Jean Paul
Der Jubelsenior
Jean Paul

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Endlich fing die bunte Reihe den frohen Kirchgang an. Ich sah mich unter dem Ziehen draußen vergeblich nach dem ausgehenkten Gliede, das aus dieser beglückten Wesenkette fehlte, um, nach Alithea – und ich sah die Zurückbleibende einen Schritt vom Fenster mit freudigen Augen, deren rinnende Tränen sie zu trocknen vergaß, und mit zusammengelegten, gleichsam zum Gebete für alle Geliebte gefalteten Händen stehen, und als das Geläute anfing, wurde ihr der Schmerz oder die Freude zu schwer, und sie wandte sich um.

Auf dem Turme wurden alle Glocken und auf dem Chore alle Orgelregister gezogen – und aus dem Schalloch zielte und schauete Scheinfuß als Hornist mit einem Parforcehorn in die heraufsteigende Sonne hinein (er wollte vergeblich unter dem Blasen niedersehen), und innen neben dem Glockenstuhl rührte zu seinen Füßen sein Ripienist eine schwache Pauke. Die geputzten Enkel kamen zuerst, dann die Kinder mit ihren Vermählten und dann Vater und Mutter, und die zwei Hinterräder wurden von dem Freudenmeister und dem alten Fräulein formiert, und beide machten als das einzige Zölibats-Paar einen erbärmlichen Absatz. Mehrere Beichtkinder gingen in einiger Entfernung gleichen Schrittes mit den ordentlichen Kindern; aber die meisten hatten sich am Kirchentore angelegt und angehäuft, und das rote Meer lief auseinander, um den Kindern dieses Israels den Durchgang zu lassen: das hohe unvermählte Paar sah wie der nachsetzende Pharao aus. Ich habe meine guten Gründe, anzuführen, daß ich unter der Jubelpforte einen scharfen Blick auf die gedruckte Liedertafel tat und daß ich auf dem einblätterigen Register den stählernen, wie an ein Abcbuch gebundnen Griffel, den spitzen Zeigefinger des jedesmaligen Liedes, heute in dem bekannten »O daß ich tausend Zungen hätte« eingestochen sah, ein langer Gesang von 15 langen Strophen.

In Sackenbachs Kirchenloge war sowohl aus Höflichkeit geheizt als des Septembers wegen, über den die Römer wie über eine zweite Venus den Vulkan zum Herrn erhoben. Unter den Vorerinnerungs- und Initialliedern und Ermahnungen macht' ich imgeheim den Flachsenfinger Esenbeck und Amanden lächerlich und mehr als einen Hof. Indes der mittlere und niedere Stand die Surpluskasse, die Verlagskasse der Menschheit ist, gleichsam das Schiffswerft des politischen Schiffs: so ist der obere die wüste Region, der Brachacker der Menschheit und weiset wenig andere Kinder auf als moralische im Handeln oder physische aus Alter. Doch ist es billig, auf der andern Seite auch einzuräumen, daß ein Hof einem schönen englischen Garten, worin keine Bäume gelitten werden, die etwas tragen, näher komme als einer vollen Kernschule; und daß überhaupt die Menschen den Birnen gleichen, von denen die Obstgärtner bemerken, daß gerade die Kerne der feinsten nicht aufgehen, aber die der Holzbirnen gern.

Die betende Alithea kam nicht aus meinem Kopfe und zum Unglück nicht in die Kirche, oder vielmehr zum Glück. Ich schäme mich nicht, es zu berichten, daß ich aus der Kirche hinauswollte – und es auch tat –, um mit der Guten ein vernünftiges einsames Wort zu reden. Es war mir freilich so gut bekannt als einem, daß nicht nur das 24. Kapitel des vierten karthagischen KonziliumsSeml. Sel. capita. jeden in den Bann tat, der unter der Predigt herausläuft, sondern auch der Pfarrer, der sie hält. Aber ich konnte auch von den Karthagern und den Predigern fodern, daß sie Vernunft annehmen und bekennen, etwas ganz anders sei es, wenn einer nur aus dem Hauptlied läuft, um vor dem Kanzellied wieder da zu sein. Und das war mein Fall. Das Lied »O daß ich tausend Zungen hätte« war lang, wenn mans durchlas, geschweige durchsang.

Es war ohnehin vorauszusehen, da Scheinfuß jede Strophe um einen Ton höher anstimmte, daß man sich mit diesem crescendo wie Gläser auseinanderschreien müsse. Da es noch dazu keinen ersten oder zweiten Sänger gibt, der nicht besser singt als ich, der gleich dem Papagei mehr ein Sprach- als Sangvogel ist, und da ich überhaupt nicht so lange über eine Zeile denken kann, als man an ihr singt (daher les' ich allezeit das Lied aufmerksam voraus durch und höre still der unverständlichen Gemeinde zu): so marschiert' ich frei aus der Loge ins Pfarrhaus und wollte als Paraklet mein Trostamt antreten.

