahinfliegenden Zuge. Am Vorhange bewegten sich die Schatten von Blättern auf und nieder, sobald die Sonne schien, und dann und wann kamen sie so nahe, daß man deutlich ihre Form unterscheiden konnte. Es waren Lindenblätter mit langen Zähnen am Rande.
Ich sah auf das Zifferblatt der Uhr und entdeckte, daß der Minutenzeiger zuckte wie ein langsamer Puls. Alles im Zimmer begann zu zucken wie Ingeborgs Puls. Plötzlich blieb die Uhr stehen und ich erschrak. Schweigen erfüllte das Zimmer und die Schatten an den Vorhängen regten sich nicht mehr.
Es verging eine unendlich lange Zeit, die mit ganz sonderbaren Dingen angefüllt war. Die kleine dunkle Spalte unter Ingeborgs Wimpern veränderte sich nicht, ihre Lippen schienen erstarrt zu sein.
Ingeborg regte sich nicht mehr, sie lag ganz still und schien länger geworden zu sein. Ich sah immerfort diese kleine dunkle Spalte unter Ingeborgs Wimpern an, sie klaffte, sie war starr. Was ist das? dachte ich.
Ich konnte mich nicht bewegen, ich wollte aufstehen, aber ich war wie gelähmt, ich wollte rufen, aber ich konnte nur die Zunge gegen die Zähne drücken, nicht einmal die Lippen konnte ich bewegen. Ingeborg lag steif und still.
Da hörte ich eine Türe gehen, der Arzt trat lautlos ein. Karl stand unter der Türe, ich sah ihn stehen, obgleich ich nicht hinblickte. Der Arzt trat ans Bett und hob Ingeborgs Hand in die Höhe, diese Hand knickte im Gelenk ab und fiel leblos auf die Decke zurück. Der Arzt blickte mich an, ich nickte. Karl kam, strich über mein Haar, und wieder nickte ich. Der Arzt ging, Karl ging.
Ich begriff nichts. Ingeborg war tot? Nein, es konnte nicht sein.
Es entstand ein Flüstern im Zimmer nebenan, die Türe wurde ein wenig geöffnet und in der Spalte zeigte sich eine Menge Gesichter, die Mägde und Knechte waren es. Jemand schluchzte und einer machte: Pst! ganz leise.
»Klaget nicht,« sagte ich und stand auf. »Ihr müßt nicht klagen, ihr müßt euern Schmerz mit Würde tragen, Freunde.«
Ingeborg war tot, aber ich empfand keinen Schmerz. Es schien, als sei mein Herz mit Ingeborg gestorben. Die Sonne flutete gegen die Vorhänge und Ingeborg lächelte friedlich, wie ein Kind, das vom Himmel träumt.
Ingeborg ist tot. Ein Mann trägt seinen Schmerz mit Würde.
Weinet nicht, ihr Knechte und Mägde. Ihr müßt euern Schmerz mit Würde tragen.
Man würde Ingeborg in die Erde versenken, oder man würde ihren Leichnam mit Salben durchtränken, um ihn gegen die Verwesung zu schützen. In der Ahnengruft drunten in der Kirche schliefen viele Frauen.
Weinet nicht ihr Knechte und Mägde.
Die alten Diener kamen in Festtagskleidern herauf und fragten, ob sie dem Herren irgendwie dienen könnten.
»Blumen, Blumen .....«
In Ingeborgs Gemächern sieht man keinen Sessel mehr, keine Wand, keinen Teppich.
»Blumen, Blumen .....«
Eine Bahre aus grünen Zweigen.
Ich denke nach. Nein, ich konnte Ingeborg nicht in die Erde betten. Ich konnte es nicht zugeben, daß sie verweste – nein, bei Gott, nein! Also mußte sie in die Gruft gebettet werden, mit Spezereien getränkt. Aber auch das ging nicht an. Ich hatte Mumien gesehen, die mich mit Schrecken und Abscheu erfüllten. Nein, nein. Auch das ging nicht.
