Jean Paul
Levana oder Erziehlehre
Jean Paul

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Zweites Kapitel

Sprache und Schrift

§ 131

Sprache-Lernen ist etwas Höheres als Sprachen-Lernen; und alles Lob, das man den alten Sprachen als Bildungmitteln erteilt, fällt doppelt der Mutter-Sprache anheim, welche noch richtiger die Sprach-Mutter hieße; und jede neue wird nur durch Verhältnis und Ausgleichung mit der ersten verstanden, das Ur-Zeichen wird nur wieder bezeichnet; und so bildet sich die neuere Nachsprache nicht der neuen und eine der andern, sondern alle sich der ersten Vor-Sprache nach.

Nennt dem Kinde jeden Gegenstand, jede Empfindung, jede Handlung, in der Not sogar mit einem ausländischen Worte (denn für das Kind gibt es noch keines); und überhaupt gebt dem Kinde, das euern Handlungen zuschauet, da, wo es möglich, durch Beinamen aller einzelnen Handlung-Teile Klarheit und Aufmerksamkeit. Hat doch das Kind überhaupt eine solche Hörlust, daß es euch oft über eine ihm bewußte Sache nur befragt, damit es euch höre; oder daß es euch eine Geschichte erzählt, damit ihr sie ihm wiedererzählt! Durch Benennung wird das Äußere wie eine Insel erobert und vorher dazu gemacht, wie durch Namengeben Tiere bezähmt. Ohne das Zeige-Wort – den geistigen Zeigefinger, die Rand-Hand (in margine) – stehet die weite Natur vor dem Kinde wie eine Quecksilbersäule ohne Barometer-Skala (vor dem Tiere gar ohne Quecksilber-Kugel), und kein Bewegen ist zu bemerken. Die Sprache ist der feinste Linienteiler der Unendlichkeit, das Scheidewasser des Chaos, und die Wichtigkeit dieser Zerfällung zeigen die Wilden, bei denen oft ein Wort einen ganzen Satz enthält. Das Dorfkind stehet dem Stadtkinde bloß durch seine spracharme Einsamkeit nach. Dem stummen Tiere ist die Welt ein Eindruck, und es zählt aus Mangel der Zwei nicht bis zur Eins.

Alles Körperliche werde, geistig wie leiblich, zerteilt und analysiert vor dem Kinde im ersten Jahrzehend, aber nur nichts Geistiges; dieses, das nur einmal da ist, nämlich im Kinde selber, stirbt leicht ohne Auferstehung unter dem Zertrennmesser; die Körper aber kommen jeden Tag auferstanden und neugeboren zurück.

Die Muttersprache ist die unschuldigste Philosophie und Besonnenheit-Übung für Kinder. Sprecht recht viel und recht bestimmt; und haltet sie selber im gemeinen Leben zur Bestimmtheit an. Warum wollt ihr die Bildung durch Sprache erst einer ausländischen aufheben? Versucht zuweilen längere Sätze, als die kurzen Kindersätze mancher Erziehlehrer oder die zerhackten vieler französischen Schriftsteller sind; eine Undeutlichkeit, die durch ihre bloße unveränderte Wiederholung sich aufhellt, spannt und stärkt. Sogar kleine Kinder strengt zuweilen durch Widerspruch-Rätsel der Rede an, z. B.: dies hört' ich mit meinen Augen, dies ist recht schön häßlich.

