Alexander von Humboldt
Ansichten der Natur
Alexander von Humboldt

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Die plötzliche Erscheinung der azorischen Insel Sabrina, am 30. Januar 1811, war der Vorbote der fürchterlichen Erdstöße, welche weit westlich, vom Monat Mai 1811 bis zum Junius 1813, fast unaufhörlich, erst die Antillen, dann die Ebene des Ohio und Mississippi, und zuletzt die der Ebene gegenüberstehenden Küsten von Venezuela oder Caracas erschütterten. Dreißig Tage nach der gänzlichen Zerstörung der schönen Hauptstadt des Landes erfolgte der Ausbruch des lange ruhenden Vulkans von Sankt Vincent in den nahen Antillen. Eine merkwürdige Naturerscheinung begleitete diesen Ausbruch. In demselben Augenblick, als diese Explosion erfolgte, am 30. April 1811, wurde in Südamerika ein schreckenerregendes unterirdisches Getöse in einem Landstrich von 2200 geographischen Quadratmeilen vernommen. Die Anwohner des Apure, beim Einfluß des Rio Nula, verglichen dies Getöse, ebenso als die fernsten Küstenbewohner von Venezuela, mit der Wirkung schweren Geschützes. Nun werden aber von dem Einfluß des Rio Nula in den Apure, durch welchen ich in den Orinoco gekommen bin, bis zum Vulkan von Sankt Vincent in gerader Richtung 157 geographische Meilen gezählt. Dies Getöse, welches sich gewiß nicht durch die Lüfte fortpflanzte, muß eine tiefe unterirdische Ursache gehabt haben. Seine Intensität war kaum größer an den Küsten des antillischen Meeres, dem ausbrechenden Vulkan näher, als in dem Innern des Landes, in dem Flußbecken des Apure und Orinoco.

Es würde zwecklos sein, die Zahl solcher Beispiele, die ich gesammelt, zu vermehren; aber um an eine Erscheinung zu erinnern, die für Europa historisch wichtiger geworden ist, gedenke ich nur noch des bekannten Erdbebens von Lissabon. Gleichzeitig mit demselben, am 1. Nov. 1755, wurden nicht nur die Schweizer Seen und das Meer an den schwedischen Küsten heftig bewegt; selbst in den östlichen Antillen, um Martinique, Antigua und Barbados, wo sie nie über 28 Zoll erreicht, stieg die Flut plötzlich zwanzig Fuß hoch. Alle diese Phänomene beweisen, daß die unterirdischen Kräfte entweder dynamisch, spannend und erschütternd in Erdbeben, oder produzierend und chemisch verändernd in den Vulkanen sich äußern. Sie beweisen auch, daß diese Kräfte nicht oberflächlich, aus der dünnen Erdrinde, sondern tief aus dem Innern unseres Planeten durch Klüfte und unausgefüllte Gänge nach den entferntesten Punkten der Erdfläche gleichzeitig hinwirken.

Je mannigfaltiger der Bau der Vulkane, d. h. der Erhebungen ist, welche den Kanal umschließen, durch den die geschmolzenen Massen des inneren Erdkörpers an die Oberfläche gelangen, desto wichtiger ist es, diesen Bau mittelst genauer Messungen zu ergründen. Das Interesse dieser Messungen, die in einem andern Weltteile ein besonderer Gegenstand meiner Untersuchungen gewesen sind, wird durch die Betrachtung erhöht, daß das zu Messende an vielen Punkten eine veränderliche Größe ist. Die philosophische Naturkunde ist bemüht, in dem Wechsel der Erscheinungen die Gegenwart an die Vergangenheit anzureihen.