Das Meer? Ein tiefes grünes schaukelndes Grab, ein dunkler immergrüner Wald mit leuchtenden Fischen und Korallenhecken. Aber da würden die Fische kommen. Ich sah, wie sie Ingeborgs Leib umkreisten, immer enger, immer enger –
Nein, nein, auch das ging nicht.
Es gibt nur eines: das Feuer! das Feuer! Ein Grab inmitten donnernder jubelnder wehender Flammen!
Und ich befehle Holz aufzuschichten für ein großes Feuer, das über die Berge leuchten sollte, damit alle es sähen. Auf der Wiese vor dem Hause.
»Tränkt das Holz mit Öl und Wohlgerüchen!« Ein Teppich aus weißen Rosen bedeckte den Weg, wie ein Bach von Milch floß er aus Ingeborgs Gemächern, über die Treppe, über die Wiese.
Die Stunde kam heran, da sie Ingeborg auf die Wiese trugen und auf den blumenübersäten Scheiterhaufen legten. Ich stand dicht daneben und um Ingeborgs Grab herum standen Knechte und Mägde, abseits stand Karl mit großen leuchtenden Augen.
Der Himmel war grünlichblau wie im Frühling, ein frischer Wind blies, die Vögel sangen im Walde und in den alten Kastanien vor dem Schlosse.
Ich blickte auf Ingeborg, die schlank und schmal in einem Bette von Blumen lag.
Das Feuer züngelte, ich sah nichts mehr. Feuer, Feuer.
Die Flammensäule fiel in sich zusammen und ein dichter brauner Qualm hob sich aus der Aschenstätte, und löste sich auf in feinen Rauch, der über das glänzende Blau des Frühlingshimmels wie ein Schleier zog. Der Schleier zerriß und Stück um Stück zog über das Tal und es sah aus, als ob Schwärme von Zugvögeln hoch oben über den Himmel strichen.
Die Knechte und Mägde sahen dem Rauche nach und weinten still: dort oben zog die Herrin davon! Nie würden sie sie wiedersehn, nie nie mehr.
Sie standen noch immer im Kreise um diese Stätte wie am Morgen, da die Sonne aufging. Viele weinten, da und dort aber stand einer und lächelte: er dachte an die Herrin.
Karl stand und blickte unverwandt auf seine Brust herab. Da lag ein blondes Haar, das das Feuer zu ihm herübergeweht hatte. Er wagte es nicht, sich zu bewegen und sah unverwandt auf das blonde Haar auf seiner Brust.
Vor dem Aschenhaufen lag Pazzo und leckte sich die verbrannten Läufe ab, er heulte dazwischen leise, wobei er den spitzigen Kopf hob und in den Himmel emporblickte. Er hatte den Versuch gemacht in das Feuer zu springen.
Der Rauch wurde dünner und erstarb.
»Sammelt die Asche in silberne Becken!« sagte ich und streckte die Hand aus. Diese Hand war die Hand eines Greises, welke Haut, krause Adern.
Und ich streute die Asche in den Wind, der sie entführte. So sollte Ingeborg zurückkehren in die Welt.
Der Wind würde die Asche in Blütenkelche streuen, Mädchen auf die roten Lippen, Zechern in die Becher, schlafenden Kindern in die offenen Mäulchen. Und so bald die Nacht käme, würde es zu flimmern anfangen, wie die Kerzen in den dunkeln Höhlen der Kirchen flimmern, in den Wäldern, über den Feldern, in den finsteren Gemächern, hoch in den dunkeln Wolken, tief im schwarzen Meere. Über die ganze Welt würde es flimmern. Ja.
Das war Ingeborg!
Ich wusch die Hände und kniete nieder. Ich breitete die nassen Hände vors Gesicht und weinte.
Ich weinte nicht aus Schmerz, ich weinte, weil ich Ingeborg verschenkt hatte. Ich hätte sie behalten können, seht, drunten in der Gruft der Kirche schliefen viele Frauen, aber ich gab sie her.
