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Jetzt ließ sich die Leichenmusik und der Konduktgesang des 14. Versikels hören, und nun war weiter nicht mehr zu passen: in meinem erotischen Siechkobel lagen zwei Kranke, die ich herstellen sollte, Alitheen vom Stammeln, den Freudenmeister vom Reden. Es war mir bei meiner pragmatischen Aufmerksamkeit in der Staatengeschichte gar nicht entgangen, womit sonst die österreichischen Erz-Herzoge leicht das Stammeln heilten – nicht durch Berühren wie die fränkischen Könige, sondern durch Küssen. Der Minutenzeiger der poetischen Zeilen lief, der Sekundenzeiger der Silben flog – kurz ich eilte und prophezeiete: »Gerade so viele (zählen Sie selber) gibt Ihnen heute noch ein Bräutigam.«
»Ja wenn der Mund wird kraftlos sein, So stimm' ich doch mit Seufzen ein.« |
Diese zwei letzten Zeilen des 14ten Versikels sucht' ich bei ihr so zu skandieren, daß ich ihnen einige poetische Härten benahm.
Dann ging ich in die Kirche – und das Fräulein von Sackenbach war gerade vom Singen aufgestanden, um vor dem Jubilar, der noch gebückt an der Kanzeltreppe betete, sich zu einem Wechsel-Bückling zuzurüsten.
Mir entfiel vorhin ein Wort vom zweiten Patienten, von mir. Ich meine nämlich ganz ernsthaft so, daß ein Mensch, der unter dem Hauptliede »O daß ich tausend Zungen hätte« den Wunsch äußert: o daß ich tausend Lippen hätte, nicht besser herzustellen ist, als wenn er letztere brauchen darf, wie er nur will. Hundertmal hätte eine hoffnungslose Liebe abgewendet oder die Verwandlung (der Anthropomorphismus) der Liebe in Freundschaft vollendet werden können, wenn die Geliebte nicht lauter verbotene Früchte, verbotene Blätter, verbotene Zweige gehabt, ich meine, wenn die Freundin dem Freunde nicht das versagt hätte, was ihm ein Freund gegeben hätte, wenn sie nicht auf Küsse und Worte einen Wert geleget hätte, der einen größern in Gefahr setzte. Aber leider versagen die meisten nur darum zu viel, weil sie entweder fürchten oder wünschen, nachher zu viel zu geben.
Ich sah, der Jubilar war auf der Kanzel so einheimisch wie in einem Großvaterstuhl, und er verrichtete darauf nur seine Hausandacht. Er legte sich unbefangen seine Kanzelbibliothek zurecht und sah unter den Galerien herum, was drinnen sei, und zog die Brille aus dem Futteral zum Lesen. Dann fing er an. Ich hatte vorausgesetzt, er werde sich nach dem Kirchenrat Seiler richten und seinen Affekt nach der Menge der anwesenden Auskultanten steigern und ihn mit jedem neuen Kopf, der nachkam, schürenSeiler sagt in seinen Grundsätzen zur Bildung künftiger Volkslehrer S. 109: je mehr Leute in der Kirche sind, desto heftiger darf der Affekt werden, worein der Volkslehrer gerät.; aber sanft hob er an, und heiter und sanft ging er weiter. Im Evangelio des 17ten Trinitatis, das vom Wassersüchtigen handelt, lag seine Proposition von der Demut des Menschen, wenn man es ein wenig enthülsete und abschälete, wie in einem Kernhaus versteckt. Ich hatte wieder fälschlich präsumiert, er werde bloß von seinem Jubel handeln: im ersten Teil vom Amtsjubel, im zweiten vom Silberjubel, im Elenchus vom Adjunktus, nachdem er vorher im Eingang den Sonnabend berühret hätte. Aber er ließ, wie gesagt, sein Ich an seinen Ort gestellt, der (nach Sömmering) der Gehirnhöhlen-Weiher für diesen Flußgott ist. Der Adjunktus saß neben der Mutter im Pfarrgitterstuhl und fing mit der Falle seiner aufgespannten Gehörknochen jedes Wort des Alten weg, nicht als Kritikus, sondern als gehorsamer Pfarr- und Beichtsohn: ich bin überzeugt, manche Predigt des Alten besserte ihn aus, ob er sie gleich beurteilen konnte. Ja da der Jubilar im zweiten Teile sich wie ich zu einem kleinen Extrablatt und Hirtenbrief entschloß und mit dem Laodizeischen Konzilium und mit Augustin gegen das unschuldige Sonntagstanzen einen geistlichen Kriegstanz machte: so bemerkt' ich nicht, daß der Sohn den Kopf geschüttelt hätte, ob er gleich in seiner Kritik der kirchlichen Liturgik nach kantischen Grundsätzen, als Waffenträger und Brautführer der Schönen, natürlicherweise auch der Vorbitter und Protektor ihrer Tänze geworden war. Auf der Kanzel nahm der Sohn seinen Vater für den heiligen Vater.
