Alexander von Humboldt
Ansichten der Natur
Alexander von Humboldt

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Über die Wasserfälle des Orinoco bei Atures und Maipures

In dem vorigen Abschnitte, welchen ich zum Gegenstand einer akademischen Vorlesung gemacht, habe ich die unermeßlichen Ebenen geschildert, deren Naturcharakter durch klimatische Verhältnisse mannigfaltig modifiziert wird und die bald als pflanzenleere Räume (Wüsten), bald als Steppen oder weitgedehnte Grasfluren erscheinen. Mit den Llanos, im südlichen Teile des Neuen Kontinents, kontrastieren die furchtbaren Sandmeere, welche das Innere von Afrika einschließt, mit diesen die Steppen von Mittelasien, der Wohnsitz weltbestürmender Hirtenvölker, die einst, von Osten her gedrängt, Barbarei und Verwüstung über die Erde verbreitet haben.

Wenn ich damals (1806) es wagte, große Massen in ein Naturgemälde zu vereinigen, und eine öffentliche Versammlung mit Gegenständen zu unterhalten, deren Kolorit der trüben Stimmung unseres Gemüts entsprach, so werde ich jetzt, auf einen engeren Kreis von Erscheinungen eingeschränkt, das freundlichere Bild eines üppigen Pflanzenwuchses und schäumender Flußtäler entwerfen. Ich beschreibe zwei Naturszenen aus den Wildnissen der Guyana: Atures und Maipures, die weitberufenen, aber vor mir von wenigen Europäern besuchten Wasserfälle des Orinoco.

Der Eindruck, welchen der Anblick der Natur in uns zurückläßt, wird minder durch die Eigentümlichkeit der Gegend als durch die Beleuchtung bestimmt, unter der Berg und Flur, bald bei ätherischer Himmelsbläue, bald im Schatten tiefschwebenden Gewölkes, erscheinen. Auf gleiche Weise wirken Naturschilderungen stärker oder schwächer auf uns ein, je nachdem sie mit den Bedürfnissen unserer Empfindung mehr oder minder in Einklang stehen. Denn in dem innersten, empfänglichen Sinne spiegelt lebendig und wahr sich die physische Welt. Was den Charakter einer Landschaft bezeichnet: Umriß der Gebirge, die in duftiger Ferne den Horizont begrenzen, das Dunkel der Tannenwälder, der Waldstrom, welcher tobend zwischen überhangende Klippen hinstürzt: alles steht in altem, geheimnisvollem Verkehr mit dem gemütlichen Leben des Menschen.

Auf diesem Verkehr beruht der edlere Teil des Genusses, den die Natur gewährt. Nirgends durchdringt sie uns mehr mit dem Gefühl ihrer Größe, nirgends spricht sie uns mächtiger an als in der Tropenwelt: unter dem »indischen Himmel«, wie man im frühen Mittelalter das Klima der heißen Zone benannte. Wenn ich es daher wage, diese Versammlung aufs neue mit einer Schilderung jener Gegenden zu unterhalten, so darf ich hoffen, daß der eigentümliche Reiz derselben nicht ungefühlt bleiben wird. Die Erinnerung an ein fernes, reichbegabtes Land, der Anblick eines freien, kraftvollen Pflanzenwuchses erfrischt und stärkt das Gemüt, wie, von der Gegenwart bedrängt, der emporstrebende Geist sich gern des Jugendalters der Menschheit und ihrer einfachen Größe erfreut.

Westliche Strömung und tropische Winde begünstigen die Fahrt durch den friedlichen Meeresarm, der das weite Tal zwischen dem Neuen Kontinent und dem westlichen Afrika erfüllt. Ehe noch die Küste aus der hochgewölbten Fläche hervortritt, bemerkt man ein Aufbrausen sich gegenseitig durchschneidender und überschäumender Wellen. Schiffer, welche der Gegend unkundig sind, würden die Nähe von Untiefen oder ein wunderbares Ausbrechen süßer Quellen wie mitten im Ozean zwischen den antillischen Inseln vermuten.

Der Granitküste der Guyana näher, erscheint die weite Mündung eines mächtigen Stromes, welcher wie ein uferloser See hervorbricht und rund umher den Ozean mit süßem Wasser überdeckt. Die grünen, aber auf den Untiefen milchweißen Wellen des Flusses kontrastieren mit der indigblauen Farbe des Meeres, die jene Flußwellen in scharfen Umrissen begrenzt.

Der Name Orinoco, welchen die ersten Entdecker dem Flusse gegeben und der wahrscheinlich einer Sprachverwirrung seinen Ursprung verdankt, ist tief im Innern des Landes unbekannt. Im Zustande tierischer Roheit bezeichnen die Völker nur solche Gegenstände mit eigenen geographischen Namen, welche mit andern verwechselt werden können. Der Orinoco, der Amazonen- und Magdalenen-Strom werden schlechthin der Fluß, allenfalls der große Fluß, das große Wasser genannt: während die Uferbewohner die kleinsten Bäche durch besondere Namen unterscheiden.

