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1. Philosophie, so definierten wir im ersten Kapitel, ist die rationelle Erkenntnis der Wirkungen oder Erscheinungen aus ihren bekannten Ursachen oder der möglichen Ursachen aus ihren bekannten Wirkungen oder Erscheinungen.
Daher gibt es zwei Methoden philosophischer Erkenntnis: die erste schreitet von der Erzeugung zu den möglichen Wirkungen, die andere umgekehrt von den Erscheinungen oder Wirkungen zu ihrer möglichen Erzeugung. Dort schaffen wir durch die grundlegenden Definitionen die Prinzipien aller Schlüsse, deren Wahrheit darin gegründet ist, daß wir über die Benennung der Dinge einig sind.
Diesen Teil habe ich in den vorigen Kapiteln ausgeführt; in ihnen habe ich, wenn ich mich nicht irre, nichts behauptet (abgesehen von den Definitionen selbst), das nicht aus den Definitionen sich ergibt; wer über den Gebrauch der Benennungen mit mir einer Meinung ist (und nur für solche Leser habe ich geschrieben), wird an der Strenge der Beweise nicht zweifeln. Ich gehe nunmehr zu dem zweiten Teil über, um von den Erscheinungen oder Wirkungen der Natur, die uns in der Sinneswahrnehmung gegeben sind, die Art und Weise zu erforschen, wie sie, ich behaupte nicht, erzeugt sind, sondern erzeugt werden könnten. Die Prinzipien, von denen das Folgende abhängt, schaffen nicht wir, wie allgemeine Definitionen, sondern wir nehmen sie als gesetzt von dem Urheber, der Natur in den Dingen selbst, an; wir gewinnen aus ihnen nur besondere, keine allgemeinen Urteile; Theoreme lassen sich aus ihnen nicht ableiten; und wenn es auch bei ihrer Entwicklung erforderlich ist, auf die allgemeinen im Vorigen behandelten Lehrsätze zurückzugreifen, so führen sie nur auf mögliche Entstehungsgründe. Weil Erkenntnis, die hier vorgetragen wird, ihre Prinzipien in den Erscheinungen der Natur hat und dort zu einiger Erkenntnis der natürlichen Ursachen leitet, gebe ich diesem Teil die Überschrift: Physik oder von den Erscheinungen der Natur. Phänomen oder Erscheinung heißt aber, was sichtbar ist oder von der Natur uns dargeboten wird.
Von allen Phänomen oder Erscheinungen, die uns vertraut sind, ist das Erscheinen selbst, das φαίνεσθαι, das wunderbarste, nämlich daß von den Körpern in der Natur einige Bilder von fast allen Dingen, andere dagegen keine davon besitzen. Wissen wir durch die Erscheinungen allein von den Prinzipien der Dinge, so ist schließlich die Empfindung das Prinzip auch der Erkenntnis dieser Prinzipien und alles Wissen stammt aus ihr. Aber die Erforschung ihrer Ursachen kann wiederum von keinem andern Phänomen als von ihr selbst, der Sinnesempfindung, ausgehen. Aber, so möchte man vielleicht fragen, mit welchem Sinne nehmen wir nun den Sinn selbst wahr? Ich antworte: durch die Sinnesempfindung selbst, nämlich durch die Erinnerung, die uns von wahrnehmbaren Dingen einige Zeit bleibt, auch wenn diese entschwunden sind. Denn empfinden, daß man empfunden habe, heißt sich erinnern.
Zunächst müssen die Ursachen der Empfindung, d. h. derjenigen Vorstellungen oder Phantasmen erforscht werden, die in uns, wenn wir empfinden, fortwährend entstehen, und weiter die Art, wie deren Entstehung vor sich geht. Hierfür ist wichtig, einzusehen, daß unsere Vorstellungen oder Phantasmen nicht immer dieselben bleiben, daß neue entstehen und alte verschwinden, je nachdem wir unsere Sinnesorgane bald auf diesen, bald auf einen andern Gegenstand richten. Sie entstehen also und vergehen. Hieraus ergibt sich, daß sie in einer Veränderung des empfindenden Körpers bestehen.