Fürchtet keine Unverständlichkeit, sogar ganzer Sätze; eure Miene und euer Akzent und der ahnende Drang, zu verstehen, hellet die eine Hälfte, und mit dieser und der Zeit die andere auf. Der Akzent ist bei Kindern, wie bei den Sinesen und den Weltleuten, die halbe Sprache. – Bedenkt, daß sie ihre Sprache, so gut wie wir die griechische oder irgendeine fremde, früher verstehen als reden lernen. – Vertrauet auf die Entzifferkanzelei der Zeit und des Zusammenhangs. Ein Kind von fünf Jahren versteht die Wörter »doch, zwar, nun, hingegen, freilich«; versucht aber einmal von ihnen eine Erklärung zu geben, nicht dem Kinde, sondern dem Vater! – Im einzigen zwar steckt ein kleiner Philosoph. Wenn das achtjährige Kind mit seiner ausgebildetern Sprache vom dreijährigen verstanden wird: warum wollt ihr eure zu seinem Lallen einengen? Sprecht immer einige Jahre voraus (sprechen doch Genies in Büchern mit uns Jahrhunderte voraus); mit dem einjährigen sprecht, als sei es ein zweijähriges, mit diesem, als sei es ein sechsjähriges, da die Unterschiede des Wachstums in umgekehrtem Verhältnis der Jahre abnehmen. Bedenke doch der Erzieher, welcher überhaupt zu sehr alles Lernen den Lehren zuschreibt, daß das Kind seine halbe Welt, nämlich die geistige (z. B. die sittlichen und metaphysischen Anschau-Gegenstände) ja schon fertig und belehrt in sich trage, und daß ebendaher die nur mit körperlichen Ebenbildern gerüstete Sprache die geistigen nicht geben, bloß erleuchten könne.

Freude wie Bestimmtheit bei Sprechen mit Kindern sollte uns schon von ihrer eignen Freude und Bestimmtheit gegeben werden. Man kann von ihnen Sprache lernen, so wie durch Sprache sie lehren; kühne und doch richtige Wort-Bildungen, z. B. solche, wie ich von drei- und vierjährigen Kindern gehört: der Bierfässer, Saiter, Fläscher (der Verfertiger von Fässern, Saiten, Flaschen) – die Luftmaus (gewiß besser als unser Fledermaus) – die Musik geigt – das Licht ausscheren (wegen der Lichtschere) – dreschflegeln, drescheln – ich bin der Durchsehmann (hinter dem Fernrohr stehend) – ich wollte, ich wäre als Pfeffernüßchenesser angestellt, oder als Pfeffernüßler – am Ende werd' ich gar zu klüger – er hat mich vom Stuhle heruntergespaßt – sieh, wie Eins (auf der Uhr) es schon ist – etc.

Zur Sprechbildung gehört noch, daß man, wenigstens später, die farblosen Alltagsprechbilder zur lebendigen Anschauung zurückleite. Ein junger Mensch sagt lange: »alles über einen Leisten schlagen« oder »im Trüben fischen«, bis er endlich die Wirklichkeit, den Leisten bei dem Schuster oder das Trüb-Fischen am Ufer an einem Regentage, findet und sich ordentlich verwundert, daß dem durchsichtigen Bilde eine bestandfeste Wirklichkeit als Folie unterliegt.

Pestalozzi fängt die Zerfällung der Weltmasse in Massen, der Glieder in Gliederchen am Leibe an, weil dieser dem Kinde am nächsten, wichtigsten und reichsten vorliegt und überall mit ähnlichen Teilen wiederkommt, was bei Geräten, Bäumen nicht ist. Ein wichtiger Vorteil ist noch, daß stets zwei Exemplare davon in der Lehrstube dastehen, und daß das Kind zwischen Ich und Du, zwischen fremden sichtbaren und größern Gliedern und zwischen eignen, nur fühlbaren und kleinern hin- und herzugehen und zu vergleichen hat. Indessen will Pestalozzi nicht nur mit diesen hellen Namen-Punkten wie mit Sternen den wüsten Äther abteilen und beleuchten, sondern, indem er rückwärts das Kind die Teilchen unter den Teil, die kleinern Ganze unter das größere sammeln läßt, bildet er das Vermögen, Reihen festzuhalten, oder – wovon nachher – die Vorbildungkraft.

