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Ich kann es den Lesern nicht beschreiben, mit welchem Freuden-Fieber ich endlich hinter Amandas Wünsche kam. Mit einer gefährlichen Fröhlichkeit schwur ich ihr, jedes Blatt werd' ihr in acht Tagen geschickt – die Esenbecks wären überhaupt lüderliche Menschen, sie mischten Papiere wie Karten und Lose, und sie wären Freimäuerer am babylonischen Turm, wenn nicht ein solcher Fuchsturm selber – die Familie hätte, setzt' ich dazu, wie der lüderliche Richelieu noch ein halbes Felleisen unaufgebrochener Briefe, gerade als wär' ein Esenbeck ein Minister, der alle einlaufende Briefe erbricht, die ausgenommen, die an ihn selber adressieret sind. –
Ich gab mein heiliges Ehrenwort, ihre Briefe an mich ihr zurückzuliefern, wenn sie mir meine zustelle. Sie schwankte, aber sie entschloß sich dazu, nach einem sonderbaren Mortifikationsschein, den ich über das Dagewesensein meiner Briefe anbot und wirklich nachließ, den ich aber hier abdrucken zu lassen bloß aus Furcht anstehe, man lache. Ich mußte mich aber gewaltsam in den Besitz der Esenbeckschen Expektanzdekrete setzen, um den Flachsenfinger zu bezwingen; das erotische Haberrohr, die Schäferpfeife, die ich vom Flachsenfinger in Händen hatte, konnt' ich ihm als eine zweite Famas-Trompete, als eine Spitzbuben- und Komödienpfeife auf dem Parterre seines Liebhabertheaters vorhalten und zu ihm sagen: »Herr! wie Sie wollen: entweder Sie geben die Sackenbachischen Briefe heraus – oder ich promulgiere die Esenbeckischen, und dann soll der Teufel Ihren Namen holen.« In den Sprachzimmern der großen Welt ist, wie in den Hörsälen einiger Philosophen, das Lachen das Zeichen, man sei ein Mensch – und wer verlacht werde, der sei keiner. »Esenbeck muß, das weiß ich«, sagt' ich.
Jede Leserin von einigem Mitleiden, die nicht gern einer Gartenspinne das zitternde Bein abnimmt, kann sich jetzt meine Qualen und Amandas ihre denken, die ich dadurch vermied, daß ich ihr nicht heraussagte, wer ich war – beim Namen Jean Paul wäre sie in Ohnmacht gefallen und dann ich.
Sie sagte mir nun vertrauter, welcher Grabstein von ihrem wundgedrückten beerdigten Herzen abgewälzet sei – wie sie nun weniger fürchte, daß ihr Ruf das Schicksal eines flatternden Blättchen teile – und daß sie nun leichter die irrigen Fußstapfen ihrer Jugend teils zurücktue, teils vermische. Jetzt war ich ein ganz anderer Mensch, und deswegen schien sie mir auch ein ganz anderer zu sein: so sehr ist unser Urteil über fremden Wert das heimliche natürliche Kind des Verhältnisses, worin der unsrige mit ihm steht. Seitdem ich gewisser war, daß ich sie nicht mehr heiraten mußte, bracht' ich vieles Gute, was sie hatte, leicht heraus, und die jungen Kiele, die ich vorher angefühlet und für solche erkannt hatte, womit der Amor die Flügel der Psyche bekielt, wuchsen offenbar, als ich dem Fittich weiter nachgriff, aus der Schwinge eines Engels und versprachen viel. Es kann doch wahrlich nicht für gar nichts gerechnet werden, daß sie dem Beichtvater und seinen Beichtkindern -und noch dazu mit einer Freundlichkeit, die ich noch sehe – ihr Schloß als ein Leihhaus aller Möbeln auftat; ferner, was ich noch gar nicht gesagt, daß sie der Köchin gern alle Hasenbälge und alle Aschen-Krüge des Ofens von jeher ließ als Gnadenholzasche und Gnadenbälge, und daß bisher kein Mensch im ganzen Dorf sich an die Arabesken und ZerrbilderZerrbild ist die Campische Version von