Alexander von Humboldt
Ansichten der Natur
Alexander von Humboldt

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Man setzt gewöhnlich die geheimnisvolle Erscheinung von Manco Capac 400 Jahre vor der Landung von Francisco Pizarro auf der Insel Puná (1532), also gegen die Mitte des 12. Jahrhunderts, fast 200 Jahre vor der Gründung der Stadt Mexiko (Tenochtitlan); einige spanische Schriftsteller zählen statt 400 gar 500 bis 550 Jahre. Aber die Reichsgeschichte von Peru kennt nur 13 regierende Fürsten aus der Inkadynastie, welche, wie Prescott sehr richtig bemerkt, nicht eine lange Periode von 400 oder 550 Jahren ausfüllen können. Quetzalcoatl, Botschica und Manco Capac sind die drei mythischen Gestalten, an welche sich die Anfänge der Kultur unter den Azteken, Muyscas (eigentlicher Chibchas) und Peruanern knüpfen. Quetzalcoatl, bärtig, schwarz gekleidet, Großpriester von Tula, später ein Büßender auf einem Berge bei Tlaxapuchicalco, kommt von der Küste von Panuco, also von der östlichen Küste von Anahuac, auf das mexikanische Hochland. Botschica, oder vielmehr der bärtige, lang gekleidete Gottesbote Nemterequeteba (ein Buddha der Muyscas), gelangt aus den Grassteppen östlich von der Andeskette auf die Hochebene von Bogota. Vor Manco Capac herrschte schon Kultur an dem malerischen Gestade des Sees von Titicaca. Die feste Burg von Cuzco auf dem Hügel Sacsahuaman war den älteren Gebäuden von Tiahuanaco nachgebildet. Ebenso ahmten die Azteken den Pyramidenbau der Tolteken, diese den der Olmeken (Hulmeken) nach, und allmählich aufsteigend, gelangt man auf historischem Boden in Mexiko bis in das 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Die toltekische Treppenpyramide von Cholula soll nach Siguenza die Form der hulmekischen Treppenpyramide von Teotihuacan wiederholen. So dringt man durch jegliche Zivilisationsschicht immer in eine frühere ein, und da das Bewußtsein der Völker in beiden Kontinenten ungleichzeitig erwacht ist, liegt das phantastische Reich der Mythen bei jeglichem Volke immer unmittelbar vor dem historischen Wissen.

Trotz der großen Bewunderung, welche die ersten Konquistadores den Kunststraßen und Wasserleitungen der Peruaner gezollt haben, sind die einen und die anderen nicht bloß nicht unterhalten, sondern mutwillig zerstört worden; schneller noch, Unfruchtbarkeit durch Wassermangel erzeugend, in dem Litoral, um schön behauene Steine zu neuen Bauen anzuwenden, als auf dem Rücken der Andeskette oder in den tiefen spaltartigen Gebirgstälern, von welchen diese Kette durchschnitten wird. Wir waren gezwungen, in den langen Tagereisen von den Syenitfelsen von Zaulaca bis zu dem versteinerungsreichen Tale von San Felipe (am Fuß des eisigen Paramo de Yamoca) den Rio de Guancabamba, welcher sich in den Amazonenstrom ergießt, wegen seiner vielen Krümmungen 27mal zu durchwaten: während wir hier abermals an einer uns nahen, steilen Felswand immerfort die Reste der hochaufgemauerten, geradlinigen Kunststraße der Inkas mit ihren Tambos sahen. Der kleine kaum 120 bis 140 Fuß breite Gießbach war so reißend, daß unsere schwer beladenen Maultiere oft Gefahr liefen, in der Furt fortgerissen zu werden. Sie trugen unsre Manuskripte, unsre getrockneten Pflanzen, alles, was wir seit einem Jahre gesammelt hatten. Man harret dann am jenseitigen Ufer mit unbehaglicher Spannung, bis der lange Zug von 18 bis 20 Lasttieren der Gefahr entgangen ist.

