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Uruguaystrom

 

14. Mai

Der Tag ist noch nicht durchgebrochen, als ich aufstehe. Mein erster Blick ist in den Himmel. Wolken röten sich an der steigenden Sonne, während ich zum Tanzsaal hinübergehe, in dem die anderen schlafen. Er ist noch geschlossen. Ich steige durch ein Fenster ein. Alle schlafen noch. Mein Gepäck liegt hinten in einem Winkel. Ich richte mir einiges, denn ich werde es heute durchsetzen, daß ich an den Uruguay komme. Ich werde den beiden Chauffeuren vorschlagen, sie sollen beide mit, aber nur in einem Wagen. Wenn der Weg dann Schwierigkeiten macht, sind wir zu dritt. Davon sind zwei Leute vom Fach. Ich werde ihnen sagen, daß, gelingt die Reise, sie die ersten Menschen sind, die mit ihrem Auto den Uruguay, den großen, glanzvollen Strom erreicht haben.

Ach, alles ist nur ein Gleichnis. Es besitzt die Wahrheit und die Kraft, die wir hineinlegen.

Der Tag steigt. Ungeduld und Unruhe spielen mit mir Fangball. Die Chauffeure waren gestern Nacht nach 14 de Julho gefahren und sind bis jetzt nicht zurückgekommen. Es ist Tanz dort gewesen. Weshalb haben sie es nicht gesagt? Ich wäre mitgefahren. Jetzt strömen die Zweifel: Kommen sie überhaupt zurück und wann werden sie kommen?

Um elf Uhr waren sie noch nicht da. Die Kameraden bereiten sich zum Abmarsch auf die Jagd vor. Ein Jäger ist schon da mit zwei Hunden. Der andere erwartet sie am Rio São Christo, wo die Jagd beginnen soll. Der Himmel, mein Bundesgenosse, macht mir durchaus kein günstiges Gesicht. Die Straßen sind nach dem Regen schon ein wenig aufgetrocknet. Aber ich weiß, wenn es zwei Stunden regnet, sind sie wieder ohne Grund. Ich habe es gestern und vorgestern gesehen. Es wird einen Kampf mit den Chauffeuren geben, um sie an das Unternehmen heranzubekommen. Wenn die guten Wege hier schon so schwer befahrbar sind, wie werden sie in einer unbewohnten Gegend aussehen?! … Und gibt es überhaupt Wege dort? Und hat jemand ihnen gesagt, wie wir fahren sollen und wie weit es ist? Und eine Landkarte besteht auch nicht … das werden sie mir sagen. Und sie werden mir entgegenhalten, daß, wenn wir schon hinkommen, und dann der Regen einfällt, wir unterwegs in der Wildnis stecken bleiben. Es kann wochenlang regnen, so wie bis vorgestern die Sonne einundzwanzig Tage geschienen hat.

Wir wollen denn los zur Jagd! sagte einer der Kameraden.

Aber ich antwortete:

Ich gehe nicht mit. Ich habe mich nie dafür interessiert, wie Tiere sterben, sondern wie sie leben. Ich fahre an den Uruguay.

Betroffene Gesichter. Aber es war zu spät. Die Chauffeure kamen. Es war halb eins. Sie mußten die andern auf einmal noch zuerst an den Jagdplatz bringen. Ich sagte ihnen:

Wir fahren zum Uruguay. Sie erklärten, das sei ausgeschlossen. Ich ließ meine Rede los. Auf einmal waren sie bereit. Ja, sie nahmen das Unternehmen mit großer Emsigkeit an, eilten mit den Jägern davon und waren um zwei Uhr wieder zurück. Unser Botaniker war aber auch zurückgeblieben. Nun also fahren wir zu viert los.

Anfangs ging es prächtig. Dann kamen wir an eine Stelle, wo wir aussteigen mußten. Darauf fuhren wir wieder. Bald waren wir in einer Gegend, wo nur mehr reiner Wald war. Niemals mehr sahen wir eine Kolonie. Aber wir wußten bestimmt, daß unterwegs noch Italiener-Kolonien waren. Die Straße stieg. Wir mußten wieder heraus. Diesmal kam das Auto nicht von selber aus den Löchern heraus und wir schoben zu dritt. Wir sahen keinen Menschen auf dem ganzen Weg. Wo waren wir überhaupt? Wir fuhren nur nach der Himmelsrichtung.