Alithea hatte durch die offnen Fenster eine stete Kommunikation mit der kirchlichen Singschule unterhalten, um leise einzufallen. Ich fiel auch ein, aber ins Haus. Ich sagt' ihr sogleich (vor Schrecken arbeitete sie fort und stark), ihre Augen voll Tränen, die ich unter der Prozession gesehen, hätten mich hergebracht, weil ich wüßte, ich könnte ihr unter dem Hauptliede einige davon nehmen und trocknen. »Christus hat«, sagt' ich, »(nach Robert Holkoth) in seinem Leben siebenmal geweint; ich weiß leider, daß Sie es in einer Woche ebensooft getan, an jedem Tage einmal. Aber Fräulein von Sackenbach hat sich Ihrer angenommen, und Sie haben große Freunde in der Residenz, wovon hier einer zu stehen die Ehre hat.« Ich hätte mein negligé raffiné darum gegeben, hätt' ich ihr zersprungnes Herz aus dem Briefschwerer und Preßbengel der drückenden Vexier-Vokation mit der Nachricht der wahren ziehen dürfen; aber der Fürst litt es ja nicht. Etwas tat ich doch. Ich bat sie, mir zuzutrauen, daß ich auf Träume wenig hielte, und mich nicht für abergläubig anzusehen, wenn ich meinen Traum in der vorigen Nacht nicht ganz verwürfe. »Es träumte mir,« sagt' ich, »die heiligen drei Könige wären ins Pfarrhaus gekommen und hätten Gold hingelegt und Hochzeitmusik aufgespielt und gesungen: › Sie darf nicht fort, sie soll nicht fort.‹ Auf solche Nachtwinde der Seele gibt sonst wohl niemand weniger acht wie ich; aber das werden Sie, Mademoiselle, so gut wissen wie ich, daß alles, was man in einem Hause träumt, worin man das erstemal schläft, wunderbar eintrifft.« – Vor großen Entscheidungen des Verhängnisses ergreift alle Menschen der Aberglaube: ich ersuchte sie um ihre Hand zu einer kleinen chiromantischen Visitation und Übersicht. Ich schlug die linke aus und bestand auf der größern – das ist die rechte bei Leuten, die damit an größern Tischen arbeiten als an Spieltischen –, weil ich alle Züge, woraus etwas zu nehmen wäre, sagt' ich, lieber mikroskopisch und entwickelt studierte. Ich hatte nicht lange in die hohle Hand und deren prophetische Handzeichnung geschauet, als ich Alitheen mein Erstaunen über diesen Fingerkalender der Zukunft, über diese auf der Chaussee des Lebens Weg-weisende Hand nicht recht mehr verhehlen konnte. »Gut,« (sagt' ich vor mir hin unter dem Examen und Tentamen) »der Berg Jovis, der Berg Veneris und selber Mercurii haben ihre Höhe – aber wahrhaftig Ehrenlinien von dieser Länge kamen mir selten vor, Ihre läuft über den Ballen heraus – und gerade so lang ist allezeit bei Mädchen die Glückslinie.« Ich schüttelte freudig den Kopf und hielt ihr meine Hand hin, damit sie darin meine elende kurze Wolle von Glücks- und Ehrenlinien vergliche mit ihrer langen: »Bloß die Lebenslinie« (setzt' ich dazu) »zieht sich auf meiner Rechten ungemein weit aus; das kann aber ebensogut bloß die Schriften, die ich damit mache, als mich selber bedeuten.« Ich sah nach ihrer Heiratslinie: »Sie haben sich heute verlobt?« fragt' ich. Sie schüttelte. »Unmöglich« (sagt' ich) – »die 12 himmlischen Interpunktionszeichen der Hand setzen hier recht deutlich die Verlobung auf den 18ten September, und den haben wir.« Sie beteuerte Nein. »Nun,« (sagt' ich kalt) »er ist noch nicht vorbei; denn der Verlobung entkommen Sie wohl heute nicht.«

»Ich kann es gleich heraushaben«, fuhr ich fort und ersuchte sie, den Ring, den ihr bekanntlich der Verfasser der Pseudo-Evangelien und –Vokationen gemauset, an ihre rechte Hand zu stecken. Darauf zog ich sogenannte chiromantische Temperamentsblätter hervor, die, wie bekannt, das Temperament dessen, in dessen Hand sie liegen, durch Aufrollen bezeichnen; je feuriger er ist, desto mehr krümmt sich das Blatt. »Ein solches Zauberblatt, Mademoiselle,« sagt' ich, »ringelt sich immer mehr zusammen, je mehr die Hand, worein man es breitet, sich bald verloben und beringen will.« Ich legt' es vorher in meine halb erfrorne: das Blatt warf sich kaum so krumm, als ihre Augenbraunen waren; »ich werde noch«, sagt' ich, »zu passen haben auf ein hohes Beilager.« Ich drückte das sibyllinische Blatt in ihre von der Arbeit geheizte Hand: es rollte sich wie Rolltaft oder eine Schlange zusammen. »So sah' ichs noch nie zusammenfahren«, sagt' ich – »es stehen Ihnen heute die wichtigsten Dinge bevor, aber äußerst liebe und traute.« Ihre Augenwimpern waren ohnehin von jeher Saussuresche Feuchtigkeitsmesser aus Haaren; auch die Sonne des Glücks und der Freude zog bei ihr Wasser, und dieses Morgenrot und der vorige Nebel mußten in warme Tropfen zerrinnen.