Um eine periodische Wiederkehr oder überhaupt die Gesetze fortschreitender Naturveränderungen zu ergründen, bedarf es gewisser fester Punkte, sorgfältig angestellter Beobachtungen, die, an bestimmte Epochen gebunden, zu numerischen Vergleichungen dienen können. Hätte auch nur von tausend zu tausend Jahren die mittlere Temperatur des Luftkreises und der Erde in verschiedenen Breiten oder die mittlere Höhe des Barometers an der Meeresfläche bestimmt werden können, so würden wir wissen, in welchem Verhältnis die Wärme der Klimate zu- oder abgenommen, ob die Höhe der Atmosphäre Veränderungen erlitten hat. Eben dieser Vergleichungspunkte bedarf man für die Neigung und Abweichung der Magnetnadel, wie für die Intensität der magnetisch-elektrischen Kräfte, über welche im Kreise dieser Akademie zwei treffliche Physiker, Seebeck und Erman, ein so großes Licht verbreitet haben. Wenn es ein rühmliches Geschäft gelehrter Gesellschaften ist, den kosmischen Veränderungen der Wärme, des Luftdrucks, der magnetischen Richtung und Ladung beharrlich nachzuspüren, so ist es dagegen die Pflicht des reisenden Geognosten, bei Bestimmung der Unebenheiten der Erdoberfläche hauptsächlich auf die veränderliche Höhe der Vulkane Rücksicht zu nehmen. Was ich vormals in den mexikanischen Gebirgen, am Volcan de Toluca, am Popocatepetl, am Cofre de Perote oder Nauhcampatepetl und am Xorullo, was ich in den Andes von Quito am Pichincha versucht, habe ich Gelegenheit gehabt, seit meiner Rückkehr nach Europa, zu verschiedenen Epochen am Vesuv zu wiederholen. Wo vollständige trigonometrische oder barometrische Messungen fehlen, können sie schon durch scharf gefaßte Höhenwinkel, die an genau bestimmten Punkten genommen sind, ersetzt werden. Die Vergleichung solcher in verschiedenen Zeitepochen gemessenen Höhenwinkel kann oft sogar der Komplikation vollständiger Operationen vorzuziehen sein.

Saussure hatte den Vesuv im Jahr 1773 zu einer Zeit gemessen, wo beide Ränder des Kraters, der nordwestliche und südöstliche, ihm gleich hoch schienen. Er fand ihre Höhe über der Meeresfläche 609 Toisen oder 3654 Pariser Fuß. Die Eruption von 1794 verursachte einen Absturz gegen Süden, die Ungleichheit der Kraterränder, welche das ungeübteste Auge selbst in großer Entfernung unterscheidet. Wir maßen, Leopold von Buch, Gay-Lussac und ich, im Jahr 1805 den Vesuv dreimal, und fanden den nördlichen Rand, der der Somma gegenüber steht, la Rocca del Palo, genau wie Saussure, den südlichen Rand aber 75 Toisen (450 F.) niedriger als 1773. Die ganze Höhe des Vulkans hatte damals gegen Torre del Greco hin (nach einer Seite, gegen welche seit 30 Jahren das Feuer gleichsam vorzugsweise hinwirkt) um 1 / 8 abgenommen. Der Aschenkegel verhält sich zur ganzen Höhe des Berges am Vesuv wie 1 zu 3, am Pichincha wie 1 zu 10, am Pic von Teneriffa wie 1 zu 22. Der Vesuv hat also von diesen drei Feuerbergen verhältnismäßig den höchsten Aschenkegel; wahrscheinlich schon darum, weil er, als ein niedriger Vulkan, am meisten durch seinen Gipfel gewirkt hat.

Vor wenigen Monaten (des Jahres 1822) ist es mir geglückt, nicht bloß meine früheren Barometermessungen am Vesuv zu wiederholen, sondern auch, bei dreimaliger Besteigung des Berges, eine vollständigere Bestimmung aller Kraterränder zu unternehmen. Diese Arbeit verdient vielleicht darum einiges Interesse, weil sie die lange Epoche großer Eruptionen zwischen 1805 und 1822 umfaßt und vielleicht die einzige in allen ihren Teilen vergleichbare Messung ist, welche man bisher von irgendeinem Vulkan bekanntgemacht hat. Sie beweist, daß die Ränder der Krater, nicht bloß da, wo sie (wie am Pic von Teneriffa und an allen Vulkanen der Andeskette) sichtbar aus Trachyt bestehen, sondern überall ein weit beständigeres Phänomen sind, als man bisher nach flüchtig angestellten Beobachtungen geglaubt hat. Nach meinen letzten Bestimmungen hat sich der nordwestliche Rand des Vesuvs seit Saussure, also seit 49 Jahren, vielleicht gar nicht, der südöstliche Rand, gegen Bosche Tre Case hin, welcher 1794 um 400 Fuß niedriger ward, kaum um 10 Toisen (60 F.) verändert.