Als wir die Höhe im Wald erreicht hatten, waren wir an einer offenen Stelle. Selbst dem Chauffeur am Steuer blieb der Atem stocken. Das Auto machte eine wilde kleine Kurve – dann stand es. Unter uns ging ein nackter Hügel in die Tiefe und wir sahen westwärts in grenzenlosem Kreis nichts, nichts wie Wälder. Ungestört, ununterbrochen, bewegungslos, auf hintereinander gestapelte Hügelzüge und über eine unausmeßbare Landschaft geschüttete Urwälder. Es war ein Blick, wie am Tage der Entdeckung eines neuen Weltteils.

Der Weg schlängelte sich dann zwischen engem Wald südwärts hinab in die Tiefe. Hohe Steine standen heraus. Das Auto schlang und stieß sich vorbei oder drüber weg. Ab und zu mußten wir einem Rad helfen hinüberzukommen. Wir sanken in eine hohe Rinne, die mit Schlamm und Steinen gefüllt und von einem kleinen Bach durchflossen war. Der Motor brüllte in höchster Wut. Er brachte den Wagen nicht mehr hoch. Auch nicht mit unserer Hilfe. Die Räder drehten irrsinnig ins Leere, warfen den Schlamm auf uns, die hinten schoben, und faßten nicht. Wir suchten Knüppel und Steine zusammen, quetschten und schlugen sie unter die Reifen. Stießen, zerrten an den Rädern, warfen uns mit dem ganzen Gewicht gegen den Wagen, während der Chauffeur zugleich den Motor anspringen ließ. Und auf einmal bekommt ein Rad festen Boden, der Wagen schiebt sich quer, mit einem Rad versinkt er; das quergegenüberliegende Rad steht in der Luft. Dann senkt sich der Wagen ächzend, langsam … es kracht etwas … langsam auf dieses Rad. Es sinkt genau hinter einen spitzen Stein, preßt sich an und drückt den Wagen eine Handbreit aufwärts. Dann steigt er langsam unter dem Gedonner der Zylinder aus dem Loch herauf.

Nun kommt ein weites, auf der einen Seite gerodetes und mit Mais bepflanztes Tal und zwei Häuser sind drin. Wir gehen zu dem ersten. Es liegt am Wald unter dem Weg in einem Loch geborgen. Es besteht aus einem Schilfdach auf Stangen und ist nach drei Seiten offen, nach einer mit Matten verhängt. Kochtöpfe und Pfannen hängen an Stäben im Freien. Ein Italiener ist drin.

»Sind wir auf dem Weg zum Uruguay?« frage ich. Das Herz bebt mir hölzern vor der Antwort. Denn niemand von uns weiß, wie die Antwort lautet. Aber wir wissen, daß, wenn ein »nein« kommt, unser Unternehmen gescheitert ist.

»Ja«, winkt der Italiener.

»Wie weit noch?« fragte der Chauffeur.

Unsere Augen brennen auf die Lippen des Mannes.

»Eine halbe Stunde!«

Wir schauen uns betroffen an. Wir sind um zwei Uhr weggefahren. Es ist jetzt erst vier Uhr. Wir glauben der Mann hat uns nicht verstanden und fahren bis zum zweiten Haus. Dieses Haus liegt jenseits eines Baches. Der Bach fließt in einer halben Haustiefe. Der Weg mündet an der Kante über den Bach. Geht auf der anderen Seite nicht weiter. Also auf alle Fälle muß das Auto hier stehenbleiben.

Wir klettern zum Bach hinab und durch das Wasser hinüber. Ein junger Bursche kommt mit seinem Pferd.