Karikatur. Kein Schriftsteller wird die Campischen unverständlichen Verdeutschungen verständlicher Termen öfter gebrauchen als ich, weil ich die Termen behalten und die Verdeutschungen auch annehmen will. Man hat kaum Halbfarben und Halbtöne genug; ich empfange also mit Freuden neue Viertelsfarben und Viertelstöne. Allerdings werd' ich noch einen niedrigen stechenden kaltblütigen Menschen mit einer Herzkammer ein »Insekt« nennen, ob es gleich Campe verbeut; aber ich werd' auch gern, wenn ich die Mitteltinte einzumalen habe, daß dieser Mensch viel Schulden oder Sünden auf dem Kerbholz hat oder daß er selber ein Bruch der Natur ist, mit Campe verdeutschen und schreiben: Kerbtier; man passe auf! und Phantasieblumen ihrer Affektation versehrte und stieß als ein einziger Falschmünzer, der sie mehr täuschte als sie ihn (ich nenn' ihn nicht) und der ihre Gefallsucht für Eroberungssucht, ihre Revue für eine Winterkampagne nahm. Eine Bemerkung, womit ich alles dieses noch bewähre, ist sehr treffend, die: daß ich das unausstehliche gezierte Wesen, das oft bloßen Novizen und Inzipienten der Bildung und Leuten auf dem Lande und in der Einsamkeit beiwohnt (indes Geselligkeit nur konvenienzmäßige, nicht persönliche Ziererei verstattet), immer am Ende so abscheulich nicht gefunden habe als am Anfange: der aufgelaufene Schaum eines lang verpetschierten Getränkes kroch bald zusammen, und ich hatte das beste Kordial vor mir stehen. Affektation wohnt hundertmal nur auf der körperlichen Rinde (als Nachlaß schlechter Erziehung, schlechter Muster etc.), und nicht im geistigen Mark, und dieser Wurm naget an den Menschen wie der an Erbsen wenigstens den Keim nicht entzwei; daher beide, wenn nicht zum Genießen, doch zum Treiben guter Früchte taugen.
Ich komme zur Geschichte. Amanda spielte und sang alte rührende Sachen, ich hörte rührend zu. Auch sann ich mir unter den Liedermelodien hingeworfne Lobreden auf die häufigen Blutreinigungen ihrer Zimmer aus und auf ihre ganze weibliche Humoralpathologie des Hauswesens: denn alte Jungfrauen heiraten die Ordnung, alte Jung- und Altgesellen die Lüderlichkeit; jene sind ein ewiges Fegefeuer, Fegewasser, Fegeelement, diese machen eines nötig. Ich verhalt' es nicht, ich wollte die Wunde meines Gewissens vergeblich mit Schlußketten vernähen, oder doch – wie man Hautwunden mit Spinnengewebe stopft – das Bluten mit dem Spinnengewebe des Trostes stillen, daß Amanda ja morgen bloß durch mich den unschätzbaren Anblick des Fürsten und später die Briefe erringe. Besser würd' es mir zugeschlagen haben, hätt' ich mit der Liebe herausgehen dürfen, die ich eben empfand; aber ich konnte damit neues Unheil anstiften. Das Singstück – worin, wie gewöhnlich, der Komponist und der Dichter sich wie Eheleute, ohne einander zu kennen, verbunden hatten und zankend nebeneinander hantierten – griff mich am meisten an, weil ich zu Amandens verjüngten Mädchenbilde an der Wand hinaufsah und mir vorstellte, das Porträt singe. Indem ich zwischen dem jugendlichen und zwischen dem veralteten Gesicht hin- und hersah, so war mir, als verglich' ich die Freude mit dem Gram, als richtete ich in einem Dezember ohne Schnee den Blick vom reinen blauen Himmel des Frühlings wieder auf die leere erstorbene zerrüttete Wintererde. War denn nicht der frische Pastellstaub, den die Kunst auf den Papillonsflügel des Kindes fixieret hatte, unter den groben rauhen Griffen des Lebens von den nackten kalten Flughäuten