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Das Wort Straße bringt unserm Gemüt Vorstellungen, die es aus dem Schatz der Erinnerungen undurchsichtigster Kindertage her mit Romantik und süßen Möglichkeiten überschüttet. Klingt es uns Anbetern Eichendorffs glaubhaft, daß es ein Land gibt, dessen Dörfer und Städte wohl durch Eisenbahnen aber nicht durch Landstraßen verbunden sind? Ein solches Land ist Brasilien. Nord- und Mittelbrasilien kennen mit den geringen Ausnahmen des Staates São Paulo keine Landstraßen, ja, die beiden größten Städte Brasiliens, Rio de Janeiro und São Paulo werden erst jetzt durch eine Straße verbunden werden, die aber noch fern ihrer Vollendung ist.
Auch der Süden ist nicht so mit Straßen belegt, daß man fürs Reisen etwa auf sie vertrauen könnte. Die Straßen, die bestehn, sind zudem einfach aus der roten Tonerde gespatet und nicht mit Schotter eingewalzt. In den meisten Fällen sind sie überhaupt nur Zufallsprodukte, entstehen, wie die Ochsen- und Mulatreiber grade fahren. Bei Regen sind sie wie rote Kanäle, wenn sie flach liegen und rote Sturzbäche, wo sie Hänge herabklettern. Jeder europäische Chauffeur wurde sich weigern, sie zu fahren und jede zehn Meter einen Achsenbruch voraussagen. Die brasilianischen Chauffeure machen das Reisen auf ihnen mit leichten amerikanischen Wagen dennoch möglich, wenn dies Autofahren auch mehr Gymnastik verlangt, als es Vergnügen bereitet. Wo die Straße aufhört, geht es durch das Grasland des Camps und über Sturzäcker, und dieser Weg ist meistens eigentlich leichter zu befahren, als die Straßen.
Doch eine Autostraße hat Brasilien jetzt. Sie steigt von Santos nach São Paulo hinauf, 64 Kilometer, und gehört landschaftlich zu den Kuriositäten der auch den Küstenreisenden zugänglichen Welt. Der Staat São Paulo ist im Begriff, noch andre solcher Straßen herzustellen, die an Länge die nach Santos bedeutend übertreffen, und deren Projekte große öffentliche Kämpfe hervorriefen. Man hielt entgegen, es sei für das Land nützlicher, zuerst Verkehrsstraßen zu bauen, bevor man an Luxusstraßen denke. Doch Brasilien ist eine der Demokratien, in denen Imperator Financicus mit allem Prestige ausgestattet ist und die plutokratischen Autobesitzer siegten.
So werden die Automobilstraßen nach Campinas mit einer Länge von 100 Kilometern und die nach Ribero Preto von etwa 400 Kilometern jetzt angesetzt.
Wohl verbindet bereits etwas, was man in Brasilien Straße nennt, die beiden Städte São Paulo und dessen Hafen Santos. Aber diese Wege sind schon in trockenen Zeiten nur für drei bis zehnspännige Maulesel- und Ochsenkarren benutzbar. Sie laufen zum Teil neben der neuen Straße her, und man sieht vom Auto aus, wie die Karren bald in Löcher fallen, bald sich über hohe Steine schieben, mit gebrochenen Rädern daliegen oder mit eingesunkenen dem Anziehen der Tiere und dem Gebrüll der Fuhrleute Widerstand leisten.
Wie die Berliner Avus hat auch die Autostraße von São Paulo Zugangstore, die bewacht sind. Sie sind aber nicht wie in Berlin zur Entgegennahme eines Zolles angebracht, denn die Benutzung der Straße ist frei. Sie befinden sich überall dort, wo der alte Weg die Straße überkreuzt und ihre Wächter sollen verhindern, daß die Karren oder die Packtiere sie beschreiten und zerstören. Außerdem sind von Weile zu Weile Gatter aus breit auseinanderstehenden Balken flach und quer über Gräben in die Straße eingelassen. Die Balken liegen so weit auseinander, daß die Tiere, die etwa die abwehrenden Drähte, von denen die Straße beiderseits eingefaßt ist, durchbrechen, mit den Füßen in den Graben treten würden und nicht weiter kämen, während die Autos mühelos das Hindernis überwinden können.