Unter dem Kanzelliede überlegt' ichs hin und her, ob ich mich gleichgültig stellen sollte und frivol als Freudenmeister Esenbeck. Anfangs schien viel dafür zu sein: ich war ein Mann aus der Residenz, und für mich schickt' es sich wenig, Religion zu zeigen. Die ersten deutschen Kirchen standen in Städten auf – daher der Name Heiden, pagani (von pagus, Dorf) herkömmt –, mithin fallen sie in jenen früher wieder ein. In NordenOlaf Dalins Geschichte des Königr. Schweden. I. 372. wurden die Fürsten und Großen früher als ihre Sassen Christen (in Süden war der Weg umgekehrt); folglich konnten jene früher reifen zum Abfall: ich gedenke nicht einmal, daß die Religion wie jedes Geschöpf keinen bessern Wohnort haben kann als seinen Geburtsort, und der ist die Wüste.Herder nennt die arabische Wüste die Geburtsstätte der drei berühmtesten Religionen. Aber genauer betrachtet, schien eben dieses ein Motiv zu sein, warum ich mich zwar nicht aufmerksam, aber ebensowenig taub anzustellen verbunden war, sondern bloß kalt. Denn der gute Ton fodert, daß man von der Religion wie von sich weder etwas Gutes noch etwas Schlimmes sage; ja man würde den Verdacht, daß man welche hege, eher bestärken als vermeiden, wenn man sie nicht mit derselben höflichen Achtsamkeit betriebe und beschauete, die man den Silber-Sponsalien des Doge mit dem polygamischen Meere oder einer fürstlichen Fußwäsche an grünen Donnerstagen widmet. So behält auch jeder Weltmann Hochzeit und Taufe bei, ob er gleich weiß, wo er seine wahre Frau und seine wahren Kinder zu suchen habe. Ich konnte mich also darauf verlassen, man werde meine Aufmerksamkeit auf den Jubilar für nichts Schlimmers als die gewöhnliche verbindliche Gleichstellung eines Weltmanns nehmen, der sich bewußt ist, über die Religion hinweg zu sein, und der also den Schein derselben nicht ängstlich meidet.
Doch darf ich hier eine sonderbare Besorgnis nicht bergen: wenn in Leipzig 1786 Schillers »Räuber« eine junge Knappschaft versuchten, sie nachzuahmen und sich mit den Spolien nach England reisefertig zu machen; – wenn in diesem England 1772 die Friedensrichter der Grafschaft Middlesex den großen Garrick baten, mit den Repräsentationen von Gays Bettler-Oper abzubrechen, weil sie neue Diebe erzöge; – wenn sogar der berühmte lüderliche Schauspieler Baron in Paris, sooft er einen Helden von Corneille gespielet hatte, sich halbe Wochen lang außerstand gesetzt sah, seinen parisischen und theatralischen Ausschweifungen vorzustehen; wenn das alles und mithin die allmächtige Reaktion des Scheins auf das Sein so unbezweifelt ist: so kann niemals, dünkt mich, ein Mann zu belachen (wohl aber zu beherzigen) sein, der Höfen und Residenzstädten die Frage vorlegt, ob sie gewiß sind, daß religiöse Anstellung nicht am Ende in Wahrheit umschlage. Ich gebe diesen Fall für nichts aus, als was er ist, für eine bloße Möglichkeit.