Die Strömung, welche der Orinoco zwischen dem südamerikanischen Kontinent und der asphaltreichen Insel Trinidad erregt, ist so mächtig, daß Schiffe, die bei frischem Westwinde mit ausgespannten Segeln dagegen anstreben, sie kaum zu überwinden vermögen. Diese öde und gefürchtete Gegend wird die Trauerbucht (Golfo triste) genannt. Den Eingang bildet der Drachenschlund (boca del Drago). Hier erheben sich einzelne Klippen turmähnlich zwischen der tobenden Flut. Sie bezeichnen gleichsam den alten Felsdamm, welcher von der Strömung durchbrochen, die Insel Trinidad mit der Küste Paria vereinigte.

Der Anblick dieser Gegend überzeugte zuerst den kühnen Weltentdecker Colon von der Existenz eines amerikanischen Kontinents. »Eine so ungeheure Masse süßen Wassers (schloß der naturkundige Mann) könnte sich nur bei großer Länge des Stromes sammeln. Das Land, welches diese Wasser liefere, müsse ein Kontinent und keine Insel sein.« Wie die Gefährten Alexanders, über den schneebedeckten Paropanisus vordrängend, nach Arrian in dem krokodilreichen Indus einen Teil des Nils zu erkennen glaubten, so wähnte Colon, der physiognomischen Ähnlichkeit aller Erzeugnisse des Palmenklimas unkundig, daß jener Neue Kontinent die östliche Küste des weit vorgestreckten Asiens sei. Milde Kühle der Abendluft, ätherische Reinheit des gestirnten Firmaments, Balsamduft der Blüten, welchen der Landwind zuführte: alles ließ ihn ahnden (so erzählt Herrera in den Decaden), daß er sich hier dem Garten von Eden, dem heiligen Wohnsitz des ersten Menschengeschlechts genähert habe. Der Orinoco schien ihm einer von den vier Strömen, welche nach der ehrwürdigen Sage der Vorwelt von dem Paradiese herabkommen, um die mit Pflanzen neugeschmückte Erde zu wässern und zu teilen. Diese poetische Stelle aus Colons Reisebericht, oder vielmehr aus einem Briefe an Ferdinand und Isabella aus Haiti (Oktober 1498), hat ein eigentümliches psychisches Interesse. Sie lehrt aufs neue, daß die schaffende Phantasie des Dichters sich im Weltentdecker, wie in jeglicher Größe menschlicher Charaktere, ausspricht.

Wenn man die Wassermenge betrachtet, die der Orinoco dem atlantischen Ozean zuführt, so entsteht die Frage: welcher der südamerikanischen Flüsse, ob der Orinoco, der Amazonen- oder La-Plata-Strom, der größte sei? Die Frage ist unbestimmt wie der Begriff von Größe selbst. Die weiteste Mündung hat der Rio de la Plata, dessen Breite 23 geogr. Meilen beträgt. Aber dieser Fluß ist, wie die englischen Flüsse, verhältnismäßig von einer geringeren Länge. Seine unbeträchtliche Tiefe wird schon bei der Stadt Buenos Aires der Schiffahrt hinderlich. Der Amazonenstrom ist der längste aller Flüsse. Von seinem Ursprung im See Lauricocha bis zu seinem Ausfluß beträgt sein Lauf 720 geogr. Meilen. Dagegen ist seine Breite in der Provinz Jaen de Bracamoros bei der Katarakte von Rentama, wo ich ihn unterhalb des pittoresken Gebirges Patachuma maß, kaum gleich der Breite unsers Rheines bei Mainz.

Wie der Orinoco bei seiner Mündung schmäler ist als der La-Plata- und Amazonen-Strom, so beträgt auch seine Länge, nach meinen astronomischen Beobachtungen, nur 280 geogr. Meilen. Dagegen fand ich tief im Innern der Guyana, 140 Meilen von der Mündung entfernt, bei hohem Wasserstande den Fluß noch über 16 200 Fuß breit. Sein periodisches Anschwellen erhebt dort den Wasserspiegel jährlich 28 bis 34 Fuß hoch über den Punkt des niedrigsten Standes. Zu einer genauen Vergleichung der ungeheuren Ströme, welche den südamerikanischen Kontinent durchschneiden, fehlt es bisher an hinlänglichen Materialien. Um dieselbe anzustellen, müßte man das Profil des Strombettes und seine in jedem Teile so verschiedene Geschwindigkeit kennen.