Derselbe Rio de Guancabamba wird in seinem unteren Laufe, da wo er viele Wasserfälle hat, auf eine recht sonderbare Weise zur Korrespondenz mit der Südseeküste benutzt. Um die wenigen Briefe, welche von Truxillo aus für die Provinz Jaen de Bracamoros bestimmt sind, schneller zu befördern, bedient man sich eines schwimmenden Postboten. Man nennt ihn im Lande el correo que nada. In zwei Tagen schwimmt der Postbote (gewöhnlich ein junger Indianer) von Pomahuaca bis Tomependa, erst auf dem Rio de Chamaya (so heißt der untere Teil des Rio de Guancabamba) und dann auf dem Amazonenstrome. Er legt die wenigen Briefe, die ihm anvertraut werden, sorgfältig in ein weites baumwollenes Tuch, das er turbanartig sich um den Kopf wickelt. Bei den Wasserfällen verläßt er den Fluß und umgeht sie durch das nahe Gebüsch. Damit er von dem langen Schwimmen weniger ermüde, umfaßt er oft mit einem Arm einen Bolzen von leichtem Holze (Ceiba, Palo de balsa) aus der Familie der Bombazeen. Auch wird der Schwimmende bisweilen von einem Freunde als Gesellschafter begleitet. Für den Proviant brauchen beide nicht zu sorgen, da sie in den zerstreuten, reichlich mit Fruchtbäumen umgebenen Hütten der schönen Huertas de Pucara und Cavico überall gastliche Aufnahme finden.

Der Fluß ist glücklicherweise frei von Krokodilen; sie werden auch in dem oberen Laufe des Amazonenstroms erst unterhalb der Katarakte von Mayasi angetroffen. Das träge Untier liebt die ruhigeren Wasser. Nach meiner Messung hat der Rio de Chamaya von der Furt (Paso) de Pucara bis zu seiner Einmündung in den Amazonenstrom unter dem Dorfe Choros, in der kleinen Entfernung von 13 geographischen Meilen, nicht weniger als 1668 Fuß Gefälle. Der Gouverneur der Provinz Jaen de Bracamoros hat mich versichert, daß auf dieser sonderbaren Wasserpost selten Briefe benetzt oder verloren werden. Ich habe in der Tat selbst bald nach meiner Rückkunft aus Mexiko in Paris auf dem eben beschriebenen Wege Briefe aus Tomependa erhalten. Viele wilde Indianerstämme, die an den Ufern des Oberen Amazonenflusses wohnen, machen ihre Reisen auf ähnliche Weise, gesellig stromabwärts schwimmend. Ich hatte Gelegenheit so 30 bis 40 Köpfe (Männer, Weiber und Kinder) aus dem Stamme der Xibaros im Flußbette bei ihrer Ankunft in Tomependa zu sehen. Der Correo que nada kehrt zu Lande zurück auf dem beschwerlichen Wege des Paramo del Paredon.

Wenn man sich dem heißen Klima des Amazonenbeckens nähert, wird man durch eine anmutige, zum Teil sehr üppige Vegetation erfreut. Schönere Zitrusbäume, meist Apfelsinen (Citrus Aurantium Risso), in geringerer Zahl bittere Pomeranzen (C. vulgaris Risso), hatten wir nie vorher, selbst nicht auf den Kanarischen Inseln oder in dem heißen Litoral von Cumana und Caracas, gesehen als in den Huertas de Pucara. Mit vielen tausend goldenen Früchten beladen, erreichen sie dort eine Höhe von 60 Fuß. Sie hatten, statt der abgerundeten Krone, fast lorbeerartig anstrebende Zweige. Unweit davon, gegen die Fort von Cavico hin, wurden wir durch einen sehr unerwarteten Anblick überrascht. Wir sahen ein Gebüsch von kleinen, kaum 18 Fuß hohen Bäumen, scheinbar nicht mit grünen, sondern mit ganz rosenroten Blättern. Es war eine neue Spezies des Geschlechts Bougainvillea, das Jussieu der Vater zuerst nach einem brasilianischen Exemplare des Commersonschen Herbariums bestimmt hatte. Die Bäume waren fast ganz ohne wirkliche Blätter; was wir für diese in der Ferne gehalten, waren dichtgedrängte, hell rosenrote Brakteen (Blüten- oder Deckblätter). Der Anblick war an Reinheit und Frische der Färbung ganz verschieden von dem, welchen mehrere unserer Waldbäume im Herbst so anmutig darbieten. Aus der südafrikanischen Familie der Proteazeen steigt hier von den kalten Höhen des Paramo de Yamoca in die heiße Ebene von Chamaya eine einzige Art herab, Rhopala ferruginea. Die feingefiederte Porlieria hygrometrica (aus den Zygophylleen), welche durch Schließen der Blättchen eine baldige Wetterveränderung, besonders den nahen Regen, mehr als alle Mimosazeen verkündigt, haben wir hier oft aufgefunden. Sie hat uns selten getäuscht.

