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Gehetzt vom Gedanken eines begangenen Mordes, rannte Florian über den leeren Hof und hastete stolpernd und zuweilen auf allen vieren die finsteren Treppen hinan. Er war im oberen Stockwerk. Wo ist denn da die Stiege zum Speicher? Er drehte sich langsam nach allen Seiten mit ausgestreckten tastenden Armen, denn nach zweijähriger Abwesenheit und in der Bestürzung des Augenblicks war ihm in der rabenschwarzen Finsternis die Kenntnis des Orts entfallen. Richtig, linker Hand am unteren Gangende! Aber wo ist jetzt links oder rechts? In Gottes Namen auf gut Glück vorwärts! Er ging ein paar hastige Schritte, da mußte irgend ein Schaff oder sonst ein Gerät in der Eile der Festvorbereitungen von einer faulen Magd vergessen worden sein. Florian lag gestreckter Länge mit wunden Knieen auf dem stockdunklen Flur. Er richtete sich nicht auf, sondern blieb trostlos, von Angst, Wut und Schmerz gedrückt, liegen und biß sich, einen Fluch verschluckend, in die Lippen. Da war's ihm mit einem Mal, als hörte er's über den Hof herankommen mit dumpfem Lärm. Das sind gewiß die Gerichtsdiener! Und schon schwebte das Schreckensbild des Schafotts in seine wirren Gedanken. Er hob die unter kaltem Angstschweiß pochende Stirn und riß mit aller Gewalt die Augen weit auf, ob denn nicht doch ein Ausweg zu sehen wäre. Da, da – was ist das am Boden, fünf Schritt weit neben ihm? Ein kleiner kaum merklicher Streifen Licht! Ja, ja, das ist der Urschi Zimmer! Sie wacht noch!
»Urschi, Urschi,« flüsterte er leise, mit zitternden Fingern klopfend. »Urschi, um Christi willen und aller Heiligen! Urschi, mach' auf! Ich hab' den Schmidhuber erschlagen, weil mi die Lieb zu dir ganz unsinnig g'macht hat, und wenn d' net aufmachst, so finden's mich und schleppen mich vor die G'schworenen und schlagen mir'n Schädel runter!«
Vorsichtig leise öffnete sich die Tür fingerbreit, Florian aber stieß sie hastig auf, und Urschi hinderte nicht, daß er sie ebenso rasch verriegelte, denn alle anfangs aufgetauchten Zweifel schwanden, wie sie das entsetzte blutbespritzte Angesicht betrachtete.
»Um Gottes willen, Flori, wirf doch das schreckhafte Ding da weg!«
Der Angeredete merkte erst jetzt, daß er noch immer den Henkel des zerschmetterten Maßkrugs, an welchem der Deckel nur lose herabschlenkerte und Blut und eingeklemmte Haare sichtbar waren, in der Faust hielt. Denn selbst im Fallen hatte er ihn in unbewußter Sorgfalt, keine Spur von seiner Flucht zu hinterlassen, nicht verloren.
Urschi, die noch vollständig angekleidet war, nur daß sie Nadeln und Ohrringe abgelegt hatte, verbarg flink das Corpus delicti in ihrer Kleiderlade und wusch dann sachte dem Übeltäter, der halb bewußtlos sich auf ihrer Truhe niedergelassen hatte, das Angesicht.
»Aber Florian,« sprach sie, »da kannst du ja nicht bleiben die ganze Nacht.«
»No ja, wenn d' meinst,« erwiderte er, der jetzt erst die Augen um sich wandern ließ und sich zu besinnen schien, wo er denn eigentlich war: »wenn d' meinst, daß's gescheiter is, daß's mich fassen? mir is schon auch bald alles eins. Du magst mi doch net und i hab' dich so lieb, daß i net leb'n will ohne dich. Also auf da! und lieber morgen auf ein'n Hieb als übers Jahr hinter der Kirch', wo d' Hochzeit machst!«
Damit war er aufgestanden und drehte den Schlüssel im Schloß um.
Ursula aber sprang auf ihn zu, und indem sie sich wild an seinen Hals klammerte und bitterlich weinte, sprach sie: »O Flori, Flori, wie kannst denn so reden? Du weißt ja recht gut und du weißt's auch schon so lang, so lang, daß's nix auf der weiten Welt gibt, was i so lieb hab' wie dich, und daß i net von dir mehr lass' und wenn auch alles aufsteht wider uns! Du weißt's recht wohl, aber du bist ein so harter Trotzkopf worden beim Militär, und weil d' so garstig warst gegen mi, bin i vom Tanzboden gangen und hab' g'weint und bet't, bet't und g'weint bis jetzt, weil i glaubt hab', du möcht'st mi nimmer.«
Florian umhalste seinen Schatz und bedeckte seinen Mund mit Küssen, da dröhnte es plötzlich dumpfpolternd und mit wirrem Geschrei im untern Stockwerk und deutlich konnte man einzelne Verwünschungen betrunkener Freunde der Gerechtigkeit oder Verwandter des Hachingers aus dem brausenden Durcheinander unterscheiden, das nun auch der Treppe zu nahen schien.
