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Wichtigkeit der Erziehung
Verehrteste Amtbrüder! Indem ich mein kurzes Amt mit einem gewissen tröstenden Bewußtsein niederlege, daß keiner meiner Untergebnen mit Vorwürfen irriger Lehrart oder geschwänzter Stunden gegen mich auftreten werde: so find' ich wohl für einen Abschiedgruß kein Thema, das mehr damit zusammenhängt, als eben die Betrachtung: wie stark eine gute Erziehung eingreife ins Herz der Zeit, um so mehr, da ich dadurch Anlaß erhalte, manches, was mein Vorfahr auf diesem Rednerstuhl, der Antrittredner – denn anders wag' ich nach meiner Absetzung mich nicht hier aufzuführen –, ehegestern vorgebracht, heute in ein zweites Licht zu stellen.
Es soll bloß bewiesen werden, daß er lauter Sophismen vorgebracht, welche ursprünglich, nach Leibniz, bloß Übungen in der Weisheit bedeutet haben.
»Warum (fragt er) schreibt man jetzo so viel über Erziehung als darum (antwortet er), weil unser ganzes Tun in Worte überging, Worte aber leicht in Seelen, bloß durch Zungen und Ohren.« Allein ist denn das etwas anderes, als was ich selber auch behaupte? So jedoch:
Kein voriges Alter und Volk ist seit der Erfindung der Buchdruckerei zu vergleichen mit einem jetzigen; denn seit derselben gibts keinen abgeschlossenen Staat mehr, folglich keine abgeschlossene Einwirkung eines Staats in seine Bestandteile. Die Fremdlinge und die Zurückreisenden, welche Lykurg als Episoden und Maschinen-Götter aus den dramatischen Einheiten seiner Republik ausschloß, durchlaufen jetzo unter dem Namen Meßbücher und Makulatur jeden Staat. Nun ist keiner mehr allein, ja nicht einmal eine Insel im fernsten Meer; daher auch nur jetzo das politische Gleichgewicht mehrer Staaten, das sie folglich unter einem Waagbalken versammelt, zur Anregung kam. Europa ist ein durcheinander verwachsener Lianen-Wald, woran die andern Weltteile als Wucherpflanzen sich aufschlängeln und ausgesogen sich ansaugen. Die Bücher stiften eine Universalrepublik, einen Völkerverein oder eine Gesellschaft Jesu im schönem Sinne oder humane society, wodurch ein zweites oder doppeltes Europa entsteht, das, wie London, in mehren Grafschaften und Gerichtbarkeiten liegt. Wie nun auf der einen Seite der überall umherfliegende Bücherblumenstaub den Nachteil bringt, daß kein Volk einen unverfälschten, mit keinen fremden Farben besprengten Blumenflor mehr ziehen kann; – wie jetzo kein Staat sich aus sich so rein, langsam, stufenweise wie sonst mehr ausformen kann, sondern wie ihm, gleich einem indischen, aus Tierleibern zusammengereiheten Götterbilde, die verschiedenen Glieder der Nachbarstaaten in seine Bildung hinein verwachsen: so ist auf der andern Seite durch das ökumenische Konzilium der Bücherwelt kein Geist mehr der Provinzialversammlung seines Volks knechtisch angekettet – und ihn führet eine unsichtbare Kirche aus der sichtbaren heraus. – Und darum nun wird jetzo mit einiger Hoffnung gegen die Zeit erzogen, weil man weiß, das gesprochne Wort des deutschen Lehrers klinge von dem gedruckten wieder und der Weltbürger gehe unter der Aufsicht der Universalrepublik nicht im Bürger eines verderbenden Staats zugrunde, um so mehr, da, wenn Bücher verstorbne, aber verklärte Menschen sind, ihr Lehrling sich immer zu ihren lebendigen Seitenverwandten halten wird.