Zeigt der Orinoco in dem Delta, welches seine vielfach geteilten, noch unerforschten Arme einschließen, in der Regelmäßigkeit seines Anschwellens und Sinkens, in der Menge und Größe seiner Krokodile mannigfaltige Ähnlichkeit mit dem Nilstrome, so sind beide auch darin einander analog, daß sie lange als brausende Waldströme zwischen Granit- und Syenitgebirgen sich durchwinden, bis sie, von baumlosen Ufern begrenzt, langsam, fast auf söhliger Fläche, hinfließen. Von dem berufenen Bergsee bei Gondar der abessinischen Gojam-Alpen, bis Syene und Elephantine hin, dringt ein Arm des Nils (der grüne, Bahr el-Azrek) durch die Gebirge von Schangalla und Sennaar. Ebenso entspringt der Orinoco an dem südlichen Abfalle der Bergkette, welche sich unter dem 4. und 5. Grade nördlicher Breite, von der französischen Guyana aus, westlich gegen die Andes von Neu-Granada vorstreckt. Die Quellen des Orinoco sind von keinem Europäer, ja von keinem Eingebornen, der mit den Europäern in Verkehr getreten ist, besucht worden.

Als wir im Sommer 1800 den Ober-Orinoco beschifften, gelangten wir jenseits der Mission der Esmeralda zu den Mündungen des Sodomoni und Guapo. Hier ragt hoch über den Wolken der mächtige Gipfel des Yeonnamari oder Duida hervor: ein Berg, der nach meiner trigonometrischen Messung sich 8278 Fuß über den Meeresspiegel erhebt und dessen Anblick eine der herrlichsten Naturszenen der Tropenwelt darbietet. Sein südlicher Abfall ist eine baumleere Grasflur. Dort erfüllen weit umher Ananasdüfte die feuchte Abendluft. Zwischen niedrigen Wiesenkräutern erheben sich die saftstrotzenden Stengel der Bromelien. Unter der blaugrünen Blätterkrone leuchtet fernhin die goldgelbe Frucht. Wo unter der Grasdecke die Bergwasser ausbrechen, da stehen einzelne Gruppen hoher Fächerpalmen. Ihr Laub wird in diesem heißen Erdstriche nie von kühlenden Luftströmen bewegt.

Östlich vom Duida beginnt ein Dickicht von wilden Kakaostämmen, welche den berufenen Mandelbaum, Bertholletia excelsa, das kraftvollste Erzeugnis der Tropenwelt, umgeben. Hier sammeln die Indianer das Material zu ihren Blasröhren: kolossale Grasstengel, die von Knoten zu Knoten über 17 Fuß lange Glieder haben. Einige Franziskanermönche sind bis zur Mündung des Chiguire vorgedrungen, wo der Fluß bereits so schmal ist, daß die Eingebornen über denselben, nahe am Wasserfall der Guahariben, aus rankenden Pflanzen eine Brücke geflochten haben. Die Guaicas, eine weißliche, aber kleine Menschenrasse, mit vergifteten Pfeilen bewaffnet, verwehren das weitere Vordringen gegen Osten.

Daher ist alles fabelhaft, was man von dem Ursprunge des Orinoco aus einem See vorgegeben. Vergebens sucht man in der Natur die Lagune des Dorado, welche noch Arrowsmiths Karten als ein 20 geogr. Meilen langes inländisches Meer bezeichnen. Sollte der mit Schilf bedeckte kleine See Amucu, bei welchem der Pirara (ein Zweig des Mahu) entspringt, die Mythe veranlaßt haben? Dieser Sumpf liegt indes 4 Grad östlicher als die Gegend, in welcher man die Orinocoquellen vermuten darf. In ihn versetzte man die Insel Pumacena: einen Fels von Glimmerschiefer, dessen Glanz seit dem 16. Jahrhundert in der Fabel des Dorado eine denkwürdige, für die betrogene Menschheit oft verderbliche Rolle gespielt hat.

Nach der Sage vieler Eingebornen sind die Magellanischen Wolken des südlichen Himmels, ja die herrlichen Nebelflecken des Schiffes Argo[Argo: Ein Sternbild des Südhimmels, heute unter den Namen seiner Bestandteile Puppis, Carina, Vela und Pyxis bekannt.], ein Wiederschein von dem metallischen Glanze jener Silberberge der Parime. Auch ist es eine uralte Sitte dogmatisierender Geographen, alle beträchtlichen Flüsse der Welt aus Landseen entstehen zu lassen.

Der Orinoco gehört zu den sonderbaren Strömen, die, nach mannigfaltigen Wendungen gegen Westen und Norden, zuletzt dergestalt gegen Osten zurücklaufen, daß sich ihre Mündung fast in einem Meridian mit ihren Quellen befindet. Vom Chiguire und Gehette bis zum Guaviare hin ist der Lauf des Orinoco westlich, als wolle er seine Wasser dem Stillen Meere zuführen. In dieser Strecke sendet er gegen Süden den in Europa wenig bekannten Cassiquiare, einen merkwürdigen Arm aus, welcher sich mit dem Rio Negro oder (wie ihn die Eingebornen nennen) mit dem Guainia vereinigt: das einzige Beispiel einer Bifurkation im Innersten eines Kontinents, einer natürlichen Verbindung zwischen zwei großen Flußtälern.


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