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Von Rio geht in zwölf Stunden die Bahn nach São Paulo. Auf dieser bedeutendsten Verkehrsstrecke Brasiliens fahren täglich mehrere Tages- und Schlafwagenzüge. Die Bahn steigt in weite Gebirge hinauf. Eine herrliche Vielgestalt und Tiefe der Landschaft begleitet sie in den ersten Stunden.
An den Bahnhöfen wurden brasilianisches Obst und Süßigkeiten zum Verkauf angeboren. Bettlerinnen hielten eingerahmte Heiligenbilder zu den Fenstern herauf und man legte seine Gabe auf die Glasscheibe des Bildes. An einem Bahnhof sah ich eine Frau in einer Kiste sitzen, die auf Rädern befestigt war. Sie hatte einen roten Sonnenschirm über sich gespannt, streckte die Hände bittend zu dem Zug hin und wies auf zwei Kinder, die in ihrem Auftrag längs der Wagen Geld einsammelten. In Konkurrenz mit ihnen lief ein Mann, der beide Füße verloren hatte, auf den nackten Beinstumpen über die glühende Schiene des Nebengeleises und verlangte bei jedem Fenster mürrisch ein Almosen.
Abends kam ich in São Paulo an und ging gleich, von alten Erinnerungen eines Aufenthaltes von vor 17 Jahren verlockt, das Frontão boa Vista aufsuchen. In ihm wird das Pelotas gespielt. Dieses ist ein Ballspiel, das die Basken schon im Mittelalter betrieben. Es ist vor etwa zwanzig Jahren in São Paulo wieder ausgenommen worden, und ich sah es vor zehn bis zwölf Jahren ab und zu auch in Paris. Jedoch wurde es hier mit unzulänglichen Mitteln und von Spielern ausgeübt, die ihm nicht gewachsen waren.
Ich fand das Boa Vista-Gebäude. Es stand alles noch gut in meiner Erinnerung und nichts schien sich seit damals geändert zu haben. Im Innern liegt eine riesenhafte Halle. Sie ist von drei Seiten mit festen Mauern umgeben, die die Höhe eines etwa vierstöckigen Hauses haben. Die vierte Seite aber ist durch ein Drahtgitter abgeschlossen, hinter dem die Zuschauer geschützt Platz nehmen können.
Als ich eintrat, spielten zwei. Am Gitter preßten sich Hunderte von Gesichtern an die Maschen. Die Ränge und Stehplätze waren voll Zuschauer. Ein lockiger Dicker und ein Kleiner spielten. Der Gelockte mit List, der andre unter Einsatz aller Jugend, hinwerfender Kraft, Geschmeidigkeit und Entflammung.
Die Spieler haben einen langen schnabelförmigen Korb an den rechten Arm geschnallt. Mit diesem Korb werfen sie eine Kugel aus Hartgummi zwischen die Wände. Die Kugel erreicht eine solche Schnelligkeit, daß sie dem Auge des Zuschauers im Fliegen verloren geht. Die Gegenspieler haben die Aufgabe, diese Kugel aus ihrer blitzhaften Bahn mit dem Korb herauszureißen und sie in demselben Schwung weiterzugeben. Man spielt es Mann gegen Mann oder Partei gegen Partei.
Es ist das herrlichste Sportspiel, das die Welt kennt. Es stellt Anforderungen der Kraft und Umsicht, des Mutes und ein auf Bruchteile von Blutschlägen berechnetes Einsetzen der Schnelligkeit des Geistes und Körpers an die Teilnehmer, wie sie kein andres Spiel kennt. Es ist mittelalterlich dunkles Feuer südländischer Menschen drin erhalten, denen das ganze Leben nicht so viel gilt, wie die lautlose aufflammende Bewegung, mit der ihr Korb den seine Bahn rasenden Ball aus dem Flug reißt und im Weiterschwingen derselben Bewegung zurück zwischen die Wände und die Gegner jagt. Denn jeder Ball, der statt in den Korb an den Körper rast, bringt Gefahr des Lebens.
In dem Spiel ergeben sich Bewegungen des menschlichen Körpers von tanzender Leidenschaftlichkeit und der scharfen Schönheit einer romantischen und verloren gegangenen Lebensverachtung. Man könnte Völker mit ihm erziehn und stark machen. Nicht bloße rohe Kraft erzieht es, sondern Tugenden, in denen die Seele mit einer tiefen und unerbittlichen Schärfe dem Körper von ihrem veredelnden Wesen mitgibt.