Daß das Zeitalter so viel über Erziehung schreibt, setzt gleich sehr ihren Verlust und das Gefühl ihrer Wichtigkeit voraus. Nur verlorne Sachen werden auf der Gasse ausgerufen. Der deutsche Staat selber nämlich erzieht nicht mehr genug, folglich tu' es der Lehrer in der Kinderstube, auf dem Katheder und vor dem Schreibpult. Die Treibhäuser in Rom und in Sparta sind abgebrochen – in Sina und in der arabischen Wüste stehen einige noch –; der alte Zirkel, daß der Staat die Erziehung voraussetze und bilde, diese wiederum jenen, ist nun durch die Buchdruckerei sehr rektifiziert oder auch quadriert, da nämlich Menschen über alle Staaten die Staaten erziehen, z. B. Tote wie Platon, so wie in der tiefen alten Morgenwelt unserer Erde der Sage nach Engel mit Schimmern gingen und die neu auf Ruinen entsproßnen Menschen als Kinder führten und nach der Lehrstunde entschwunden in ihren Himmel zurück. Die Erde hat sich – nach Zachs genialer Idee – aus herabgezognen Monden geballet; ein auf die amerikanische Kehrseite einstürzender Mond trieb die Sündflut gegen die alte Welt herauf; die zackige, wild aufgetürmte, ausgeschluchtete Schweiz ist nichts als ein sichtbarer Mond, der einst aus seinem leichten Äther auf die Erde sich stürzte – aber ebenso ist im geistigen Europa, weit mehr als in jedem andern nichts in Druck gebenden Weltteil und Zeitteil, nur eine Zusammenbildung aufgehäufter, vom Himmel gesandter oder gefallner Seelen-Welten oder Weltseelen. Jetzo hat der große Mensch einen höhern Thron, und seine Krone schimmert über eine breitere Ebene – denn er wirkt nicht bloß durch Tat, sondern durch Schrift, nicht bloß durch sein Wort, sondern wie ein Donner durch Nachhall. So ändert ein Geist die Nebengeister und mit ihnen die Menge; wie viele kleine Schiffe ein großes in den Hafen ziehen, so führen die untergeordneten Geister den großen ans Ufer, damit er ausgeladen werde.
Indes könnte mein Vorfahr vieles gern zugeben oder zusetzen, daß, wenn an die Stelle des lebendigen abgezäunten Partialvolks die große Nation der Autoren bildend getreten sei, sich folglich nur die forterziehende Menge verändere und vergrößere, welche den kleinen Einfluß, den predigende Kinderjahre hinterlassen haben, so leicht in ihrem Meer überwältige. »Büchersäle und zwei jährliche Büchermessen – die nachdruckerische in Frankfurt nicht einmal gezählt – überschreien doch, denk' ich, ein paar Schulbücher mit ihren Lehrern,« könnte der Antrittredner sagen und sagts wahrscheinlich. Aber hier ist ein Hauptpunkt nicht zu übersehen.
Nämlich so entschieden es ist, daß alles auf den Menschen bildend oder ausbildend eindrücke – daß, mein' ich, nicht bloß eine Volks- und Büchermasse und große elektrische Ergießungen an seinem Äquator-Himmel ihn zersetzen, sondern auch feuchtes Wetter ihn erweiche – so gewiß es folglich ist, daß kein Mensch einen Spaziergang machen kann, ohne davon eine Wirkung auf seine Ewigkeit nach Hause zu bringen – so gewiß jedes Spornrad, jeder Himmels- und Orden-Stern, Käfer, Fußstoß, Handschlag sich in uns so gut eingräbt als in den Granitgipfel ein leiser Taufall und das Bestreifen einer Nebelwolke – so gewiß ist wieder auf der andern Seite die Behauptung nötig: »jedes nur so und so stark, nach gestrigem, heutigem und morgendem Verhältnis.« Denn der Mensch nimmt desto mehr Geistiges an, je weniger er noch bekommen, so wie er nie so ungeheuer wächst und ohne Verhältnis zur Kost denn als Fötus; aber später, nach dem Sättigunggrade, schlägt er so viel immer nieder, daß es ein Glück ist, daß die Jugend des Einzelwesens sich durch die ewige Jugend des Gemeinwesens oder der Menschheit erstattet, deren Sättigunggrade sich doch auf einer Leiter bezeichnen, die nur Jahrhunderte und Völker zu Linienteilern nimmt.