abgerieben? – O wenn vor der Mutter dieser umsinkenden Tochter (dacht' ich, als ihr Lied verwelkte entblätterte Tage betrauerte) vormals gerade in der Stunde, wo sie das lachende gleißende Bild ihres Kindes bewegt anblickte und seine lichten Augen, die zugleich genossen und hofften, und den geröteten, an warmen Freudenstrahlen gereiften Mund und diesen ganzen kleinen Planiglob einer frohen Schäferwelt, wenn dann vor der träumenden Mutter ein böser Genius schnell diese dunkle verlassene Gestalt, dieses von den Blattminierern der Sorgen ausgesogene und gerollte Gesicht vorbeigezogen hätte und wenn ihr neben den Blumenstücken ihrer mütterlichen Hoffnungen dieses Blätterskelett und diese Bildernaht ungezählter Schmerzensstiche erschienen wäre: o wie heftig würde sie jede männliche Faust, die die fressenden Giftfarben zu diesem Bilde rieb, zurückgeworfen und das unschuldige lächelnde Kind an sich genommen und gesprochen haben: »Sei fröhlich, sei fröhlich, Tochter, solange du noch bei mir bist: ach du Arme bist nur in der Kindheit glücklich.«
Wenn ich neben Menschen stehe, deren Erinnerung von ihrem Garten des Lebens ein sinesischer Garten mit zu vielen düstern Partien, voll Pfeiler mit Trauergeschichten beschrieben, voll Eulen und voll Zypressenwälder ist, dann phantasier' ich mich in ihre Phantasien und bringe ins Gemälde ein Gemälde, ins Schauspiel ein Schauspiel – und dann, wenn schon die eigne Vergangenheit mit einem erweichenden Mondlicht über den Hintergrund der Seele aufgeht, so wirft die fremde noch bleichere und trübere Strahlen und ist eine von der Wasserfläche wiederholte, tief unten schimmernde Mondnacht. – –
Jetzt aber konnt' ich den Pinsel, womit ich bisher der Getäuschten die vorigen Trugbilder ausmalte, nicht mehr in Händen halten: ich schied für heute und sagte ihr, da noch dazu der Kapuziner seine Nachtmütze über sich gezogen hätteEine bekannte Art Wettermännchen, die ihre Kapuze über den Kopf ziehen, eh' es regnen will., so wollt' ich noch, ehe der Himmel sich wie dieser bedeckte, ihn genießen und früher in das Dorf als in das Bette gehen.
Das kühle Souterrain des Tages, die entglimmende Eisgrube der Nacht umzingelte mich mit ihren schwankenden Zaubergestalten, und das Sphären-Euphon der gestirnten Natur wurde über mir gespielt; aber das dissonierende Intervall der Reue über meine heutigen Täuschungen verschmolz kein Leitton mit der großen Harmonie. Endlich vernahm ich auch außerhalb meiner Phantasien einen vielstimmigen Gesang. Er zog und führte mich, und ich ließ mich gern von ihm an das mit Fensterläden versperrte Pfarrhaus bringen, worin die sanfte musikalische Akademie ihre Sitzung hatte. Durch die leuchtende Ladenfuge konnt' ich die ganze, um einen Tisch gehaltene Singschule von Eltern und Kindern und Enkeln besehen und prüfen. Mein Blick reichte sogar bis in die offengelassene Gesindestube hinein, worin die leis' nachsingende Alithea, gleichsam abgetrennt und noch nicht auf die Familie gepelzt, einsam die Falltüre eines Bettisches aufhob, der wie unsere Erde zugleich den Schlaf und die Speise trug. Ich konnte leicht bemerken, daß ihre Lippen so schwarz wie ihre Augen waren, da sie einen Brei von schwarzen Beeren wie Pillen erst kurz vor dem Bettegehen genommen hatte, weil sie anstand, am Tage mit verkohlten Lippen herumzulaufen. Alles war, so spät, noch an ihr nett und glatt, sogar der Sonnenweiser ihres Halstuchs-Triangels zeigte noch gerade auf das Rückgrat nieder.