Fichte legt in seinen »Reden an die deutsche Nation« zu wenig Wert auf das Benennen und Abc äußerer Anschauungen oder Gegenstände und verlangt es bloß für die innern (für Empfindungen), weil dem Kinde, meint er, das Benennen der ersten nur zum Mitteilen, nicht zum bessern Ergreifen diene. Aber mich dünkt, der Mensch würde (so wie das sprachlose Tier in der äußern Welt wie in einem dunkeln betäubenden Wellen-Meere schwimmt) ebenfalls sich in den vollgestirnten Himmel der äußeren Anschauungen dumpf verlieren, wenn er das verworrene Leuchten nicht durch Sprache in Sternbilder abteilte und sich durch diese das Ganze in Teile für das Bewußtsein auflösete. Nur die Sprache illuminiert die weite einfarbige Weltkarte.

Unsere Voreltern stellten, obwohl aus pedantischen und ökonomischen Gründen, doch mit Vorteil für die geistige Gymnastik und Erregung eine sehr fremde Sprache (die italienische) unter den Erziehung-Mächten voran. Freilich bildet das Wörterbuch fremder Wörter wenig; ausgenommen insofern sich daran die eignen schärfer abschatten; aber die Grammatik – als die Logik der Zunge, als die erste Philosophie der Reflexion – entscheidet; denn sie erhebt die Zeichen der Sachen selber wieder zu Sachen und zwingt den Geist, auf sich zurückgewendet, seine eigne Geschäftigkeit des Anschauens anzuschauen, d. h. zu reflektieren; wenigstens das (Sprach-)Zeichen fester zu nehmen und es nicht, wie eine Ausrufung, in die Empfindung selber zu verschmelzen. Dem unreifen Alter wird aber dieses Zurück-Erkennen leichter durch die Grammatik einer fremden Sprache als durch die der eignen, in die Empfindung tiefer verschmolzen – daher logisch-kultivierte Völker erst an einer fremden Sprache die eigne konstruieren lernten und Cicero früher in die griechische Schule ging als in die lateinische; daher in den Jahrhunderten, wo nur die lateinische und griechische Sprache fast als Stoff des Wissens galten, die Köpfe mehr formell sich bildeten und stofflose Logik (wie die ganze scholastische Philosophie beweiset) den Menschen ausfüllte. Wenn gleichwohl Huart behauptet, daß ein guter Kopf am schwersten Grammatik erlerne: so kann er darunter, wenn er sie nicht mit dem Wörterbuche verwechselt, nur einen mehr zu Geschäften oder zu Künsten als einen zum Denken gebildeten Kopf verstehen; jeder gute Grammatiker, z. B. der grammatische hebräische Tacitus Danz, ist ein partieller Philosoph; und nur ein Philosoph würde die beste Grammatik schreiben. – So ist auch das grammatische Analysieren der alten Schulen nur im Gegenstand von Pestalozzis Schau-Reihen verschieden. – Folglich bleibt eine fremde Sprache, besonders die lateinische, unter den frühern Übungen der Denkkraft die gesündeste.

§ 132

Da das Schreiben die Zeichen der Sachen wieder bezeichnet und dadurch selber zu Sachen erhebt; so ist dasselbe ein noch engerer Isolator und Lichtsammler der Ideen als das Sprechen. Das Schlagewerk der Töne lehrt ruckweise und kurz; das Zifferblatt des Schreibens weiset unausgesetzt und feiner geteilt. Schreiben erhellt, vom Schreiben an, das der Schreibmeister lehrt, bis zu jenem, das an den Autor grenzt. Es soll nicht zu viel daraus gemacht werden, daß, wie man angemerkt, unter den Briefen der Sevigné die von ihr geschriebenen schöner ausgefallen als die diktierten, oder daß Montesquieu, der nicht selber schreiben konnte, oft drei Stunden nötig gehabt, bis ihm etwas eingefallen, woraus daher manche seine abgeschnittene Schreibart erklären wollen; aber da es gewiß ist, daß unser Vorstellen mehr ein inneres Sehen als ein inneres Hören ist und selber unsere Metaphern davon mehr auf einem Farben- als einem Ton-Klaviere spielen: so muß das vor dem Auge verharrende Schreiben weiter und länger dem Ideenschaffen dienen als der Flug des Tons. Der Gelehrte treibt es so weit, daß, wenn er nachsinnt, er eigentlich eine Druckseite herunterlieset, und wenn er spricht, andern ein kleines Deklamatorium aus einem gut und eilig geschriebenen Werkchen gibt.