In Chamaya fanden wir Flöße (balsas) in Bereitschaft, die uns bis Tomependa führen sollten, um dort (was für die Geographie von Südamerika wegen einer alten Beobachtung von La Condamine von einiger Wichtigkeit war) den Längen-Unterschied zwischen Quito und der Mündung des Chinchipe zu bestimmen. Wir schliefen wie gewöhnlich unter freiem Himmel an dem Sandufer (Playa de Guayanchi), am Zusammenfluß des Rio de Chamaya mit dem Amazonenstrome. Am nächsten Tage schifften wir diesen herab bis an die Katarakte und Stromenge (Pongo; in der Qquechhua-Sprache puncu, Tür oder Tor) von Rentema, wo Felsen von grobkörnigem Sandstein (Konglomerat) sich turmartig erheben und einen Felsdamm durch den Strom bilden. Ich maß eine Standlinie am flachen und sandigen Ufer und fand bei Tomependa den weiter östlich so mächtigen Amazonenfluß nur etwas über 1300 Fuß breit. In der berühmten Stromenge des Pongo von Manseritsche zwischen Santiago und San Borja, einer Gebirgsspalte, die an einigen Punkten wegen der überhangenden Felsen und des Laubdachs nur schwach erleuchtet ist und in der alles Treibholz, eine Unzahl von Baumstämmen zerschellt und verschwindet, ist die Breite nur 150 Fuß. Die Felsen, welche alle jene Pongos bilden, sind im Lauf der Jahrhunderte vielen Veränderungen unterworfen. So war der Pongo de Rentema, dessen ich oben erwähnte, durch hohe Flut ein Jahr vor meiner Reise teilweise zertrümmert worden; ja unter den Anwohnern des Amazonenflusses hat sich durch Tradition eine lebhafte Erinnerung von dem Einsturz der damals sehr hohen Felsmassen des ganzen Pongo im Anfange des 18. Jahrhunderts erhalten. Der Lauf des Flusses wurde durch jenen Einsturz und die dadurch erfolgte Abdämmung plötzlich gehemmt, und in dem unterhalb des Pongo de Rentema liegenden Dorfe Puyaya sahen die Einwohner mit Schrecken das weite Flußbette wasserleer. Nach wenigen Stunden brach der Strom wieder durch. Man glaubt nicht, daß Erdstöße die Ursach dieser merkwürdigen Erscheinung gewesen sind. Im ganzen arbeitet der gewaltige Strom unablässig, sein Bette zu verbessern, und von der Kraft, welche er auszuüben vermag, kann man sich schon dadurch eine Vorstellung machen, daß man ihn, trotz seiner Breite, bisweilen in 20 bis 30 Stunden über 25 Fuß anschwellen sieht.

