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Schildkrötes Sünde.

Alle Früchte des Baumes dürft ihr essen, aber die »Früchte der Hauptstadt« sollt ihr nicht essen.

Ein herrlicher Baum breitete seine Zweige weithin über den grünen Rasen. Alle Tiere ruhten in seinem Schatten. Die Früchte des Baumes waren gar lieblich anzuschauen. »Wie herrlich müssen die schmecken,« riefen die Tiere. »Laßt uns zum König senden und um Erlaubnis bitten, von diesem Baume zu essen.« Da sandten sie den Hasen. Er wurde gnädigst vom Herrscher der Tiere empfangen. »Sage meinen Untertanen,« antwortete dieser, »alle Früchte des Baumes dürft ihr essen, aber die Früchte der Hauptstadt, d. i. die süßen, die lasset hängen, die esset nicht, denn sie sind mein!« Mit dieser Botschaft sprang der Hase von dannen, sie fort und fort vor sich hersagend: »Alle Früchte dürft ihr essen, nur der Hauptstadt Früchte nicht! Alle Früchte dürft ihr essen, nur der Hauptstadt Früchte nicht!« Hopp, hopp, sprang er dabei über Stock und Stein, hopp – da stieß er an einen Stein und fiel auf den Rücken. Als er endlich wieder auf die Beine gekommen war, hatte er das Verslein vergessen und konnte die Botschaft nicht ausrichten. Der Rat der Tiere wählte nun einen zweiten Boten an den König. Der Buschwildbock wurde gesandt. Er erhielt dieselbe Antwort wie schon der Hase: »Alle Früchte des Baumes dürft ihr essen, aber die ›Früchte der Hauptstadt‹ sollt ihr nicht essen.« Fort sprang der Bock, leichtfüßig, wie er war, sah nicht rechts noch links, sondern wiederholte ohne Aufhören die Botschaft: »Alle Früchte dürft ihr essen, nur die Frucht der Hauptstadt nicht!« Da – o weh, stößt er gegen einen Stein, fällt, und als er endlich wieder auf den Beinen stand, war ihm sein Sprüchlein entfallen. Nun sandte der Rat der Tiere den dritten Boten an den König, die Schildkröte. Bedächtig zog sie ihre Straße. Es dauerte lange, bis die zum König der Tiere gelangte. Sie erhielt dieselbe Antwort, verbeugte sich und trat den Heimweg an. Bedächtig, wie sie gekommen, ging sie auch wieder nach Hause, summte aber unaufhörlich ihr Verslein vor sich hin: »Alle Früchte dürft ihr essen, nur die Frucht der Hauptstadt nicht.« Doch auch der Ruhigste kann straucheln. Das geschah der Schildkröte; sie stieß an einen Stein und fiel auf den Rücken. Aber da sie so bedächtig war, hatte sie Geistesgegenwart und summte selbst noch während des Falles ihr Verslein: »Alle Früchte« usw. Als sie endlich zu Hause anlangte und ihren Kopf in die Versammlung steckte, schaute jedermann gespannt auf den Kahlscheitel. Darunter blickten aber zwei listige Augen hervor. Da wußte gleich jeder: Heute werden wir die rechte Botschaft hören. »Alle Früchte dürft ihr essen, nur die Frucht der Hauptstadt nicht!« begrüßte die Schildkröte den Rat der Tiere. Ein allgemeines Beifallsrauschen war die Antwort.

»Laßt uns nun den Baum ersteigen,« riefen alle. »Komm, Schildkröte, du sollst auch dein Teil haben; klettere mit uns hinauf!« Aber die Schildkröte antwortete: »Bin ich doch viel zu klein, wie soll ich auf den Baum kommen?« sprach's und blieb im Grase sitzen. Die anderen erstiegen die mit Früchten bedeckten Äste. Der Wildbock sprang hinauf, der Tiger kletterte, die Vögel flogen hinein. Die Giraffe aber überragte den ganzen Baum; und alle taten sich gütlich und aßen, sich freuend des gütigen Königs. Nur die Schildkröte saß unten im Grase mit bösen Gedanken. Gegen Abend kamen die Tiere herunter und streckten sich behaglich auf den grünen Rasen. Die Nacht zog herauf, und bald verkündete fröhliches Geschnarche, daß alle im tiefsten Schlaf waren. Friedlich blickten die Sterne vom Himmelszelt auf die Schläfer nieder. Nur die Schildkröte spürte nichts vom Frieden. In ihrem Herzen brannte die Begierde nach den süßen Früchten der Hauptstadt, die noch in den Zweigen hingen. Da schlich sie sich auch schon hin zum Stamm, stieg geräuschlos auf den Baum und aß. Aber nicht genug der Sünde; sie nahm von der Frucht und legte sie zum friedlich schlafenden Elefanten. Damit wollte sie den Verdacht der Täterschaft von sich auf den Rüsselträger lenken. Der Morgen brach an.