Die Zuschauer begleiten das Spiel mit einer Teilnahme, die zu den drastischesten Äußerungen der Begeisterung oder des Mißgefallens führt. Sie trampeln und schreien, klatschen, pfeifen, spucken durch das Gitter, sausen durcheinander, schimpfen und grölen, werfen in der Wut ihre Zigaretten auf die Spieler hinab, drohen oder lobpreisen. Sie begleiten das Spiel mit Wetten auf einem großen Totalisatorenbetrieb. Um Mitternacht hört es auf.
Dieses Frontão Boa Vista hatte ich von meinem ersten Aufenthalt in São Paulo treu in der Erinnerung behalten, sonst aber habe ich nicht einen Winkel dieser Stadt wiedererkannt. Sie ist von Grund aus seit jener Zeit erneuert, ist ins Weite gewachsen. In ihr fangen sich der Reichtum, die Macht und das Wachstum auf, die die Landesprodukte des Staates São Paulo vermitteln: Kaffee, Baumwolle, Zucker, Mais und Bohnen. Ihre Entwicklung scheint sich selber zu überholen. Im Innern Straßen, die mit einem Auto zu befahren Qualen bringen. Und doch schon in der Bannmeile ganze neue Stadtviertel aufgeworfen und bis auf die Häuser fertig gestellt.
Die Geschäftsstadt setzt unmittelbar mit ein paar jäh abfallenden Straßen an die Bannmeile an. Diese schrägen Gassen sind gedrängt voll kleiner Läden und aus ihren Türen schauen Syrer, Armenier, Türken sehnsüchtig nach oben, wo die großen Kaufpaläste stehn, denen sie unaufhaltsam, wenn auch langsam zudrängen.
Ueber die Bannmeile hinweg, sieht man nach Braz, der Stadt mit hunderttausend Arbeitern, und es sieht aus, als ob die Kaufherrn dieser City den weiten leeren Raum dort unten als ein Glacis vor ihrer Festung zwischen diese und die Bedrohlichkeit der Arbeiterstadt gelegt hätten.
In dieser Geschäftsstadt toben alle Baustile der Welt durcheinander: eine deutsche Bank brachte die Bauart der romanischen Gebäude am Zoo hin; die englische Bank die ihrer Mutter in London; die Italiener holten das Muster aus Florenz; die Nordamerikaner bauten in der New Yorker Renaissance der letzten Jahrzehnte, die Ähnlichkeit mit der Stilisierung der Schüsseln aus der württembergischen Metallwarenfabrik hat; Frankreich bildete Trianon nach. Überall herrscht ein plan- und zusammenhangsloses Wüten von Bauarten durcheinander. Keiner achtet des anderen. Jeder überschreit den Nachbarn. Und so sieht die City von São Paulo aus, wie eine Weltbörsenstunde der Architektur.
Noch wird überall in dieser Stadt abgerissen und neu aufgebaut. Keine Straße ist ohne Baugerüst. Mitten in der Geschäftsstadt hat man ganze Häuserblöcke entfernt, um Plätze zu schaffen. Die Hauptstraße der Geschäfte, die Rua 15 de Setembro, verlief sich früher in einen Wirrwarr von Gassen. Heute weitet sie sich in einen Platz aus, auf dem eine gothische Kathedrale mitten zwischen die Pfeffersäcke gebaut wird.
In der Nähe dieser Straße eines der interessantesten Häuser Brasiliens, das auch wiederum das Zielbewußtsein der Paulistaner zum Ausdruck bringt. In einem großen Palast ist eine dauernde Ausstellung aller Produkte des Staates, verbunden mit einem Statistischen Amt, aus dem man sich alle Angaben besorgen kann, die das Wirtschaftsleben Brasiliens betreffen.
Auf einer großen schwarzen Tafel neben dem Eingang sind die letzten Warenpreise verzeichnet und auf einer andern daneben lese ich:
Eingewandert sind im ersten Vierteljahr in Santos 17 587 Kolonisten, in Rio de Janeiro 13 156.
Erwartet werden mit drei Dampfern 2162.
Sie haben Einem mit großem Stolz vor Jahren ihr Munizipaltheater gezeigt, das eine hervorragende Stelle an einem Viadukt über einer jungen Parkanlage beherrschte, und das der Pariser Oper abgeschaut war. Es schien ein machtvoller, alle Bauwerke Südamerikas überstrahlender Palast zu sein. Die ganze Stadt sollte sich in seiner Pracht auffangen. Heute haben internationale Unternehmer durch einen deutschen Baumeister an die Seite dieses architektonischen Wunders ein Hotel gebaut, und der Theaterpalast ist so klein geworden neben dem modernen Klotz, daß man ihn übersieht.
Das Wachstum sprengt natürlich nicht nur die alte Form der inneren Stadt. Es greift weit in die Bannmeile und machte viele Leute, die sich dessen nicht versahen, durch das als Begleiterscheinung auftretende Spekulationsfieber reich. Wenn man auf einer freien Höhe steht, sieht man, daß angelegt und gebaut wird, soweit das Auge reicht.