Und deshalb weinte ich und ich weinte so sehr, daß mir die Tränen wie Bäche über die Wangen stürzten.
Und während ich weinte, vernahm ich Ingeborgs Stimme, die mich tröstete. Sie rief.
»Axel, Axel!« rief sie.
Da lächelte ich und nahm die Hände vom Gesicht und lauschte auf Ingeborgs Stimme.
Etwas berührte meinen Arm und ich richtete mich auf und wandte den Kopf.
Ingeborg saß aufgerichtet im Bette und blickte mich an. Die Haare hingen ihr über die schmalen Wangen und ihre Augen waren groß und verwundert auf mich gerichtet. Sie sah aus wie ein schlankes Mädchen von fünfzehn Jahren.
»Axel,« sagte sie, »warum weintest du?« Sie sprach mit kindlicher, hoher Stimme.
Ich hatte geträumt und dieser schreckliche Traum stand plötzlich wieder vor mir. O! Ich glitt in die Knie und legte mein Gesicht in Ingeborgs Schoß und schluchzte vor Glück.
»Ingeborg, Ingeborg!«
Ingeborg küßte mir die Haare. Sie atmete tief auf.
»Wie frisch fühle ich mich,« sagte sie.
»Sage. Axel, warum weintest du? Ich hörte dich weinen, erwachte und sah dich sitzen. Du schliefest, aber die Tränen liefen dir über die Wangen. Sage es mir.«
»Nun weine ich, weil du dich besser fühlst, Ingeborg. Wie herrlich das ist! – Ich weinte, ja, ich träumte. Haha, es war ein konfuser Traum!« Ich wollte irgend etwas ersinnen, aber nichts fiel mir ein. Das Blut stieg mir ins Gesicht. »Ich träumte etwas aus meiner Kindheit – ich zerbrach etwas – weiß Gott, was ich zerbrach – ich glaube es war eine Vase – was war es doch?«
Immer noch schwankten die Schatten der Blätter an den Vorhängen auf und ab, ich konnte nicht lange geschlafen haben.
»Ich möchte Pazzo sehen,« sagte Ingeborg. »Welche Freude wird er doch haben.«
Ob sie sich nicht noch ein wenig gedulden wolle? Pazzo ginge es ausgezeichnet.
Geduldig fügte sich Ingeborg.
Es poltere immer. Was sei es doch?
»Gewitter ziehen in den Bergen.«
Wie schade es sei. Gewitter habe sie so gerne. Sie lachte. Ihr Lachen klang fieberisch und es erschreckte mich. Ein metallener Glanz zuckte in Ingeborgs Augen. Aber der war ein Narr, der verlangte, daß sie in einer Stunde gänzlich genas.
Es gäbe wohl auch später noch Gewitter.
Ja, auch das – Hahaha!
Ich gab ihr Fruchtsaft, ein Schlückchen Wein, und nötigte sie auch, ein halbes Ei zu essen. Die andere Hälfte verzehrte ich vor ihren Augen, um ihr zu zeigen, wie rasch so ein halbes Ei im Munde verschwindet.
Darüber konnte Ingeborg nicht genug lachen.
Dann fragte sie, ob Karl abgereist sei.
Nein, natürlich sei er noch hier.
Ob ich es ihr übel nehme, daß sie Bluthaupt einfach Karl nenne?
Aber Ingeborg?
Sie könne Karl gut leiden, haha.
Ich ging hinaus. Ich ging befreit, als habe ich eine schwere Last abgeworfen. Es zuckte alles an mir vor Freude.
»Es geht gut!« sagte ich zum Arzte und lächelte triumphierend.
Der Arzt sah mich an. Es war ein eigentümlicher Blick, der mich sofort lähmte an allen Gliedern. Auch mein Lächeln lähmte er.
Ich verließ das Zimmer. Der Blick des Arztes weckte alle drohenden Stimmen in mir, alle, alle.