Wir blieben 17 Tage in dem heißen Tale des Oberen Marañon oder Amazonenflusses. Um aus diesem an die Küste der Südsee zu gelangen, erklimmt man die Andeskette da, wo sie nach meinen magnetischen Inklinationsbeobachtungen zwischen Micuipampa und Caxamarca (Br. 6° 57' südl., Länge 80° 56') von dem magnetischen Äquator durchschnitten wird. Man erreicht, noch mehr ansteigend, die berühmten Silbergruben von Chota und beginnt von da an über das alte Caxamarca, wo vor jetzt 316 Jahren das blutigste Drama der spanischen Konquista spielte, über Aroma und Gangamarca mit einiger Unterbrechung in die peruanische Niederung herabzusteigen. Die größten Höhen sind hier, wie fast überall in der Andeskette und in den mexikanischen Gebirgen, durch turmartige Ausbrüche von Porphyr und Trachyt malerisch bezeichnet, die ersteren vorzugsweise in mächtige Säulen gespalten. Solche Massen geben teilweise dem Gebirgsrücken ein bald klippenartiges, bald domförmiges Ansehen. Sie haben hier eine Kalksteinformation durchbrochen, welche diesseits und jenseits des Äquators im Neuen Kontinent eine ungeheure Ausdehnung gewinnt und nach Leopolds von Buch großartigen Untersuchungen zur Kreideformation gehört. Zwischen Guambos und Montan, zwölftausend Fuß über dem Meere, fanden wir pelagische Muschelversteinerungen (Ammoniten von 14 Zoll Durchmesser, dem großen Pecten alatus, Austerschalen, Seeigel, Isocardien und Exogyra polygona). Eine Cidaris-Art, nach Leopold von Buch nicht zu unterscheiden von einer, die Brongniart in der alten Kreide bei der Perte du Rhône gefunden, haben wir zugleich bei Tomependa im Becken des Amazonenflusses und bei Micuipampa, in einem Höhen-Unterschiede von nicht weniger als 9900 Fuß, gesammelt. Ebenso erhebt sich in der Amuichschen Kette des kaukasischen Dagestan die Kreide von den Ufern des Sulak, kaum 500 Fuß über dem Meere, bis auf den Tschunum, auf volle 9000 Fuß Höhe, während auf dem 13090 Fuß hohen Gipfel des Schagdagh sich Ostrea diluviana Goldf. und dieselben Kreideschichten wiederfinden. Abichs treffliche kaukasische Beobachtungen bestätigen demnach auf das glänzendste Leopolds von Buch geognostische Ansichten über die alpinische Verbreitung der Kreide.

Von dem einsamen, mit Lamaherden umgebenen Meierhofe Montan stiegen wir weiter nach Süden an dem östlichen Abhange der Kordillere hinan, und gelangten in eine Hochebene, in welcher uns der Silberberg Gualgayoc, der Hauptsitz der weitberufenen Gruben von Chota, bei einbrechender Nacht einen wunderbaren Anblick gewährte. Der Cerro de Gualgayoc, durch ein tiefes, kluftartiges Tal (quebrada) vom Kalkberge Cormolatsche getrennt, ist eine isolierte Hornsteinklippe, von zahllosen, oft zusammenscharenden Silbergängen durchsetzt, gegen Norden und Westen tief, fast senkrecht, abgestürzt. Die höchsten Gruben liegen 1445 Fuß über der Sohle des Stollens, Socabon de Espinachi. Der Umriß des Berges ist durch unzählige turm- und pyramidenähnliche Spitzen und Zacken unterbrochen. Auch führt sein Gipfel den Namen Las Puntas. Diese Lagerstätte kontrastiert auf das entschiedenste mit dem »sanften Äußeren«, das der Bergmann im allgemeinen den metallreichen Gegenden zuzuschreiben pflegt. »Unser Berg«, sagte ein reicher Grubenbesitzer, mit dem wir anfuhren, »steht da, als wäre er ein Zauberschloß, como si fuese un Castillo encantado.« Der Gualgayoc erinnert einigermaßen an einen Dolomitkegel, noch mehr aber an den gespaltenen Bergrücken des Monserrate in Katalonien, den ich ebenfalls besucht und den später mein Bruder so anmutig beschrieben hat. Der Silberberg Gualgayoc ist nicht bloß bis zu seiner größten Höhe von vielen hundert, nach allen Seiten angesetzten Stollen durchlöchert, selbst die Masse des kieselartigen Gesteins bietet natürliche Spaltöffnungen dar, durch welche das in dieser Gebirgshöhe sehr dunkelblaue Himmelsgewölbe dem am Fuß des Berges stehenden Beobachter sichtbar wird. Das Volk nennt diese Öffnungen Fenster, las ventanillas de Gualgayoc; an den Trachytmauern des Vulkans von Pichincha zeigte man uns ähnliche Fenster unter gleicher Benennung als ventanillas de Pichincha. Die Sonderbarkeit eines solchen Anblicks wird noch durch viele kleine Stollhäuser und Menschenwohnungen vermehrt, die an dem Abhange des festungsartigen Berges da nesterartig hangen, wo eine kleine Bodenfläche es irgend erlaubt hat. Die Bergleute tragen die Erze auf steilen, gefährlichen Fußpfaden in Körben zu den Amalgamationsplätzen herab.


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