»Wie weit zum Uruguay?«

»Eine halbe Stunde!«

Ich schlage mir auf die Schenkel. Wir sind alle begeistert. Der Bursche holt Tragkörbe und wir laden unser Gepäck hinein. Wir haben einen kleinen Kinoapparat mitgenommen. Das andere Gepäck wiegt nicht schwer. Ein Weg beginnt jenseits wieder hinter dem Haus. Es ist jetzt aber mehr ein Pfad, der über große Steine und durch sumpfige Stellen läuft. Bald kommt wieder Wald … der schönste Urwald, den ich in Brasilien sah, mit mächtigen einsamen Bäumen, die sich gothisch aus dem verschlungenen, ineinandergepreßten Wachstum erhoben. In schwarzen Bögen hingen Dutzende von Lianen von jedem Baum in die Undurchdringlichkeit, in der der Jaguar, das Puma wohnen, Schlangen sich durch vermodernde Stämme aalen.

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Kanu auf dem Uruguay

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Mein Gastgeber am Uruguay

Wir gehen dann um eine Wendung des Berges, der lichter mit Bäumen bestellt ist; wir sehen den Himmel weiter und heller werden, und dann, um die Ecke herum, wir gehen nicht mehr, wir laufen … drunten den Uruguay, den breiten glanzvollen Strom. Die Ufer auf und ab Wälder, nur Wälder, und darin, in einem ungeheuern Bogen aus der Ferne herströmend, die erfüllte Sage des Flusses Uruguay, eine Stunde zu gehen breit, eine Einsamkeit weit, die nicht auszudenken ist, weil dem europäischen Verstand und der europäischen Phantasie die Maße dieser Vereinsamung fehlen. Man hat als letzten, der Wahrheit nächsten Eindruck, den einer Verbindung raumhafter Größe mit Zeitlosigkeit. Die Ufer sind mäßig hoch, aber ungebrochen, unberührt vom Wald überquollen. Der Strom kommt mit seinem unermeßlichen Bogen auf uns zu. Unter uns steht eine längliche Insel im Wasser. Südwärts stießt er wieder in einem Bogen und steht dann in einem sich verengenden Tal in silbernem kühlen Glanz.

Wir sind an einer Stelle auf ihn gestoßen, wo jemand vor kurzem gerodet und Wald gebrannt hat. Es glimmt noch überall. Im Schlag liegen mit verrenkten Bewegungen gefällte Urwaldbäume, fast bis zum Ufer hinab. Doch der gebahnte Weg hört mit einemmal auf. Wir vermögen auch nicht bis ans Ufer hinabzukommen. Der Bursche mit dem Pferd hat unser Gepäck an den Weg gelegt und ist ohne weiteres wieder davon gegangen, und da es fünf Uhr vorbei und in einer Stunde Nacht ist, kommt die Frage, wo schlafen wir? Wir streifen herum. Das gerodete Stück ist nicht mehr als zweihundert Schritte breit. Wir sehen wohl irgendwo drin oben ein Dach. Es steht auf vier Pfählen, und schließlich, wenn wir nichts anderes finden, gehen wir dorthin.

Man hat in der Kolonie uns gewarnt, über die letzten Italienersiedlungen hinaus die Nacht zu verbringen. Aber ich sage: wir gehen nicht mehr zurück. Wir schlafen auf den gefällten Baumstämmen, meinetwegen. Aber wir schlafen am Uruguay.

Da sehen wir, die unten stehen, daß unter dem Dach droben ein Mann herauskommt. Er ist klein und braun und hat als Kleidung nur eine Hose an. Er steht verwildert aus. Wir steigen zu ihm hinauf. Abwägend gleichmütig empfängt er uns. Er sieht wohl wild aus. Aber bald merkt man, daß das nur die Ungepflegtheit ist, und daß ein schöner, ja edler spanischer Kopf unter dem buschigen Haar und dem verzottelten Bart sich verbirgt. Er wird von drüben gekommen sein, aus dem spanischen Argentinien, und sich dieses Stück Land angeeignet haben. Denn hier besitzt das Land, wer es sich nimmt. Das Dach ist sein Haus. Wir sehen eine Frau und ein Kind bei ihm. An das Dach sind mehrere Dielen schräg vom Boden gelegt, und unter den Dielen brennt das Feuer, auf dem der Wassertopf steht. Die drei Menschen schauen uns jetzt scheu an. Eine Leiter führt zu einem Hängeboden hinauf, der aber nur bis unter die Hälfte des Daches geht, dann ohne Wehr aufhört. Unten ist nichts, als ein Haufen Bohnenstroh. Das da oben scheint die Schlafkammer der Leute zu sein.