Sie war nur vom heutigen Tage übermannt: sonst hätte sie alle meine Weissagungen mit einem kalten Schweigen bestritten. Ihre Seele und ihre Zunge glichen der hebräischen Sprache, in der nicht einmal ein unreines Wort vorhanden ist – Theodosia war, was in Nürnberg ein Patrizius ist, die Kronenhüterin der Reichskleinodien ihrer Seele –; sie war gegen alle Menschen weich, und ihre Armenbüchse hatte statt der engen Bresche eine offne Türe, und sie hätte gern (das sah ich heute unter dem Liede) dem bleichen Handwerkspurschen nicht bloß die Almosenkasse, sondern auch die Almosenbüchse dazu gegeben und ihm den Opferstock geopfert; – nur hatte sie den einzigen Fehler, daß ihr nicht alles zu glauben war; sie brauchte vor dem andern nichts lieber als einen Schleier, einen Räuchopferaltar und ein Hörrohr. Die Mädchen halten die Lebens-Partie oder den bal paré und déparé des Lebens für eine Freiredoute und gehen, wenn nicht in einer masque en chauve-souris oder in einer noble masque, doch mit einer auf dem Hute oder am Ärmel herum und schreiben einem oft kein wahres Wort – in die Hand. Sie war indessen (wie es meistens ist) ebenso sanft als – falsch nicht sowohl als wie scheu. Sie trauete meinem Temperamentsblatt mehr wie meinem Gesicht, und meinen Weissagungen mehr als meinen Schwüren. Denn ich leistete einige der letztern ab, daß es ihr wohl gehen werde und daß mir das von Herzen lieb sein würde.

Es kann nicht mit Stillschweigen übergangen werden, daß das Liederbuch aufgeschlagen auf der Fensterbrüstung lag und daß ich von Zeit zu Zeit wie auf ein Zifferblatt hinsah, um zu wissen, wie weit sie drinnen dieses hohe Lied für mich, dieses canticum canticorum, schon herabgesungen hätten. Vom Mandel Verse war schon die Halbscheid fort – beim 15ten mußt' ich wieder in der Loge stehen, weil der Jubelsenior die Kanzel heraufkam und sich gegen die Herrschafts-Empor verbeugte – ich hätte gewünscht, der Liederdichter hätte diesem Gelegenheitsgedicht die mäßige Länge eines Heldengedichts erteilt.

Wie gesagt, ich tat Haupteide, sie werde heute noch jubilieren: ich unterstützte alles noch mit einigen Vernunftschlüssen in Festino und Ferison und gab ihr zuletzt ohne Bedenken mein Wort, ich harrete so lange in Neulandpreis aus, bis ich sie glücklich sähe statt reisefertig, und beteuerte, ich bliebe, um zu beweisen, daß sie nicht ginge.

Die Neulandpreiser singen sich offenbar wie erfrorne Kurrentschüler oder laufende Leichensänger mit solchen kursorischen Galoppaden durch ihre Hauptlieder, daß sie jetzt schon – denn ich ließ mein Opernbüchelchen nicht aus den Augen während meiner hohen Oper – den 12. Versikel anstimmten. Der 15te zog mich, wie ein alter Zaubergesang den Mond, aus meinem Himmel herab:

Mit ihren langen Augenwimpern zog sie mich gefänglich ein wie ein Federbuschpolype seinen Wurm: ich wurde von diesen schwarzen Spitzen durchschossen, sooft sie zuckten, es waren Froschschnepper für mich. Dea war erstlich ungemein hübsch, und zweitens sah ich sie nie mehr allein unter einem Hauptlied: das war ebenso klar.

Meine Sing- und Konzertuhr im Tempel drüben schlug 13, nämlich den 13ten Vers. »Verdammt!« sagt' ich halb laut. Sie sah mich an. »Schön, verdammt schön! mein ich,« (sagt' ich) »ich singe ihnen drüben innerlich nach, jetzt haben sie den Leibvers.«

»Drum reiß' ich mich jetzt aus der Höhle.«

Ach mein tausendjähriges Reich, d. h. mein tausendaugenblickliches, stand noch auf den schwachen zwei Füßen von zwei Versikeln, und dann war der hohe Fest- und Pfingst-Sonntag in einen matten Fastensonntag umgesetzt. Ich drückte ihre Hand und sagte eilig: »sie solle nur die größten Beweise meines Anteils und der Wahrhaftigkeit, die sich daraus ergibt, abfodern; ich wäre erbötig.« Sie stotterte und sagte: »sie wüßte gar nicht, womit....«; sie wollte gar hinaussagen: womit ihre Wenigkeit eine solche kosmopolitische Menschenliebe von einem Flachsenfinger Herrn und maitre de plaisirs verdienet hätte. Aber ihr mangelte Diktion.


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