Den beiden Liebenden stand mitten in ihrer Herzensseligkeit der Atem still. Urschi wand sich eilig aus den Armen Florians und wies mit stummem, aber entschiedenem Wink unter ihre Bettstelle. Während der Verfolgte sich mühsam unter die niedere Lade verkroch, trat sein Schatz an den Kasten vor, um das Licht auszulöschen. Da kam ihr plötzlich eine Angst, die sie bisher noch nie berührt hatte; glühende Röte überflog ihre Wangen. Nachdenklich ihr Haar losbindend und den Hornkamm neben sich auf das Tischchen legend, stellte sie sich horchend an die Türe.
Es schien ein Trupp von acht oder zehn stark angetrunkenen Burschen zu sein, die stolpernd und fluchend und mit fortwährend wiederholten Rufen: »Wo is der Kerl? Raus mit ihm! Hin muß er werden!« auf dem Gang herumpolterten, an alle Türen schlugen und an allen Schlössern herumdrehten. Nun standen sie vor der Urschi Schlafzimmer und fingen an so unmenschlich gegen die Türbretter zu schlagen, daß das Mädchen, welches bisher Stillebleiben für geratener gehalten hatte, aus Angst, im nächsten Augenblick das krachende Holz unter den wütenden Fäusten der Betrunkenen bersten zu sehen, laut aufschrie, was denn solch Toben mitten in der Nacht bedeuten solle. Kaum aber waren diese Worte ausgesprochen, als sie ein dumpfes Rollen wie von einem fallenden Körper vernahm und dazu die Stimme ihres Vaters, davor alles Poltern und Schreien der übrigen verstummte.
»Ihr Himmelsakramenter,« fluchte der Böswirt, »wollt ihr Ruh' geben auf der Stell', oder ich schmeiß' euch dem Kumpan da nach! Euer roter Stier is an dem bißel Maßkrug no lang net draufgangen. Der sitzt drunten mit sein'm eingebundnen Schädel und sauft in die Nacht a Loch, bis der Tag durchscheint. Gehst nunter, sag' i!«
Unverständlich brummend zogen die Betrunkenen ab. Nach einer Weile hörte Urschi den Vater wieder.
»So!« sagte er, als es ganz still geworden war, »Urschi, mach' auf!«
Das Mädchen fuhr sich ratlos über die Stirn und zögerte, aber des Alten Finger wetterte heftig an der Tür und mit zorniger Ungeduld schrie er: »Hörst net? Aufmachen sollst, wenn i dir's sag'!«
Urschi schlug ein Kreuz und gehorchte.
»Haben's dich verrückt g'macht mit ihrem Skandal?« sagte der Eingetretene und streichelte begütigend die Wangen seines verwirrten Kindes.
Das erste, was Ursula hervorbrachte, war: »Also is's g'wiß? Lebt der Rote noch und is er munter?«
Kaum aber, daß sie diese Worte ausgesprochen hatte, erschrak sie über ihre Unvorsichtigkeit, denn woher konnte sie wissen, was dem Hachinger widerfahren war? Indessen fiel das dem Alten gar nicht auf; er wußte ja nicht, wie viel oder wie wenig die Polterer auf dem Gang geschwatzt hatten, und so fing er an, sie ausführlich über das Befinden ihres Tänzers zu beruhigen, und erzählte, wie dieser immer nach dem Florian rufe, mit dem er Bruderschaft trinken wolle, denn der habe ihm ganz recht getan und sei ein Teufelskerl.
»Mir aber liegt der Teufelskerl,« so schloß der Böswirt, »ganz gut auf'm Boden oben. Er soll sich nur a bißel fürchten, bis's Tag wird; dös is die Straf' für sein'n Übermut. Übrigens is er a ganzer Kamerad word'n drin in der Stadt, und a hübscher Bursch is er auch. Die Madeln, die hab'n net wen'g nach ihm g'schaut! Mei, mei, der arme Teufel, der Florian!«
Der Böswirt verfiel in Nachdenken, und da es schwül in der engen Stube war, öffnete er das Fenster.
Es war eine warme Nacht; im Westen stieg ein breites Gewitter auf und ferne Blitze zuckten durch die Schwüle. Durch das offene Fenster strömte voller frischer Fliedergeruch und von des Nachbars Hof herüber schollen die quellenden Töne einer Nachtigall. Einzelne Sterne waren noch in vollem Glanze sichtbar, aber schon fielen hie und da schwere Tropfen auf die Blätter vor Ursulas Fenster und vernehmlicher rollte der Donner.
