Jean Paul
Levana oder Erziehlehre
Jean Paul

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Vorrede zur ersten Auflage

Noverre foderte von einem guten Ballettmeister außer der Tanzkunst bloß noch Meß-, Ton- und Dichtkunst, Malerei und Anatomie. Hingegen über die Erziehung schreiben, heißt beinahe über alles auf einmal schreiben, da sie die Entwickelungen einer ganzen, obwohl verkleinerten Welt im kleinen (eines Mikrokosmus des Mikrokosmus) zu besorgen und zu bewachen hat. Alle Kräfte, womit die Völker arbeiten oder glänzen, waren früher als Keime unter der Hand des Erziehers dagewesen. Ginge man noch weiter, so begehrte jedes Jahrhundert, jedes Volk, zuletzt jeder Knabe und jedes Mädchen seine eigne Erziehlehre, Fibel, Hausfranzösin usw.

Wenn folglich über eine Sache wie diese nur acta sanctorum, eigentlich sanctificandorum (Akten weniger der Heiligen als der zu Heiligenden) geschrieben werden können – noch sind die pädagogischen so wenig als die Bollandischen im letzten Monat – und wenn ein Foliant nichts ist als ein Bruchstück: so gibt es eben darum über einen so unerschöpflichen Gegenstand kein Buch zu viel, selber hinter dem besten, ausgenommen das schlechteste; und da, wo nur Bruchstücke möglich sind, machen nur alle mögliche das Ganze aus.

Damit glaubt der Verfasser sowohl seine Kühnheit als seine Armut entschuldigt; denn beide grenzen, wie im Staate, gern zusammen. Er hat nicht alles gelesen, was über die Erziehung geschrieben worden, sondern etwa nur eines und das andere. Rousseaus Emil nennt er zuerst und zuletzt. Kein vorhergehendes Werk ist seinem zu vergleichen; die nachfolgenden Ab- und Zuschreiber erscheinen ihm ähnlicher. Nicht Rousseaus einzelne Regeln, wovon viele unrichtig sein können ohne Schaden des Ganzen, sondern der Geist der Erziehung, der dasselbe durchzieht und beseelt, erschütterte und reinigte in Europa die Schulgebäude bis zu den Kinderstuben herab. In keinem Erziehwerke vorher war Ideal und Beobachtung so reich und schön verbunden als in dem seinigen; er wurde ein Mensch, dann leicht ein Kind, und so rettete und deutete er die kindliche Natur. Basedow wurde geistiger Verleger und Übersetzer in Deutschland – diesem Lande der Pädagogopädien (der Erziehung zu kindlichen Erziehern) und der Kinderliebe –, und Pestalozzi ist nun der stärkende Rousseau des Volks.

Einzelne Regeln ohne den Geist der Erziehung sind ein Wörterbuch ohne Sprachlehre; nicht nur kann kein bloßes Regelnbuch die Unendlichkeit der Einzelwesen und der Verhältnisse erschöpfen und aussondern, sondern dasselbe würde, gesetzt es wäre vollendet und vollendend, doch einer Heillehre ähnlich sein, welche nur gegen die einzelnen Zeichen einer Krankheit stritte und z. B. vor einer Ohnmacht gegen Ohrenbrausen und Augenfunkeln etwas Schwächendes, gegen Blässe und Kälte des Gesichts etwas Stärkendes, gegen Übelkeit etwas Abführendes verordnete. Aber dies taugt nicht! Ungleich dem gewöhnlichen Erzieher begieße nicht die einzelnen Zweige, sondern die Wurzel, die jene schon wässern und entfalten wird. Weisheit, Sittlichkeit sind kein Ameisenhaufen abgetrennter zusammentragender Tätigkeiten, sondern organische Eltern der geistigen Nachwelt, welche bloß der weckenden Nahrung bedürfen. Wir kehren die Unwissenheit der Wilden, welche Schießpulver säeten, anstatt es zu machen, bloß um, wenn wir etwas zusammensetzen wollen, was sich nur entfalten läßt.

Allein obgleich der Geist der Erziehung – überall das Ganze meinend – nichts ist als das Bestreben, den Idealmenschen, der in jedem Kinde umhüllt liegt, frei zu machen durch einen Freigewordenen; und ob er gleich bei der Anwendung des Göttlichen aufs Kindliche einzelne Brauchbarkeiten, zeitige, individuelle oder nächste Zwecke verschmähen muß: so muß er sich doch, um zu erscheinen, in die bestimmtesten Anwendungen verkörpern.