Wenn man in öffentlichen Blättern, bei der Beschreibung großer Auswürfe, so oft der gänzlich veränderten Gestalt des Vesuvs erwähnt findet; wenn man diese Behauptungen durch die pittoresken Ansichten bewährt glaubt, welche in Neapel von dem Berge entworfen werden: so liegt die Ursache des Irrtums darin, daß man die Umrisse der Kraterränder mit den Umrissen der Auswurfskegel verwechselt, welche zufällig in der Mitte des Kraters auf dem, durch Dämpfe gehobenen Boden des Feuerschlundes sich bilden. Ein solcher Auswurfskegel, von Rapilli und Schlacken locker aufgetürmt, war in den Jahren 1816 und 1818 allmählich über dem südöstlichen Kraterrand sichtbar geworden. Die Eruption vom Monat Februar 1822 hatte ihn dergestalt vergrößert, daß er selbst 100 bis 110 Fuß höher als der nordwestliche Kraterrand (die Rocca del Palo) geworden war. Dieser merkwürdige Kegel nun, den man sich in Neapel als den eigentlichen Gipfel des Vesuvs zu betrachten gewöhnt hatte, ist bei dem letzten Auswurf, in der Nacht vom 22. Oktober, mit furchtbarem Krachen eingestürzt: so daß der Boden des Kraters, der seit 1811 ununterbrochen zugänglich war, gegenwärtig 750 Fuß tiefer liegt als der nördliche, 200 Fuß tiefer als der südliche Rand des Vulkans. Die veränderliche Gestalt und relative Lage der Auswurfskegel, deren Öffnungen man ja nicht, wie so oft geschieht, mit dem Krater des Vulkans verwechseln muß, gibt dem Vesuv zu verschiedenen Epochen eine eigentümliche Physiognomie; und der Historiograph des Vulkans könnte aus dem Umriß des Berggipfels, nach dem bloßen Anblicke der Hackertschen Landschaften im Palaste von Portici, je nachdem die nördliche oder südliche Seite des Berges höher angedeutet ist, das Jahr erraten, in welchem der Künstler die Skizze zu seinem Gemälde entworfen hat.

Einen Tag nach dem Einsturz des 400 Fuß hohen Schlackenkegels, als bereits die kleinen, aber zahlreichen Lavaströme abgeflossen waren, in der Nacht vom 23. zum 24. Oktober, begann der feurige Ausbruch der Asche und der Rapilli. Er dauerte ununterbrochen 12 Tage fort, doch war er in den ersten 4 Tagen am größten. Während dieser Zeit wurden die Detonationen im Innern des Vulkanes so stark, daß die bloße Erschütterung der Luft (von Erdstößen hat man durchaus nichts gespürt) die Decken der Zimmer im Palaste von Portici sprengte. In den nahegelegenen Dörfern Resina, Torre del Greco, Torre dell'Annunziata und Bosche Tre Case zeigte sich eine merkwürdige Erscheinung. Die Atmosphäre war dermaßen mit Asche erfüllt, daß die ganze Gegend, in der Mitte des Tages, mehrere Stunden lang in das tiefste Dunkel gehüllt blieb. Man ging mit Laternen in den Straßen, wie es so oft in Quito, bei den Ausbrüchen des Pichincha, geschieht. Nie war die Flucht der Einwohner allgemeiner gewesen. Man fürchtet Lavaströme weniger als einen Aschenauswurf: ein Phänomen, das in solcher Stärke hier unbekannt ist und durch die dunkle Sage von der Zerstörungsweise von Herculanum, Pompeji und Stabiä die Einbildungskraft der Menschen mit Schreckbildern erfüllt.