Daher gibt man der Erziehung den Rat, im ersten Lebenjahre am meisten zu tun, weil sie hier mit halben Kräften mehr bewegt als im achten mit doppelten bei schon entfesselter Freiheit und bei der Vervielfältigung aller Verhältnisse; und wie Wirtschafter im Nebel am fruchtbarsten zu säen glauben, so fällt ja die erste Aussaat in den ersten und dicksten Nebel des Lebens.
Erwägt zuerst die Sittlichkeit! Der innere Mensch wird, wie der Neger, weiß geboren, und vom Leben zum schwarzen gefärbt. Wenn in den alten Jahren die größten Beispiele moralischer Momente vor uns vorübergehen, ohne unser Leben mehr aus seiner Bahn zu rücken als ein vorbeifliegender Bartstern die Erde: so wirft im tiefen Stande der Kindheit der erste innerliche oder äußerliche Gegenstand der Liebe, der Ungerechtigkeit u. s. w. Schatten oder Licht unabsehlich in die Jahre hinein; und wie nach den ältern Theologen nur die erste Sünde Adams, nicht seine andern Sünden auf uns forterbten, da wir mit einem Falle schon jeden andern Fall nachtaten: so bewegt der erste Fall und der erste Flug das ganze lange Leben. Denn in dieser Frühe tut der Unendliche das zweite Wunder; Beleben war das erste. Es wird nämlich von der menschlichen Natur der Gottmensch empfangen und geboren; so nenne man kühn jenes Selberbewußtsein, wodurch zuerst ein Ich erscheint, ein Gewissen und ein Gott – und unselig ist die Stunde, wo diese Menschwerdung keine unbefleckte Empfängnis findet, sondern wo in derselben Geburtminute der Heiland und sein Judas zusammentreffen. Man hat auf diese einzige Zeit, auf die Umgebungen und Früchte derselben noch zu wenig gemerkt. Es gibt Menschen, die sich tief bis an die Grenzstunde hinein besinnen, wo ihnen zum erstenmal das Ich plötzlich aus dem Gewölke wie eine Sonne vorbrach und wunderbar eine bestrahlte Welt aufdeckte.
Das Leben, besonders das sittliche, hat Flug, dann Sprung, dann Schritt, endlich Stand; jedes Jahr läßt sich der Mensch weniger bekehren, und einem bösen Sechziger dient weniger ein Missionär als ein Autodafé.
Was vom Herzen des innern Menschen, gilt auch vom Auge desselben. Wenn jenes wie eine alte christliche Kirche nach dem Morgen der Kindheit gerichtet sein mußte, so bekommt dieses wie ein griechischer Tempel sein größtes Licht nur durch den Eingang und von oben. Denn in Hinsicht der intellektuellen Ausbildung geht das Kind mit einer Natur entgegen, die später nicht mehr wiederkommt; diese Natur ist noch eine Winter-Wüste voll Frühlingkeime; wohin ein Strahl trifft (denn alles Lehren ist mehr Wärmen als Säen), da grünt es hervor, und der ganze kindliche Tag besteht aus heißen Schöpfungtagen. Zwei Kräfte wirken; erstlich der Kinderglaube, dieses einsaugende Vermögen, ohne welchen es keine Erziehung und Sprache gäbe, sondern das Kind einem jungen, zu spät aus dem Neste gehobnen Vogel gliche, der verhungern muß, weil er den Schnabel der fütternden Hand nicht öffnet. Aber dieser Glaube setzt, wie jeder, die Minderzahl voraus und erschlafft an der Menge der Menschen und Jahre. – Die zweite Kraft ist die Erregbarkeit. Sie steht, wie im physischen, so im geistigen Kinde, an dem leiblichen wie an dem geistigen Morgen am höchsten und nimmt mit dem Leben ab, bis endlich den aufgeriebenen Menschen nichts mehr auf der leeren Welt erregt als die künftige. Folglich setzet der Mensch, der anfangs, gleich jedem Weltkörper und seinem eignen, im flüssigen Zustande ist, seine Hauptformen am frühesten an, und später ründet er sich nur ab. Es wirke und drücke dann künftig die ganze Weltmasse mit ihren Stempeln auf den Menschen: der erkältenden Materie gehen nur matte Abdrücke ein. Unaufhörlich wirke und nage der Zeit- und Völkergeist am Kinde: anfangs sind ihm doch nur seine Erzieher Zeit und Staat. Herrnhuter, Quäker, am meisten Juden bekräftigen die Übergewalt der Erziehung über umgebende ungleichartige Zeiten und Völker; und obgleich auch in sie der alles umringende Zeit- und Viel-Geist einfloß, so ging er doch in sie geschwächter ein als in die anders erzognen Massen. Und wie auch der Zeitgeist das Herz, diese kleinere Weltkugel bewege und drehe, so behält es doch wie jede in sich kreisende Kugel zwei angeborne unbewegliche Pole fest, den guten und den bösen.