Aber zurück! – Jedoch noch ein Wort über diese wichtige Sache sei mir zugelassen: hängen nicht die Großen, sogar die lutherischen, gerade dem schwersten Fundamentalartikel aus dem Papismus an, nämlich dem übermäßigen Fasten? – Ja fasten sie nicht in den lichtesten Zeiten geradeso, wie mans in den schattigsten tat? Der Große im Mittelalter nämlich tat das Gelübde eines dreijährigen Fastens und erfüllte dasselbe in ebenso vielen Tagen, indem er bloß 700 Menschen statt seiner fasten ließ. Lassen nicht gerade die Großen, sogar die Fürsten, die doch genug zu essen haben, jahraus jahrein für sich fasten durchs Lumpenvolk, und ist wohl ihre Enthaltsamkeit von der übertriebnen einiger Juden, die in der ganzen Woche nur einmal, nämlich am Schabbes essen, weit entfernt, wenn sie ihre Fasten-Plenipotenziars (wozu wohl gar jene Juden mit gehören) nur am Sonntag essen lassen? –
Zurück! – Ich entschloß mich also, meine wahre Aufmerksamkeit auf den guten Jubelgreis hinter eine scheinbare zu verstecken. Übrigens blieb mir noch allemal in dem Fall, daß mich der Greis zu sichtbar rührte, nämlich bis zu Tränen, unbenommen, den Kopf auf den Arm zu legen und zu tun, als sänk' ich in Schlaf.
Gobertina würde mich des scheinbaren durch ihren wahren überhoben haben, wenn man sie in Ruhe gelassen hätte. Kaum war der Lärm des Kanzelliedes gedämpft, so kam der Wecker des Klingelbeutels in die Loge. Daher sollte man diese Personensteuer des Christenschutzes – wie es einen Judenschutz gibt – schon unter dem Hauptliede oder wie die Kalvinisten an der Kirchtüre zu erlegen haben, um nicht in der Predigt beunruhigt zu werden wie Yorick durch Stationsgelder in seiner Chaise. Kaum war dieses Wandel- und Sturmglöckchen hinaus und im dritten Kirchengeschoß, so wurden dem Fräulein, das vor Getöse die Augen kaum schließen konnte, diese wieder aufgezogen durch einen rasselnden Wagen, der durchs Dorf so heftig donnerte, daß ich dachte, der Fürst sitze darin, weil Fürsten gern alles schnell wie ihr Leben haben wollen, besonders Fahren, Referieren und Bauen. Daher ist es ein menschenfreundliches Polizeigesetz, daß in manchen Städten unter der Predigt kein Wagen das Pflaster rädern darf, weil wohl nichts eine stille Kirchenversammlung so stört als das.
Schwers stach in die hebende Schwimm- und Luftblase des Menschen, daß sie zusammenfiel und er nicht mehr stolz aufsteigen konnte. Er zeigte gut, aber sanft und warm, worauf der Mensch stolzieren könne – auf Gold und Seide so wenig als die Mine und die Raupe, die beides früher tragen – auf den umgehangnen schönen Körper ebensowenig, da ihn ein Judas oft habe und ein ChristusNach Tertullian und Klemens von Alexandrien. S. Pertschens erstes Jahrhundert. oft misse und da sich in diesem Falle die verbuttete eingesunkne Hausmutter vor ihrer blühenden Tochter neigen müßte – man könne aber auch ferner ebensowenig auf Talente wie auf Ahnen prahlen, da beide ein Neujahrsgeschenk wären, aber kein Arbeitslohn und da der Ingenienstolz (Geniestolz) so ungerecht als der Bauernstolz (der Ahnenstolz nämlich) sei – Und worauf, mußt' er natürlich weiter fragen, kann man denn sich etwas zugute tun, wenn man es auf nichts darf, was man ist, hat und wird? Darauf bloß, was man tut und will; aber ach, das ist so wenig, die Minuten des Tages oder der Woche, worin wir eine gute Tat erwählen, werden so oft vom – Sekundenweiser halbiert, daß ein Mensch, der noch seine Wünsche und seine Freuden und seine Kräfte gegen seine Taten hält, diese beschämende Rechnung gar nicht anfangen mag, sondern dem unendlichen Genius statt des goldnen Buchs bloß sein schwarzes voll eigner Schulden reichen und sagen muß: ach ich habe nichts verdient als kaum – Vergebung.