Wir fragen, ob wir hier unten schlafen können. Ja, sagt der Besitzer. Dann kochen wir uns zum Nachtessen. Die Frau gibt uns braune Bohnen dazu, und wir teilen unser Essen mit den beiden. In der Dämmerung sehen wir, daß sich unten am Ufer ein Einbaum löst und quer über die Strömung langsam dem argentinischen Ufer zustrebt. Es wird rasch dunkel. Wir sitzen am Feuer, haben gegessen und rauchen. Der große Strom unten leuchtet heimlich und rauscht, weit das Land bis in den Himmel erfüllend, ein Sohn der großen Wälder, Bruder des La Plata, der die Liebe der Wasser des Waldes zur Mutter Meer zurückträgt. Der Mond steigt nun über ihn; als ein Wunder spielt er auf den Schnellen silberne Lichtspiele. Im Argentinischen erklingt ganz zart eine Liebesgeige. Ich nenne es so; obschon ich aus den Tönen nicht heraus höre, was für ein Instrument es ist. Das Rauschen des Wassers ist wie eine von einer Geisterhand berührte Orgel, die nur anklingt und wogt.

Der Jaguar hat mir dies Jahr schon drei Ochsen zerrissen, sagt der Brasilianer, und macht eine kurze weitläufige Bewegung gegen den Wald, der wie eine Krebsschere die kleine Rodung umarmt.

Die Frau hat all die Stunden, die wir am Feuer sitzen, kein Wort gesprochen, weder mit uns, noch mit dem Mann. Das Kind schläft jetzt auf seinen Knien. Ich denke mir aus: was ist der Inhalt des Lebens dieser Menschen? Die Vereinsamung sitzt aus ihnen wie ein Drache. Die Armut ist ihr Klima, es gibt kein Hinaus und kein Hinauf. In der Dunkelheit warten die Jaguare rundum und belauern ihren armen Besitz. Weiter als die zwanzig Schritte, die der Feuerschein ihres Herdes reicht, der aus zwei Steinen besieht, können sie in der Dunkelheit nicht gehen, und am Tag setzt der Wald nach zweihundert Schritten ihrer Geographie ein Ende. Und als Gegensatz dazu wandert unter ihren Augen durch die Tage, Nächte, Jahreszeiten und Jahre der Uruguay aus der Ferne in die Ferne.

 

Nachts

Wir haben uns um neun Uhr schlafen gelegt. Der Brasilianer ist mit Frau und Kind die Leiter hinauf auf den halben Boden gestiegen. Wir vier haben uns an den Haufen von Bohnenstroh gelegt, eng nebeneinander. Wohl bin ich eingeschlafen. Aber mich überschattet die Vorstellung, wenn die Leute droben auf dem schmalen Boden im Schlaf sich wälzen, fallen sie auf uns herab. Dann durchdringt die Nachtkühle unaufhaltsam meine dünnen Decken. Ich kugle mich zusammen. So halte ich die Kühle wieder die Weile über das Einschlafen aus. Wir haben unsere Waffen an unsere Köpfe gelegt. Ich denke an die dunkle Erzählung vom Wirtshaus im Spessart. Im sterbenden Feuer flattern knackende Flämmchen von Weile zu Weile auf. Die drei Hunde, die sich dran gelagert haben, schrecken dann auf. Schreckhaft unerkenntliche Schatten überzogen uns zugleich. Aber die Müdigkeit beseitigt alle schweren und aufreizenden Vorstellungen.

Die Kälte zwickt mich wieder aus dem Schlaf. Ich wälze mich auf dem harten Boden herum. Die Stiche der Tiere plagen einen. Ich fühle, wie die Nacht rauh und naß gleich einem Körper sich vom Wasser heraufwälzt. Da steh ich auf und will mich ans Feuer setzen.