Der Böswirt sah lang in den nächtigen Himmel und sprach: »Wie die Zeit vergeht! I seh' den Flori noch immer, wie er die Püff' von sein'm Ziehvater hat hinnehmen müssen. Damals war i noch ein anderer Mann! Wie die Zeit vergeht! Wer weiß, wie lang, da gibt's gar keine Zeit mehr für mi, und i seh's nimmer, wie die Stern' scheinen und die Wetter leuchten, und i hör's nimmer, wenn die Nachtigall schlagt und die Regentropfen auf mei tiefe Schlafkammer fallen da drüben am Kirchhof.«
Ursula, der die Kehle wie zugeschnürt war, wollte nun einen Versuch machen zu sprechen, aber in diesem Augenblicke hörte man einen langgezogenen Tusch und das ferne verworrene Jubilieren der Gäste vom Tanzboden herüberhallen, und alsbald fuhr der Böswirt, ohne sich vom Fenster abzukehren, fort: »Recht habt's ihr, ganz recht! Seid's lustig, jung's Volk und ihr Alten dazu! Die Zeit vergeht; wer weiß, wie lang ihr's treibt! Wie mancher, der sich heut a Freud' versagt, an der sein Herz hängt, versagt, weil er den Groschen aufheben will, bis er mehr beisammen hat, weil ihn die Zeit reut, die ihm unser Herrgott zum Lustigsein g'schenkt hat, der liegt morgen da und kann d' Hand nimmer ausstrecken nach'm Maßkrug. Was ein'm heut g'schenkt wird, dös soll ma net beiseit' schieben und sagen: ›Morgen!‹ Morgen bist vielleicht a Krüppel, bist vielleicht tot und hin und alle Zeit für di vorbei. Drum seid's lustig, ihr da drunten, lustig, weil ihr noch schnaufen könnt!«
Ein neuer Tusch und Jubel schien dem Vater Schory recht geben zu wollen; dieser aber wurde durch die Stimmen der ferne Zechenden an seine Pflicht als Wirt gemahnt und trat vom Fenster zurück.
»Warum gehst denn net schlafen, Kind? Leg' doch amal ab, 's is gar spat, und morgen heißt's früh aufstehn und putzen (rein machen).«
Ursula streifte langsam und in ratloser Verzweiflung den Oberrock nieder, zog den Spenzer ab. Dann schlug sie ein Tuch um die Schultern, und als sie fand, daß der Vater noch immer keine Anstalten zum Fortgehen machte, setzte sie sich, ohne weiter ans Auskleiden Hand anzulegen, auf ihr Bett und sah den Alten mit großen brennenden Augen an.
»Ah, ja so!« sagte der Wirt, der während der letzten Minuten sein Kind mit väterlichem Wohlbehagen betrachtet und lachte, »ja so, die Zeit vergeht auch dir und aus Kindern werden Leut'. No, no, Fräulein Ursula, nix für ungut; der alte Wirt geht schon. Ja, ja,« fuhr er fort und griff nach seinem Leuchter. »Wie lang wird's hergehn, da kommt mei Urschi und sagt: ›Vater, jetzt weiß ich ein'n andern Mann, den ich viel lieber hab' als dich, und, Vater, wo is denn mei Heiratsgut?‹ Ja, ja, so is der Welt Lauf! Die Zeit vergeht!«
Aufs neue erscholl das Geräusch der Gäste, diesmal aber näher. Einzelne Kühne polterten sogar schon wieder an der untern Stiege und schrieen: »Wirt, Wirt, wo bist, Wirt?« und andere: »Droben bei der Urschi auf der Kammer is er. Wirt, raus! raus! und was z'trinken her! Draußen wird's z' naß.«
»Wart', ich will euch!« brummte Schory. »Es scheint, die wollen dich heut net in Ruh' schlafen lassen, aber wart', ich sorg' dir dafür!«
Damit zog er den Schlüssel aus dem Schloß.
»Vater, um Gotts willen!« rief Ursula und faßte seine Hand. »Du willst mt do net einsperren?«
»Dumm's Ding, dumm's!« erwiderte der Alte hitzig, »jetzt erst recht! Du hast nix draußen zu tun und bei dir herin auch niemand, und wem's von den Kerl'n noch amal einfallen sollt', bei deiner Tür was suchen zu wollen, dem werd' ich dein'n Kammerschlüssel auf'n Kopf probieren, daß ihm alles Schnüffeln vergehen soll. Du aber bist still und gehst jetzt endlich amal ins Bett! Und damit gute Nacht!«
Laut knallend flog die Kammertür zu, daß von dem jähen Luftzug dem Böswirt das Licht ausging.
Zweimal drehte der Vater den Schlüssel im Schloß und stieg dann auch im Finstern sichern Schrittes und rasch die wohlbekannte Treppe seines Hauses hinab, um für den Durst seiner nimmersatten Gäste zu sorgen.