Alle Tiere erwachten und reckten und dehnten sich behaglich nach einem erquickenden Schlaf. Zuletzt lenkten sie ihre Aufmerksamkeit dem Segen spendenden Baume zu. O weh, die verbotenen Früchte der Hauptstadt waren nicht mehr da. »Das wird schwere Strafe über unser Haupt bringen,« jammerten sie. »Wer mag nur der Sünder sein?« »Schildkröte das warst du, gestehe es nur ein; hast du doch nicht mit uns zusammen essen wollen!« »Wie? ich?« lautete die Antwort, »ich, die ich nicht einmal einen Baum zu erklettern imstande hin? Da, der Elefant hat noch eine Frucht neben sich liegen, wendet euch doch, bitte, an ihn!« So log die Falsche. Die Tiere aber beschlossen, den Elefanten sofort zu töten, damit die Strafe von ihnen abgewendet werde. Der Unschuldige mußte mit dem Leben büßen. Sein Fleisch wurde in Stücke zerlegt, um nach Hause transportiert werden zu können. Der Schildkröte legte man eine Hinterkeule auf den Rücken. Dann zogen sie alle im Zuge von dannen. Schildkröte aber sang ein Spottlied und intonierte:

»Wie ist gelungen mir meine List;
An Fleisch gebricht mir's nun nimmer.
Der große Koloß gefallen ist;
Seine Herrschaft zerschlug ich in Trümmer.«

»Was singst du da für einen Gesang, Schildkröte?« fragten die Tiere. »Ich?« antwortete sie, »ich singe nur:

O weh, gekrümmt mein Rücken ist,
Schmerz ziehet ihn krumm noch und krümmer;
Das Fleisch des Koloß, der gefallen ist,
Mein Rücken erträget es nimmer.«

»Arme Schildkröte,« erbarmten sich die Tiere, »du brichst zusammen unter der Last; gib nur her die Hinterkeule, trage hier dies Vorderblatt!« Aber es dauerte nicht lange, da sang sie schon wieder ihren Spottvers:

»Wie ist gelungen mir meine List;
An Fleisch gebricht mir's nun nimmer.
Der große Koloß gefallen ist;
Seine Herrschaft zerschlug ich in Trümmer.«

»Hört, die Schildkröte singt schon wieder,« sagten etliche. »Was singst du denn?« fragten sie. »Ach,« antwortete sie, »was soll ich singen! Hier ist mein Vers:

O weh, gekrümmt mein Rücken ist,
Schmerz ziehet ihn krumm noch und krümmer;
Das Fleisch des Koloß, der gefallen ist,
Mein Rücken erträget es nimmer.«

»Nehmt ihr das Vorderblatt ab, gebt ihr die Leber zu tragen,« ermahnten die Großen. Da trug sie die Leber. Aber gar bald ertönte schon wieder ihr Spottlied. Diesmal aber verstanden die Tiere den Inhalt desselben. »Halt,« riefen sie dem Sänger zu, »jetzt haben wir dich; du bist der Missetäter und nicht der Elefant, den du durch deine Falschheit sogar noch ums Leben gebracht. Warte, deine Strafe wird dich noch treffen!«

Bald darauf ward ein großes Fest angesagt. Die Tiere zogen alle aus. Da, wo die Sommerfäden eine große Brücke bildeten zwischen Erde und Wolken, machten sie halt, zu verschnaufen. Dann stiegen sie die Brücke hinan in langem Zuge. Oben wurde ein Ochse geschlachtet zum Festbraten. Dann fiel es allen ein, daß man ja unten die Mahlzeit einnehmen könnte. So zogen sie wieder hinab, wie sie gekommen. Das Fleisch trugen sie auf dem Kopf oder den Schultern, und die schönsten Leckerbissen, nämlich mäßig gereinigte Därme und den Magen, wickelten sie ins Fell des geschlachteten Ochsen. So nahmen sie alles mit sich zum Festplatz. Die Schildkröte aber wollte man zur Strafe für ihre Sünde nicht am Schmause teilnehmen lassen. Oben in aller Einsamkeit sollte sie zurückbleiben, ein Spielzeug der bösen Geister. Aber die Schildkröte war listiger denn alle. Sie kroch unbemerkt in den leeren Ochsenmagen, als er noch uneingepackt abseits lag, und ließ sich heimlich mit ins Fell wickeln. Als man nun aber, unten angekommen, das Ochsenfell wieder auseinanderfaltete, siehe, da kroch auch die Schildkröte aus dem Ochsenmagen heraus.

Die Tiere aber verstießen die Falsche in die Wüste. Kriechend zog sie ab, und ihre Strafe ist, daß sie in steter Angst leben muß. Naht sich ihr irgendein Tier, so zieht Schildkröte den Glatzkopf ein aus Furcht, er möchte ihr abgeschlagen werden. Graue Felsen und dürre Sträucher sind ihre Gespielen, bis sie schließlich von den Hufen einer wilden Büffelherde wird zertreten werden.


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