Die Hunde knurren mich an. Ich nehme einen Ast und mache mir mit ihm Platz. Der kleinste der Hunde läuft winselnd in die Finsternis. Die andern stehen lauernd und angriffsbereit drei Schritte vom Feuer. Ich schüre und schiebe neues Holz hinein. Es brennt bald und gießt warme Ströme in die Kühle. Die beiden Hunde schleichen sich heran, schlüpfen zwischen das Feuer und die schräg gestellten Bretter. Dort steht die Hitze angesammelt, vor der verwehenden Nachtluft geschützt. Die Hunde sind lange magere Tiere zwischen Dobbermann und Windhunden und sie sind besät mit Geschwüren der Dasselfliegenstiche. Sie schauen mir eine Weile zu, auf dem Sprung. Rauch steigt aus dem Holz und beißt mir die Augen aus. Ich muß meinen Platz ändern.

Die Hunde springen wieder bös auf. Doch sie sehen, daß ich nichts anderes will wie sie und eher ihr Freund als ihr Feind bin. So schlafen sie bald ein. Nach langem kommt auch der kleine zurück und legt sich zwischen sie. Ich rauche viele Pfeifen hintereinander. Der Mond liegt mit den Beinen in die Höhe auf dem Rücken tief überm Wald und läßt sich langsam in die schwarze Wiege des Horizontes sinken.

Wenn ich so eine Stunde sitze, bin ich müde und kann trotz der Kälte wieder eine Stunde schlafen, da ich Wärme vom Feuer in mir aufgestapelt habe. Nachher setze ich mich wieder eine Weile ans Feuer. Sooft ich komme, lehnen sich die Hunde auf, schlafen aber bald wieder ein. Ich versuche auch draußen herumzugehen, von Unruhe, Ermattung, Schlaflosigkeit, Frost und Fremde gemartert. Im Dunkeln weidet ein heller Ochse. Ich kann nicht weit fort vom Feuer. Ich fürchte die Jaguare nicht. Aber der Boden liegt voller Baumstämme. Unter ihnen warten die Schlangen und nichts ist sichtbar, was zehn, zwanzig Schritte vom Feuer entfernt liegt.

Ich schaue viel zu dem die Finsternis durchwandernden Strom hinab, der breit und eintönig singt. Ich horche oft zu dem Bretterboden hinauf, auf dem Frau, Mann und Kind schlafen. Sie haben keine Stube für sich, kein Bett, keinen Sessel. Oder sind sie dennoch nicht arm und ist die ganze, von Einsamkeit orgelnde Landschaft, durch die der Uruguay aus der Ferne in die Ferne strömt, ihr Haus?

 

15. Mai

Ich habe heute morgen am Feuer in die Dämmerung hineingewartet. Vier Stunden habe ich auf sie gewartet, genarrt von irrenden, hellen Scheinen in den Wolken, in eine Schwermut vereinsamt, die wie ein Wald, geil und unentwirrbar mich umwob. Endlich kam sie. Auf dem Strom wanderten schwere Nebel. Aufgerichtete Gebilde aus einer verzauberten Körperlichkeit, die von Augenblick zu Augenblick in andere Formen floß, zogen sie mit dem Uruguay dahin. Es war, als ob die Nacht so fortzöge, sichtbar geworden in der grauen Blässe und der opalenen Schleierhaftigkeit der Nebel. Von ihnen saugt sich eine frostige Nässe herauf, legte sich auf meine Kleider und leckte sich an meine Haut an.

Um sechs Uhr stieg der Mann die Leiter herunter. Er grüßte nicht und setzte den Topf aufs Feuer. Er füllte die Saugpfeife mit Mathetee, hockte sich dann mir gegenüber und sagte nun erst:

Bom dia.

Das Wasser kochte und er goß es auf die Pfeife.

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Ein Platz in Rio Grande do Sul

Ich sagte:

Frio!

Es ist kalt.