Bevor man die Straße von der Stadt aus erreicht, muß man lange den neuen noch wenig bebauten aber großartig angelegten Avenuenzug durchfahren, der an den Anlagen des Befreiungsdenkmals und des darüber liegenden Museums von Ypiranga endigt. Diese Straße kann man kaum anders, als mit Hilfe der Gleise der Elektrischen befahren. Aber das ist mit allen Straßen in brasilianischen Städten so, wenn man die Aveniden in Rio ausnimmt. Deshalb werden hier nur Automobile gekauft werden, die neben andern Eigenschaften, deren die deutschen ermangeln, wie Preiswürdigkeit, Leichtigkeit des Baues in richtigem Verhältnis zur Stärke des Motors usw., dieselbe Spurweite haben, wie diese Gleise. Die deutschen Wagen sind 7 Zentimeter zu schmal.
Das Ypirangamuseum ist im großen ganzen die Schöpfung des deutschen Gelehrten Professor Ihering, der jahrelang in der kleinen Villa daneben gewohnt und gearbeitet hat und jetzt wieder in Deutschland lebt. Seine naturwissenschaftlichen Schätze sind bedeutend und in hervorragender Weise ausgestellt. Die ethnologische Sammlung enttäuscht und die kulturhistorische, die sein jetziger Leiter Tauney pflegt, ist im ersten Beginn begriffen.
Bald hinter Ypiranga fährt das Auto in das erste Tor der Straße. Man sieht sie bald als ein rotes Band und bald als einen roten Kanal weithin durch die Landschaft laufen. Sie ist in den Tonboden eingeschnitten und wenn sie auch nicht etwa mit einer der europäischen Autostraßen verglichen werden kann, erlaubt sie doch auf kürzeren Strecken Schnelligkeiten bis zu 80 Kilometer zu entwickeln.
Sie wird im ersten Teil von einer bewegten Hochlandslandschaft begleitet, in der weite Campflächen mit fruchtbaren Äckern wechseln und Bodenwellen auf und abwogen. Einmal fliegt sie in einem wunderbaren Schwung bergauf und oben, um den Scheitel des vorgelagerten Berges zu überwinden, ist in den roten Sandstein ein haushoher Durchlaß eingeschnitten. Dahinter leuchtet der Himmel. Saust man diesem Einschnitt entgegen, so sieht es aus, als flöge man auf ein flammiges rotes Himmelstor zu.
Wir sind eine Stunde unterwegs. Unweit vor uns breitet sich ein größeres Dorf in einer Mulde aus. Es geht schroff bergab und das Fahrzeug bekommt eine beängstigende Schnelligkeit. Der Chauffeur arbeitet vergeblich an den Bremsen. Aber das Auto beginnt zu schleudern, er schaltet im letzten Augenblick aus und die Bremsen arbeiten. Wir stehn und haben eine Panne. Es beginnt zu regnen. Der Chauffeur arbeitet vergeblich. So glänzende Fahrer sie sind, von dem Motor verstehen diese brasilianischen Chauffeure nichts. Alle Wagen, die an uns vorbeifahren, halten an. Ihre Führer steigen aus, kommen zu uns heran und fragen, ob wir ihre Hilfe gebrauchen können. Dabei denkt der Europäer an die Sitten, die zwischen Automobilisten in Europa herrschen, wo der liebe Gott die Gesetze kameradschaftlicher Höflichkeit und Gesittung in Verwaltung gegeben haben soll.
Schließlich schieben wir das Auto bis ins Dorf. Der Chauffeur macht dort einen Mechaniker ausfindig, der ein Fordauto besitzt. Die beiden arbeiten im Regen eine Stunde zusammen an der Maschine dann geht sie wieder. Bezahlung lehnt der Mechaniker ab. Die Brasilianer sind, wie gesagt, nicht belastet mit einer materialistischen Weltanschauung.
Wir sausen weiter. Schwere Nebel mit Regenschwaden vermischt wogen über die Kante des Gebirgs uns entgegen, unter der, 1000 Meter tiefer, als wir fahren, Santos liegt. Bald regnet es in Strömen. Es regnet rechts und links auf dichte Nachwuchswälder. Von den Bäumen glühen durch die graue Luft die hohen roten Blütenständer der Bromeliaceen. In den Wäldern brennen überall Kohlenmeiler und senden brenzlige Gerüche hinter uns her. Wir sind wie von Wald umgarnt, da jetzt der Himmel geschlossen und als ein graues Netz tief über uns liegt und ab und zu durchziehende Wolken bis auf uns herabsenkt.