Auch rauschet nicht eben die ganze Volkmenge – wie doch mein Vorfahr zu behaupten scheint – auf den Menschen ein. Nur einzelne rühren uns im späten Leben, wie im frühesten, formend an, die Menge geht als fernes Heer vorüber. Ein Freund, ein Lehrer, eine Geliebte, ein Klub, eine Wirttafel, ein Sitzungtisch, ein Haus in unsern Zeiten sind dem Einzelwesen die einwirkende Nation und der Nationalgeist, indes die übrige Menge an ihm spurlos abgleitet. Allein wo greifen nun eben einzelne kräftiger zu und in uns als eben in den Kinderjahren? Oder wo so lange – denn lange heißet in der Erziehung, wie in der RechtlehreLongum tempus est decem annorum. Homm. prompt., zehen Jahre – als eben in dem ersten Zehend? – Auch vor dem Kinde brechen sich die Wellen des Weltmeers an vier Mauern, die sein Bildung- oder Kristallisationwasser einfassen: Vater, Mutter, Geschwister und ein paar Zu-Menschen sind seine fortbildende Welt und Form. Sogar dies alles abgerechnet, sollten wir noch bei der Erziehung berechnen, daß ihre Gewalt, wie des Zeitgeistes seine, nicht an Einzelwesen, sondern an der gedrängten Masse oder Vielheit zu messen sei, so wie nicht an der Gegenwart, sondern an der Zukunft; ein auf einerlei Weise erzognes Volk oder Jahrhundert drückt in der Waagschale ganz anders als ein flüchtiges Wesen. Aber wir verlangen, wie immer, das Schicksal oder der Zeitgeist soll uns auf unsere Frage mit umgehender Post antworten.
Auf diese Weise hab' ich nun vielleicht – ich hoff' es – meinem Gegner und Vorfahr mit einer Achtung, die im gelehrten Wesen nicht so häufig ist, als mancher Gegner eines Gegners glaubt, sowohl seine als meine Meinung gesagt. Denn das wenige, was er noch vorbringt über das Verschlungenwerden der Einzelwesen ins Ganze, verdient keine Widerlegung, sondern nur Bejahung. Die Gleichheit der Massen läßt sehr viele Ungleichheiten der Einzelwesen zu; und obgleich die Sterbelisten recht haben, so fürchtet und hofft doch jeder Einzelne nicht nach ihnen allein. Am Weltkörper verschwinden die Berge, an diesen in der Ferne der steinige Weg; wer ihn aber geht, bemerkt ihn sehr gut. Und wenn vollends der gute teuere Mann neben seinen Klagen über Unwirksamkeit der guten Erziehung doch die Klagen über Wirksamkeit der schlechten beilaufen läßt: so setzt er ja durch die Verbildsamkeit die Bildsamkeit offen voraus, und es wäre also der Erziehung kein Mangel vorzuwerfen als der Mangel an scharfen Rechentafeln über die Perturbationen (Störungen) eines laufenden Wandelsternchens durch die Umläufe der nachbarlichen Wandelsterne; gibt man denn dies aber nicht willig zu?
Und jetzo wünscht' ich zu wissen, was ich nun auf dieser ehrwürdigen Stelle noch zu sagen hätte, verehrtes Scholarchat!