Laßt mithin den Knaben noch früher eigne Gedanken aufschreiben als eure nachschreiben, damit er die schwere, klingende Münze der Töne in bequemes Papier-Geld umsetze. Nur werd' er von Schulherren mit Schreib-Texten verschont, wie sie sie zu geben pflegen – z. B. mit Lob des Fleißes, des Schreibens, der Schulherren, irgendeines alten Landherrn etc.; – kurz mit Texten, worüber der Schulherr selber nichts Bessers vorbrächte als seine Schul-Knechtchen. Gift jeder Darstellung ist eine ohne lebendigen Gegenstand und Drang. Wenn vielen genialen Männern, z. B. einem Lessing, Rousseau u. a., immer irgendein lebendiger Vorfall den Text ihrer im höhern Sinne geschaffnen Gelegenheit-Dichtung aufgab und aufdrang; wie wollt ihr vom Knaben begehren, daß er ins Himmelblau der Unbestimmtheit eintunke und damit die Himmelwölbung so male, daß die unsichtbare Dinte als Berlinerblau zuletzt erscheine? Ich begreife die Schulherren nicht. Soll denn der Mensch schon in der Kindheit über Perikopen (sonntägliche Texte) predigen, und nie sie in der Natur-Bibel selber wählen? Etwas Ähnliches gilt von den Selberträgerinnen offner Briefe (ein ungesiegelter ist schon halb ein unwahrer), zu welchen Lehrer oft in Schulen Mädchen bestellen, um sie im Epistolar-Stil zu exerzieren. An ein Nichts schreibt ein Nichts; der ganze vom Lehrer, nicht vom Herzens-Drange aufgegebene Brief wird ein Totenschein der Gedanken, ein Brandbrief des Stoffs; – dabei ists noch ein Glück, wenn eine solche aus dem Kalten ins Leere kommandierte Geschwätzigkeit das Kind nicht zu Unlauterkeit gewöhnt. Sollen Briefe vorkommen: nun so werde an einen bestimmten Menschen über eine bestimmte Wirklichkeit geschrieben. Aber warum doch diese Silberschaumschlägerei, da man unter allen Sachen – nicht einmal Zeitungen ausgenommen, politische und gelehrte – nichts so leicht schreiben lernt als Briefe, sobald Drang und Fülle der Wirklichkeit befruchtet? –

Ein Blatt schreiben regt den Bildungtrieb lebendiger auf als ein Buch lesen. Mehre Leser ausgewählter Schulbibliotheken sind schwer vermögend, eine gute und erfreuende Anzeige eines Todesfalls und das Verbitten des Beileids für das Wochenblatt aufzusetzen. Freilich sind viele Schreiber ebensowenig Redner; sie gleichen großen Kaufleuten in Amsterdam, welche statt eines Warenlagers nur eine Schreibstube haben – Gebt ihnen aber nur Zeit, so verschreiben sie die Waren. – Corneille sprach schlecht und lahm, ließ aber seine Helden desto besser reden. Haltet daher jeden Examinandus für einen stummen stammelnden Corneille; und gebt ihm ein Zimmer und eine Stunde und Feder: so wird er schon reden durch diese und sozusagen sich selber ganz gut examinieren. Ich schließe dieses Kapitel, wie jeder Indier sein Buch anfängt: gesegnet sei, wer die Schrift erfand.


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