Rio ist eine Stadt, deren Hinterland sozusagen das Meer ist. Daß das Hinterland São Paulos Bauernland ist, verrät das Bild der Straße. Es fehlt ihm die Grazie, Eleganz und Schönheit der Hauptstadt. Wohl gibt es auch hier Auto auf Auto. Aber sie sind stark gemischt mit Pferden aller Rassen, besonders aber solchen von einem mittelschweren Schlag, die man sonderbarerweise »Luxemburger« nennt, obschon Luxemburg nie eine eigene Pferdezucht hatte. Sehr häufig sieht man einen einsitzigen kleinen Gigwagen auf Gummireifen.
Die Firmenschilder steigern die Buntheit in diesem Bild und machen die Stadt internationaler, als es ein europäischer Pazifistenkongreß ist. Der italienische Barbier nennt sein Geschäft: Casa Dante, der Syrer steigt im Hotel Jaffa ab. Der Chinese ißt im Restaurants Chinez Ge Ton & Compagnie. Die Loja do Japon, die Casa Russa, die Maison Française, der Bazar Almão, der Banco Inglez halten eine friedliche Nachbarschaft, die sie nach Europa weiterpflanzen mögen.
Derselbe Wille sich als Stadt auszubauen wie Rio de Janeiro führt auch São Paulo. Nur mit der stärkeren Kraft und dem größeren Reichtum der Paulistaner ist es diesen geglückt, bis auf wenige Pälmchen in öffentlichen Anlagen aus ihrer Stadt alles zu entfernen, was an die Geographie erinnert, in der sie steht. Es ist eine Stadt, die bis in die letzten Ausläufer die Heimat verrät und mit Brasilien nichts mehr zu tun hat, außer daß sie ihm politisch angehört. In außergewöhnlichen Verordnungen findet dieser Wille zur Entwickelung einen Ausdruck tyrannischer Eingriffe in die Rechte des Privatmannes. So ist kürzlich hier ein Gesetz herausgegeben worden, das unter Androhen von Enteignung die Hausbesitzer der inneren Stadt zwingt, ihre Häuser in den nächsten acht Jahren auf mindestens vier Stockwerke aufzubauen.
Doch ist das merkwürdigste das, daß sie, wie der Staat, dessen Haupt sie ist, von Eingeborenen auch auf eine Art geleitet wird, wie man sie sonst in Brasilien nicht kennt. Etwas von diesem festern und härtern Zug liegt in der Geschichte der Gegend, deren Menschen stets einen Charakter zeigten, der auf's Ganze ging. Die Paulistaner unternahmen Raubzüge bis zum Gebiet der Missiones im Süden des Staates Rio Grande zwischen Argentinien, Brasilien und Paraguay, um sich Sklaven zu verschaffen, und von grausamer Typischkeit ist die Tat eines Gouverneurs aus der Zeit, in der die Indianer noch nicht pazifiziert waren und einst aus dem Waldgebiet heraus, das sie bewohnten, Überfälle auf Paulistaner Orte machten. Dieser Gouverneur dachte seiner Zeit zu weit voraus, als daß er mit einem Kriegszug Rache genommen und durch Säuberung des Waldes mit den Waffen den Ortschaften Sicherheit verschafft hätte. Er hatte einen Einfall, dessen Anwendung modernster Kriegsführung würdig gewesen wäre. Er sammelte aus dem ganzen Staat die Pockenkranken und ließ sie in den Wald legen. Seit dieser Offensive der Bazillen war der Wald von Indianern gesäubert und die Siedlungen der Paulistaner konnten ungestört sich ihrer Entwicklung hingeben.
São Paulo ist die reichste Stadt des Landes und die zielbewußteste. Daß die Revolution vom Sommer 1924 hier zuerst versucht wurde, war eine planvolle Absicht. Sie ist nicht geglückt und weil sie in São Paulo nicht glückte, verlief sie im Sand. Die Erhebung, die im Süden einige Monate später ausbrach, ist eine reine innere Angelegenheit des Staates Rio Grande in dem zwei Parteien scharf gegeneinanderstehen: die Partei des ewigen Gouverneurs und die Anhänger Seca Nettos.
In einem Nachtlokal bei einer Jazzband-Kapelle hörte ich ein neues Instrument; doch bevor ich seinen Namen nenne, über den man vielleicht lacht und dessentwegen die Gefahr besteht, daß man es nicht achten wird, versuche ich die Eindrücke zu schildern, die es bei mir weckte. Es wird mit einem gewöhnlichen Klavierhammer geschlagen und unter dem Schlag entströmt ihm ein Ton, der, wenn man eine Ähnlichkeit mit einem andern Instrument herstellen will, irgend etwas von einer sehr schweren und sich in Melancholie verlierenden Menschenstimme hat.