Hier unterscheidet sich der Verfasser – aber zu seinem philosophischen Nachteile – von den neuern übersinnigen Vorstehern an Erziehschultafeln, welche darauf mit so runder Kreide schreiben, daß man alles in den breiten Strichen finden kann, was man – vorher mitbringt, welche einen vollständigen Erzieh-Brownianismus mit den zwei Worten liefern: 1) stärke, 2) schwäche; wiewohl der Brownianer Schmidt gar nur ein Wort sagte: stärke. Doktor Tamponet behauptete, auch im Vaterunser woll' er Ketzereien aussparen, sobald man es begehre; die jetzige Zeit weiß umgekehrt in jeder Ketzerei ein Vaterunser zu finden. Der Gewinn freilich aus solchem philosophischen Indifferenzieren (Gleichsetzen) ist für eine Mutter, die ein gegebnes Kind zu entwickeln hat, unerheblich, obschon dergleichen hoch- und wohlklingende, zusammengetragene Werke durch Klingeln und Stehlen immer von Kunstsinn zeugen; daher Gall diesem Sinne ganz recht mitten zwischen dem Ton- und dem Dieb-Sinn das Lager anwies.

– Doch diese Sprache gehört nicht einmal in die Vorrede; dem Werke selber verbot sie ohnehin der Gegenstand, weswegen dieses in der Form als mein ernsthaftestes angesehen werden mag, dem nur selten ein kurzer komischer Anhang mitzugeben war.

Der Leser nehm' es gelinde auf, wenn er einiges Gedruckte hier im Wiederdrucke findet; das Gedruckte ist als Bindmittel und Bast des Ungedruckten unentbehrlich – nur muß die Bastpflanze nicht den ganzen Garten besetzen, anstatt die Bäume bloß zu verbinden. Doch gibts noch zwei bessere Entschuldigungen. Bekannte Erziehungregeln gewinnen neu, wenn neue Erfahrung sie wieder bewährt; der Verfasser aber war im Falle, dreimal an fremden Kindern jedes Alters und Talents sie zu machen; und jetzo genießt er von seinen eigenen das pädagogische jus trium liberorum (das Dreikinderrecht); und jede fremde Erfahrung in diesem Buche ist vorher die seinige geworden. Zweitens wird jetzo die Büchertinte oder Druckschwärze, wie sympathetische Dinte, so schnell bleich – so wie sichtbar –, daß es gut ist, in den neuesten Büchern alte Gedanken zu sagen, weil man die alten Werke, worin sie stehen, nicht liest; von manchen Wahrheiten müssen, wie von fremden Musterwerken, in jedem Jahrfunfzig neue Übersetzungen gegeben werden. Ja ich wünschte, man trüge sogar altdeutsche Muster von Zeit zu Zeit ins Neudeutsche und mithin in die Lesebibliotheken über.

Warum gibt es von allem Blumen- und Unkrautlese, nur aber noch keine Wein- und Fruchtlese aus den unzähligen Erziehbüchern? Warum darf auch nur eine einzige gute Beobachtung und Regel verloren gehen, bloß weil sie etwa in einem zu dickschweren Werke eingekerkert niedersinket, oder in einem einblättrigen verflattert, z. B. in einer Einladungschrift? Denn Zwerge und Riesen leben, auch als Bücher, nicht lange. – Unser Zeitalter, dieses Luft- und Ätherschiff, welches zugleich durch Anzünden neuer Lämpchen und durch Auswerfen alten Ballastes immer höher stieg, könnte, dächt' ich, nun mit dem Auswerfen nachlassen und Altes lieber einsammeln als herabschleudern.

So wenig zwar eine solche uneinige Gedankenkollekte die Regel selber lehren könnte: so würde sie den Erziehsinn, der diese anweiset, doch wecken und schärfen. Daher sollte jede Mutter – noch besser aber jede Braut – auch vielbändige und vielseitige anderer Art, z. B. das große Revisionswerk der Erziehung, dem kein Volk etwas Ähnliches entgegenzustellen hat, lesen und sich daran, wie ein Juwel, allseitig zubilden und zuschleifen, damit die mütterliche Individualität leichter die dunkle kindliche ausfinde, schone, achte und hebe.