Am Tische nahm ich die drei Professionisten und hinter ihnen die über ihre Achseln ins Gesangbuch schielenden Weiber und oben den Adjunktus wahr, der seiner gebückten Mutter, die für ihn noch so spät ein heute von einem Brautpaar dieser Woche verehrtes Schnupftuch einsäumte, den Zwirn durch das unsichtbare Öhr einfädelte. Den betenden musikalischen Familienzirkel durchbrachen die kleinen, auf den wiegenden Knien entschlummerten und an Eltern-Herzen gesunknen Kinder, wie unter der lauten Kirchengemeinde die taubstummen Toten liegen und schlafen. Der Greis aber saß mit dem unverhüllten Silberkopf allein in einem dunkeln Winkel und sang die Danklieder auswendig – denn über seine Augen begann schon der Schleier des Todes vorzufallen, so wie man zum tötenden Boa-Upas-Baum mit zugehüllten Augen geht. Sein Haupt bog sich nicht, sein Blick senkte sich nicht, als er täglich tiefer in die Minotaurus-Höhle des Alters hineinging, in der der Schwertstreich des Todes ihn suchte im Finstern: sondern er streckte nur liebend seine Hand zurück, um seine treue alte Gefährtin nicht zu verlassen und zu verlieren, und aus der reichen Erde wollt' er nichts mehr behalten als ihre bekannte teuere Hand. Aber sein ungetrübter fortglänzender Geist trug ihm wie einem ReisendenIn erhabenen Gegenden nehmen einige Reisende Spiegel, um die Reize der zurückgelegten Bahn zum zweiten Mal vor das fliehende Auge zu bringen. in den nächtlichen Höhlen einen Spiegel vom ganzen langen durchgangnen, mit Auen und Ernten, mit Blumen und Ähren durchschnittenen Leben vor. Nur Theodosia schien sich mit lauter schweren tauben eingeschlafenen Gliedern auf das letzte Lager zu begeben; aber ihr heißes Herz war wach: o in diesem Herzen – das sagte ihr Auge – hatten viele Abrisse der idealischen Welt und dreischneidige Schmerzen und hohe Wünsche gewohnt, die viel zu edel waren, um einzutreffen. Ach als ich dieses beruhigte Paar, das ohne Ängstlichkeit das Glöckchen zur Torsperre des Lebens ziehen hörte, weil es wußte, daß über den zwei Höhlen seines in Holz gefaßten Erdenstaubes ein weiter, von ihm gesäeter, lebendiger Menschengarten sich grünend ausbreite, als ich diese zwei Nach-Schöpfer des verhüllten Ur-Schöpfers mit der vergessenen, einsam aussterbenden Amanda drüben verglich: so kam mir die stille Verarmte noch ärmer, ihre Räuber noch härter und alle ihre Wunden geöffnet vor, und meinen optischen Betrug, der mich stärker verklagte, löschte die verdienstliche Hoffnung nicht aus, morgen aus dem Freudenhimmel der heitern Familie um mich die letzte Wolke zu treiben.
Die Dankgesänge beschlossen – der Mond, der wie ein Mensch die ersten und die letzten Grade seiner Laufbahn schneller durchläuft, glänzte schon weiß und rein auf den scharfen Dächern – die Menschen waren ausgelöscht wie ihre Lichter – die Arme drüben, die noch niemand als sich unglücklich gemacht hatte, schloß ihr Fenster zu, und der Schein ihres Zimmers verging, und sie selber, die wahrscheinlich einer fremden Freude nachgesungen hatte, fiel schweigend an die sanfteste Lage ihres Lebens zurück – und da mir vorkam, als fiele ihr Leben, das aufgegangen war wie ein Tempel, über ihr zu wie ein Sarg: so ging ich traurig in ihr dunkles Schloß zurück.