Außer der Menschenstimme gibt es kein Instrument, das wie dieses die Töne ohne Unterbrechung in unendlichen Bruchteilen von Übergängen anschwellen zu lassen vermag. Es singt in einem ansteigenden bald zurückbebenden und dann wieder jäh oder mit schmelzender Weichheit modulierenden Schwingen. Man merkt nichts von den Anstrengungen, die die Technik verlangt. Ein Schlag und es singt lang, tief und in einer das Herz ganz überströmenden Tonfülle hin.
Bald erinnert es an die dunkle, vom Sinn befreite, rein naturhafte Schwermut von Liedern der Neger, die sich in den großen Weltstädten nach der süßen sehnenden Mystik des aufsteigenden Mondes in ihrer Wälderheimat zurücksehnen. Bald hat das Erklingen (es klingt nicht, dieses Instrument, sondern es erklingt) etwas über alle Zeiten hinaus Strömendes, das in der Wesensart des Tones ohne Grenzen wird. Man hat die Empfindung, sobald dieses neue Instrument aus der Begleitmusik heraustönt, als ob eine Quelle von nie dagewesenen erdschoßwarmen Wellen im Orchester entspringe, ein Geysir der Musik. Fremd, aber dem dunkeln Herzen von den Untergründen seiner schwersten Regungen her vertraut.
Dieses neue Instrument ist eine gewöhnliche, etwa achtzig Zentimeter lange Fuchsschwanzsäge aus Stahl, wie man sie in jedem Laden zu kaufen bekommt. Ich bat den Musiker, den ich in dem Nachtlokal spielen hörte, mir sie am nächsten Tag in meinem Hotel zu zeigen. Er kam und spielte mir einiges ohne Begleitung des Orchesters. Der Spieler stellt den Griff der Säge gegen das rechte Knie, spannt die Säge über das linke, aber so, daß nur der Griff, nicht aber das Blatt, sich auf das linke Bein aufstützt, schlägt mit einem Klavierhammer und biegt zugleich das Stahlblatt mit dem Daumen nach unten, so daß es einen Bogen bildet. Es beginnt zu erklingen, während der Spieler mit dem Daumen und dem stützenden rechten Knie leis vibrierenmachende Bewegungen erzielt. Die Töne schwellen ineinander ohne Stagnierung. Es wird ein gewährendes mächtiges Schwingen.
Will man die Töne nach unten laufen lassen, lockert man den Bogen und kann damit fortfahren, indem man das Blatt der Säge einwärts biegt. Der Ton schwillt dann ab und in die Tiefe.
Noch wird das Instrument erst in zwei Nachtkapellen zur Jazzmusik gespielt. Ich fand es sonst nirgends in Südamerika. Scheinbar als Witz eingeführt, handhaben es die Musiker mit Ernst. Aber natürlich fehlt es ihnen noch an einem Können, das erlaubte, das Instrument in all seinen Möglichkeiten auszunützen. Noch erst hat sich die leichte Musik seiner bemächtigt. Wird es aber in Europa bekannt, so wird, daran ist nicht zu zweifeln, bald sich ein Modischer finden, der eine Symphonie komponiert und spielen läßt, die er nennen wird: » O Serrote cantando« – Die singende Säge!
Nicht weit vor der Stadt liegt Butantan – Das berühmte Schlangeninstitut. Sein Zweck ist, ein Serum zu gewinnen, das die Menschen vor den Folgen der Schlangenbisse heilt. Diese Folgen sind nicht immer der Tod; in vielen Fällen führt ein scheinbar zunächst harmlos verlaufener Stich einer Schlange Absterben eines Gliedes oder elephantiasisähnliche Ausdehnungen hervor.
Das Institut hat stets große Vorräte lebender Schlangen. Ein Teil wohnt in mauer- und wasserumgebenen Gehegen in kleinen Steinhütten, ein anderer in Schränken eines Zimmers im Innern. Diese sind zum Tode verurteilt. Es ist, als ob hier der Mensch Rache an ihnen nimmt, weil sie die gehaßtesten, gefürchtetesten Tiere der Schöpfung sind, das uralte Symbol des verlorenen Paradieses und alles Unglückes der Menschheit. Nun nimmt man ihr Gift zur Bereitung des Heilserums und läßt sie verhungern.
Ich weiß, die Waffe der Schlange ist grauenvoll. Aber ihre Schönheit übertrifft die jeder anderen Kreatur – sobald man es fertig bringt, die Augen nicht von den Nerven besiegen zu lassen.