Mein innerer Mensch stand gebückt vor der schweren Wahrheit, und ich dachte gar nicht mehr an die wohltätige Fiktion meiner scherzhaften Promotion. Und dann wurde der ehrwürdige Greis immer weicher, und er kam stotternd auf den heutigen reichen Tag, der ihm alles zeigte, was er liebte und besaß, und alles belohnte, was er getan; und er sagte, obwohl nicht mit diesen Worten, aber doch dieses Inhalts: an diesem Tage, wo jedes Herz sich erhebe, sei das seinige nur erweicht, und seine Seele sei froh, aber demütig – er schaue in die 50 Jahre zurück, worin sein Lohn größer als seine Last, seine Ernte reicher als seine Saat gewesen – er schaue zurück wie von einem Grabe in die abgeernteten umliegenden Jahre hinter seinem Rücken, und er denke an die Schmerzen und Verdienste, die der Stifter des Christentums in 3 Jahren sammelte, und er blicke nieder und erröte und zähle seine nicht – Und hätt' er alle die guten Taten vollbracht, nach denen sich ein redlicher Mensch in zwei Stunden so sehr sehnet, in der einen, wo er sein Amt beginnt, und in der andern, wo ers beschließet: o Gott, so wären 50 fromme Jahre mit 50 heitern und reichen gekrönt und überwogen, das Amtsjubiläum mit dem Ehejubiläum. Und hier fiel er auf die Knie und dankte dem Geist hinter den unabsehlichen Himmeln für seine zweite Feier des Herzens, für die vielen Jahre, worin er an der sanften Hand seiner Gattin über die Hügel und Berge des Lebens gehen durfte – und für seine beglückten Kinder, zwischen deren Armen fröhlich geführet er und ihre Mutter sanft und ohne Trauer und scherzend an den bedeckten Gang unter der Erde gelangten – und für sein ganzes Leben dankte er dem Ur-Geiste strömend in Worten, strömend in Tränen und dann mit sprachloser erhabener Andacht. Und da jetzt seine errötende und zerrinnende Gattin, deren Name nie mitten in einer Predigt erschienen und die heute von allen ihren geliebten Menschen und von allen ihren seligsten Erinnerungen umgeben war, gleichsam unter dem letzten, zu schweren Freudenhimmel, den das alte Herz nicht tragen konnte, zusammensank – und da alle ihre Kinder und am heftigsten ihr geliebter Ingenuin große Tränen vergossen – und da die kleinen Enkel in unschuldigem Mißverständnis die Rührung ihrer Eltern so teilten wie einen Schmerz – und da die Beichtkinder, ungewohnt, ihren alten Lehrer über sich selber in Tränen zu sehen, und beklommen, weil sie einen lauten Dank in ihrer Brust verschließen mußten, einen ebenso innigen Anteil am Feste seiner Liebe nahmen als am Feste seines Amts – und da der Greis, von fremden Herzen und von der eignen Rührung überwunden, womit der Mensch jedes Fest begeht, das er zugleich zum ersten und zum letzten Male feiert, da er seine Augen zu seinen beiden über den engen tiefen Himmel der Erde erhobenen Töchtern aufrichtete, deren verklärte durchsichtige Schwingen die Flügeldecken aus harter Erde abgeworfen hatten in zwei nahe Gräber der Kirche, und da er, gebückt vor der Hoheit der Toten, sie anredete: »Seligen Kinder, kennt ihr eure Eltern noch, sehet ihr von euern Höhen unserer Feier zu? Aber bloß eine Minute steht zwischen uns und euch, und dann feiern wir alle nur ein einziges Fest und ein unaufhörliches« – – – : o wie groß standen dann die Wünsche und Bilder der unsterblichen Welt vor jedem weinenden Auge und wie klein die Qualen und Freuden der sterblichen! Jedes Auge hatte Tränen, jede Brust hatte ein Herz, und jeder Geist hatte Flügel, und unter so vielen hundert Augen war keines so verwelkt und ausgetrocknet, aus dem nicht die heiße Quelle der Rührung aufgestiegen wäre als sanfter warmer Regen für die nächsten Blumen und für jeden bessern Keim.