Etwas anders als ein solches Stufenkabinett edler Gedanken, oder gar meine schwache Levana mit ihren Bruchstücken auf dem Arme, bleibt stets ein ordentliches vollständiges System der Erziehung, welches teils schon einer und der andere geschrieben hat, teils schreiben wird. Es ist schwer, ich meine das Ziel, nicht das Mittel. Denn leicht ists, dem Buchbinderkleister den Buchmacherkleister vorauszuschicken und tausend überlieferte Gedanken mit fünf eigenen zusammenzuleimen, sobald man nur in der Vorrede aufrichtig anmerkt, man habe seine Vorgänger benutzt, aber im Werke selber keinen einzigen anführt, sondern dem Leser eine solche verkleinerte Leihbibliothek in einem Bande für ein geistiges Faksimile verkauft. Wie viel besser wäre hier ein Lückenmacher als ein Lückenbüßer! Wie viel besser wäre es, wenn gesellige (nämlich freundlich zu Hunderten den nämlichen Weg mit einerlei Naturgetön ziehende) Schriftsteller ganz aussterben, so wie es in den tropischen Ländern (nach Humboldt) keine gesellschaftlichlebende Pflanzen, die unsere Wälder einförmig machen, gibt, sondern neben jedem Baum ein neuer prangt. – Ein Tagebuch über ein gewöhnliches Kind wäre besser als ein Buch über Kinder von einem gewöhnlichen Verfasser, ja die Erziehlehre jedes Menschen wäre bedeutend, sobald er nur schriebe, was er nicht abschriebe. Ungleich dem Gesellschafter, sollte der Verfasser nur immer sagen: ich, und kein Wort mehr.

Das erste Bändchen dieses Werks behandelt weitläufiger die Knospenzeit des Kindes als das zweite und dritte die Blütenzeit. In der ersten wird gleichsam das akademische Triennium (Dreijahr), nach welchem sich erst das Seelentor, die Sprache, auftut, der Gegenstand der Sorge und des Blicks. Hier sind Erzieher die Horen, welche die Himmelstüren öffnen oder schließen. Hier ist noch die rechte Erziehung möglich, die entfaltende; durch welche die lange zweite, die heilende, oder Gegenerziehung zu ersparen wäre. Für das Kind – noch in angeborner Unschuld, bevor die Eltern ihre Baumschlangen geworden – sprachlos noch unzugänglich der mündlichen Vergiftung – nur von Gewohnheiten, nicht von Worten und Gründen gezogen – auf dem engen dünnen Gipfel der Sinnlichkeit desto leichter und weiter bewegt – für das Kind wird auf dieser Grenzscheidung des Menschen und Affen, in diesen Jahren, wo der Mensch, nach dem finstern Austerleben eines einsamen Fötus, zum ersten Male in Gesellschaft kommt und an ihr sich bildet und färbt, das Wichtigste entschieden. Die elterliche Hand kann den aufkeimenden Kern, nicht aber den aufblühenden Baum bedecken und beschatten. Alle erste Fehler sind folglich die größten; und die geistigen Krankheiten werden, ungleich den Pocken, desto gefährlicher, je jünger man sie bekommt. Jeder neue Erzieher wirkt weniger ein als der vorige, bis zuletzt, wenn man das ganze Leben für eine Erziehanstalt nimmt, ein Weltumsegler von allen Völkern zusammengenommen nicht so viele Bildung bekommt als von seiner Amme.

Wenigstens mit innigster Liebe für die kleinen Wesen, die leichten Blumengötterchen in einem bald verwelkten Eden, ist dieses Buch geschrieben; Levana, die mütterliche Göttin, welche sonst den Vätern Vaterherzen zu verleihen angeflehet wurde, möge die Bitte, die der Titel des Buchs an sie tut, erhören und dadurch ihn und dieses rechtfertigen. Leider raubt entweder der Staat oder die Wissenschaft dem Vater die Kinder über die Hälfte; die Erziehung der meisten ist nur ein System von Regeln, sich das Kind ein paar Schreibtische weit vom Leibe zu halten und es mehr für ihre Ruhe als für seine Kraft zu formen; höchstens wöchentlich einige Male ihm unter dem Sturmwinde des Zornes so viel Mehl der Lehren zuzumessen, als er verstäuben kann. Aber ich möchte die Geschäftmänner fragen, welche Bildung der Seelen mehr auf der Stelle erfreuend belohne als die der unschuldigen, die dem Rosenholze ähnlich sind, das Blumenduft ausstreuet, wenn man es formt und zimmert. Oder was jetzo der fallenden Welt – unter so vielen Ruinen des Edelsten und Altertums – noch übrig bleibe als Kinder, die Reinen, noch von keiner Zeit und Stadt Verfälschten. – Nur sie können in einem höhern Sinn, als wozu man sonst Kinder gebrauchte, in dem Zauberkristall die Zukunft und Wahrheit schauen und noch mit verbundenen Augen aus dem Glückrade das reichere Schicksal ziehen. Das heimliche häusliche Wort, das der Vater seinen Kindern sagt, wird nicht vernommen von der Zeit; aber wie in Schallgewölben wird es an dem fernen Ende laut und von der Nachwelt gehört.

Es wäre daher mein größter Lohn, wenn nach zwanzig Jahren ein Leser von ebenso vielen Jahren mir Dank sagte, daß das Buch, das er lieset, von seinen Eltern gelesen worden.

Baireuth, den 2ten Mai 1806.

Jean Paul Fr. Richter


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