Dann erreichen wir endlich die Kante des Gebirgs. An ihr ist aus Steinen ein großes Wartehaus prächtig über eine wilde Schlucht gebaut. Wir frösteln vor Kühle und Nässe und wollen in der Halle des Hauses den Regen abwarten. Von der Terrasse sehn wir in die Schlucht. Sie ist eine graue unheimlich mit Nebel gefüllte Tiefe. Von oben bis tief hinab lebt als ein weißer sprühender Schatten kaum erkenntlich ein Wasserfall drin.
Aber der Regen geht nicht fort. Unter uns liegt die Ebene und das Meer. Doch wir sehen sie nicht, sondern nur in den undurchdringlichen Ozean von Nebel und Regen, der an die Serra treibt und über ihre Kante hinaufspült.
So entschließen wir uns, in die verhüllte Tiefe hinabzufahren und reden uns Trost mit der Hoffnung zu, daß für die Rückfahrt die Luft sich klären möchte. Die Straße sinkt in steilen Wendungen unter Urwald und Felsenbastionen hinab. Rechts steht eine niedrige Mauer als Wehr vor der Tiefe. Auf einmal erscheinen schwärzliche Rauchschwaden in dem Nebel. Gebannt von dieser Erscheinung halten wir an und stellen fest, daß es nicht Rauch ist, sondern ein im sich lösenden Nebel durchschimmernder Wald auf der anderen Seite der Schlucht.
Und dann geschieht es, wie in einem Wunder zwischen Erde und Himmel, wie in einem Spiel zwischen Göttern, daß sich auf einen Zauberschlag hin Löcher in dem Nebel und Regen auftun, durch die man wie durch zerrissene kosmische Fenster Ausschnitte des Ozeans in einer sanften lichten Weite sieht. Die Fenster werden immer größer. Der Hafen von Santos mit einer langen Reihe von Schiffen wird sichtbar. Noch ist die Schlucht zur Rechten der Straße mit Dunst vollgestopft. Aber man sieht die Nebel stiegen. Sie wehen an die Serraabhänge an und lösen sich in demselben Augenblick in Durchsichtigkeit auf.
Alles wird weiter und zugleich näher. Eine weiße lichte Klarheit steigt über die Welt, und nach Minuten breitet sich tief abwärts und weithin unausmeßbar das grüne von Wasserläufen durchzogene Vorland am Fuß des Gebirges auf und strebt ins Meer hinein. Und Santos bettet sich zwischen grüne Pflanzungen, braune Hügel und gleißendes Wasser.
Eine weiche Erwärmung spült durch die Luft aus der Tiefe herauf. Wir gehen abwärts. In steilen Stürzen fällt das Auto hinab, aalt sich durch heftige, mit breiten Steinen ausgepflasterte Kurven, fliegt eine Strecke gradaus … ein anderes Fahrzeug donnert bergherauf, an uns vorbei; schlagend, dampfend, mit heißem Atem brüllt es überhitzt davon. Links klettert der Urwald steil die Hänge der Serra do Mar hinan, berührt uns mit den Zweigen seiner Bäume. Durch kleine steile Schluchten stürzen Wasserfälle an den Rand der Straße.
Der Fall der Straße ist jäh. Oft hat man den Eindruck des Fliegens. Der Sturz bringt eine so rasche Veränderung des Luftdrucks, daß das Gehör sich schließt und alle Geräusche nur dumpf und abgeschwächt empfängt. Die Maschine kämpft gegen die Steilheit des Wegs und die Plötzlichkeit der Kurven an. Die Nerven brennen vor Spannung, die Augen flammen in das Wunder der Naturschönheit und man gleitet durch Blutschläge, in denen man, wie verzehrt von der Allgewalt eines Molochs, Eines wird mit der Erde, die uns umströmt.
Unten ist es dann flach, und an saftigen Bananenpflanzungen und schwarzen Brakwassersümpfen mit Mangroven vorbei hasten wir nach Santos. Das Leben eines der stärksten Akkumulatoren des Weltverkehrs prallt gegen uns an und die Stadt umbadet uns nach der kalten Fahrt mit einer plötzlichen drängenden Hitze, vor der man erschrickt.