Der heiße Wasserdampf, welcher während der Eruption aus dem Krater aufstieg und sich in die Atmosphäre ergoß, bildete beim Erkalten ein dickes Gewölk um die neuntausend Fuß hohe Aschen- und Feuersäule. Eine so plötzliche Kondensation der Dämpfe und, wie Gay-Lussac gezeigt hat, die Bildung des Gewölkes selbst vermehrten die elektrische Spannung. Blitze fuhren schlängelnd nach allen Richtungen aus der Aschensäule umher, und man unterschied deutlich den rollenden Donner von dem inneren Krachen des Vulkans. Bei keinem andern Ausbruche war das Spiel der elektrischen Schläge so auffallend gewesen.

Am Morgen des 26. Oktobers verbreitete sich die sonderbare Nachricht: ein Strom siedenden Wassers ergieße sich aus dem Krater und stürze am Aschenkegel herab. Monticelli, der eifrige und gelehrte Beobachter des Vulkans, erkannte bald, daß eine optische Täuschung dies irrige Gerücht veranlaßt habe. Der vorgebliche Strom war eine große Menge trockener Asche, die aus einer Kluft in dem obersten Rande des Kraters, wie Triebsand, hervorschoß. Nachdem eine die Felder verödende Dürre dem Ausbruch des Vesuvs vorangegangen war, erregte, gegen das Ende desselben, das eben beschriebene vulkanische Gewitter einen wolkenbruchartigen, aber lange anhaltenden Regen. Solch eine Erscheinung charakterisiert, unter allen Zonen, das Ende einer Eruption. Da während derselben gewöhnlich der Aschenkegel in Wolken gehüllt ist und da in seiner Nähe die Regengüsse am stärksten sind, so sieht man Schlammströme von allen Seiten herabfliegen. Der erschrockene Landmann hält dieselben für Wasser, die aus dem Innern des Vulkans aufsteigen und sich durch den Krater ergießen; der getäuschte Geognost glaubt in ihnen Meerwasser zu erkennen oder kotartige Erzeugnisse des Vulkans, sogenannte Éruptions boueuses, oder, nach der Sprache alter französischer Systematiker, Produkte einer feurig-wässrigen Liquefaction.

Wenn die Gipfel der Vulkane (und dies ist meist in der Andeskette der Fall) über die Schneeregion hinausreichen oder gar bis zur zwiefachen Höhe des Ätna anwachsen, so werden, des geschmolzenen und einsinternden Schnees wegen, die soeben beschriebenen Inundationen überaus häufig und verwüstend. Es sind Erscheinungen, die mit den Eruptionen der Vulkane meteorologisch zusammenhängen und durch die Höhe der Berge, den Umfang ihrer stets beschneiten Gipfel und die Erwärmung der Wände der Aschenkegel vielfach modifiziert werden; aber als eigentliche vulkanische Erscheinungen dürfen sie nicht betrachtet werden. In weiten Höhlen, bald am Abhange, bald am Fuß der Vulkane, entstehen unterirdische Seen, die mit den Alpenbächen vielfach kommunizieren. Wenn Erdstöße, welche allen Feuerausbrüchen der Andeskette vorhergehen, die ganze Masse des Vulkans mächtig erschüttern, so öffnen sich die unterirdischen Gewölbe, und es entstürzen ihnen zugleich Wasser, Fische und tuffartiger Schlamm. Dies ist die sonderbare Erscheinung, welche der Wels der Cyclopen (Pimelodes Cyclopum) gewährt, den die Bewohner des Hochlandes von Quito Prefiadilla nennen und den ich, kurz nach meiner Rückkunft, beschrieben habe. Als nördlich vom Chimborazo in der Nacht vom 19. zum 20. Junius 1698 der Gipfel des 18 000 Fuß hohen Berges Carguairazo einstürzte, da bedeckten Schlamm und Fische, auf fast zwei Quadratmeilen, alle Felder umher. Ebenso wurden, sieben Jahre früher, die Faulfieber der Stadt Ibarra einem ähnlichen Fischauswurfe des Vulkans Imbaburu zugeschrieben.


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