Er nickte lebhaft. Er zog an der Pfeife und gab sie mir. Der warme Tee zog mir gleich in die Adern. Als sie ganz ausgesogen war, gab ich sie ihm zurück. Er goß wieder Wasser über. Ein Gespräch in Bruchteilen entwickelte sich schwerfällig und hilflos.

Er fragte:

Ist es in Europa auch kalt?

Ich bejahte.

Ist der Krieg in Europa vorbei?

Auch das konnte ich bejahen.

Viele Tote?

14 Millionen.

Aber die Zahl war ihm zu abstrakt. Sie ließ ihn gleichgültig. Ich fragte:

Gibt es in der Nähe Indianer?

Er, aufs argentinische Ufer zeigend: Drüben.

Schweigen und Aussaugen der Mathecoje.

Er: Gibt es in Europa auch Indianer?

Ich wollte antworten: nein, nur Kaffern! Aber ich kannte das portugiesische Wort für Kaffer nicht. So sagte ich nur: Nein! Damit war unsere Unterhaltung erschöpft. Nun schwiegen wir und tauschten ab und zu die Mathepfeife aus. Seine Frau kam bald mit dem Kind die Leiter herunter. Auch heute hockte sie am Feuer nieder ohne ein Wort zu sagen und ohne die Augen einmal auf mich zu legen. Das sah man als Fremder fast immer bei den Frauen dieses Landes. Es wurde mir nie klar, ob es Schüchternheit war oder Hörigkeit gegen den Mann, mit dem sie lebten.

Der Tag ging hoch. Die Wolken wurden scheinbar von der heizenden Sonne mit hochgezogen und standen wie ein blutiges Meer über den östlichen Wäldern. Es blieb kalt und naß. Die Nebel spielten aus dem Strom. Immer noch wanderten sie rasch mit ihm zu Tal. Aber sie verdehnten sich, glitten ab, siebten sich durch den Wald, strömten weiter unten wieder über den Fluß und stopften das Tal zu. Stundenlang.

Nachher fanden wir einen Weg zum Wasser. An der Stelle, wo wir drankamen, lag ein großes, wunderbares Kanu. Wir stiegen am Ufer dahin und suchten nach Tieren. Schildkröten und Tapire sollen sehr häufig hier sein. Aber wir fanden keine. Das Kanu gehörte dem Mann. Ich bat ihn, mich hinüber zu rudern. Nur in der Mitte des Stromes, wo die Schnellen waren, saßen ganze Heere von Kormoranen. Er war gleich bereit. Ich wollte die Indianer suchen. Aber es war nur Wald und Wald das Ufer auf und ab. Es war eine rhythmische Wonne in dem empfindsam pendelnden, aber scharf das Wasser überschneidenden Einbaum zu fahren. Man liegt darinnen wie in einer Schaukel, die verhalten hin- und hergeht.

   

Ich hatte als die erwartete Sage nur Wasser und Wald gefunden, und das ärmste von Menschen, das ich jemals sah. Und eigentlich endete unsere Reise nach dem Uruguay in dem ersten Augenblick, da wir ihn sahen.

Nein, ich fand noch etwas. Im Augenblick, da wir fortgehen wollten und der Mann schon unser Gepäck auf sein Pferd geladen hatte, hob einer der Chauffeure etwas hoch. Ich nahm es ihm aus der Hand. Es war ein Steinbeil. Es war schlank und rund geformt und an der einfachen, starken und naturgemäßen Wölbung war kein Makel. Es war ein großes Meisterstück. Ein Meisterstück seiner Zeit. Steigerte dieser Fund dadurch, daß er uns sagte, wir hätten auf einer verschollenen Indianersiedlung die Nacht verbracht, den Wert dieser Reise nach dem Uruguay?

Der Mann saß im Sattel zwischen unserem Gepäck. Er hatte vorne querüber sein Gewehr gelegt. Auf dem Weg warteten wir auf ihn. Er aber sagte:

Gehen Sie, bitte, vor mir!

Er hatte doch Angst vor uns. Was hätten wir von seiner Armut wegnehmen können?! Da kam mir der Glaube, daß sein Haus doch diese große unangerührte Welt war, die der Uruguay von einer Ferne in eine andere Ferne durchwanderte.


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