2. Alle Veränderung ist nun aber eine Bewegung oder ein Conatus (der auch Bewegung ist) in den inneren Teilen des Bewegten. Dies wurde in Kap. 9, Abs. 8 bewiesen, da, solange die kleinsten Teile jedes Körpers untereinander dieselbe Lage bewahren, an ihm von einer Änderung nicht die Rede sein kann; nur eine Gesamtbewegung des Körpers käme noch in Frage; aber solange jene Teile ruhen, scheint er nicht nur derselbe Körper zu sein, der er vorher war, sondern er ist es auch. Empfindung kann somit im Empfindenden nichts anderes als eine Bewegung seiner inneren Teile sein. Diese Bewegungen vollziehen sich in den Sinnesorganen, durch die wir die Dinge wahrnehmen. Das Subjekt der Empfindung ist danach derjenige, in dem die Phantasmen sind, und die Natur der Empfindung ist zum Teil erklärt: sie ist eine innere Bewegung im Empfindenden.
Weiter wurde oben (Kap. 9, Abs. 7) bewiesen, daß Bewegung nur von einem bewegten und anstoßenden Körper hervorgerufen werden kann. Daraus folgt, daß die unmittelbare Ursache der Empfindung oder Wahrnehmung darin besteht, daß das erste Organ der Empfindung berührt und gedrückt wird. Wird nämlich der äußerste Teil des Organs gedrückt, so gibt er nur nach, indem er den Teil drückt, der ihm zunächst liegt, und so wird der Druck oder die Bewegung durch alle Teile des Organs bis zu den innersten fortgepflanzt. Andrerseits rührt der Druck auf den äußersten Teil von irgendeinem Druck eines entfernteren Körpers her. So geht es fortwährend weiter, bis man zu dem Ursprung der Phantasmen, die in unseren Sinnen entstehen, kommt. Was dies auch immer sei, es ist das, was wir Objekt zu nennen pflegen. Die Empfindung ist also irgendeine innere Bewegung im Empfindenden, erzeugt von einer Bewegung der inneren Teile des Objekts und fortgeleitet durch alle Medien bis zu den innersten Teilen des Organs. Mit diesen Worten ungefähr haben wir das Wesen der Empfindung definiert.
Endlich ist (Kap. 15, Abs. 2) gezeigt worden, daß jeder Widerstand ein dem Conatus entgegengesetzter Conatus, d. h. eine Reaktion, ist. Da nun im ganzen Organ, vermöge seiner eigenen natürlichen Bewegung, ein Widerstand oder eine Reaktion gegen die Bewegung, welche vom Objekte aus nach den inneren Teilen des Organs fortschreitet, entsteht, so ist in demselben Organ ein Conatus, welcher dem Conatus des Objektes entgegengesetzt ist; bildet nun jener Conatus nach innen hin den Abschluß des Empfindungsvorganges, dann entspringt aus der Reaktion auf ihn, so kurz sie auch dauern mag, das Phantasma oder die Vorstellung. Da dieser Gegendruck nach außen gerichtet ist, wird das Phantasma als etwas, das außerhalb des Organs liegt, erscheinen. Die vollständige Definition der Empfindung, wie sie aus der Erklärung ihrer Ursachen und ihrer Entstehung sich ergibt, lautet: Die Empfindung ist ein Phantasma, entstanden durch Reaktion und einen nach außen gerichteten Conatus in dem Sinnesorgan, hervorgerufen durch einen Conatus vom Objekt nach innen, wenn dieser einige Zeit verbleibt.
3. Das Subjekt der Empfindung ist der Empfindende selbst, also ein Lebewesen; wir sagen auch richtiger: ein Lebewesen sieht, und nicht: das Auge sieht. Objekt ist dasjenige, was empfunden wird. Daher sagen wir genauer, daß wir die Sonne sehen und nicht das Licht. Denn Licht und Farbe, Wärme und Ton, und andre Qualitäten, die man sinnlich wahrnehmbar zu nennen pflegt, sind nicht Objekte, sondern Phantasmen in den Empfindenden. Das Phantasma ist aber ein Empfindungsakt und unterscheidet sich von der Empfindung nicht anders als sich »fieri« von »factum esse« unterscheidet, ein Unterschied, der in instantanen Vorgängen ganz verschwindet; Phantasmen entstehen aber instantan. Denn in jeder Bewegung, die sich stetig fortgepflanzt hat, bewegt das erste bewegte Teilchen das zweite, das zweite das dritte und so der Reihe nach bis zum letzten und bis zu jeder noch so großen Entfernung. In demselben Zeitpunkt, in dem das erste Teilchen auf den Platz des zweiten, das es verschiebt, rückt, ist das vorletzte Teilchen an die Stelle des letzten zurückweichenden Teilchens getreten; wodurch in demselben Augenblick durch einen Gegendruck, wenn er stark genug ist, das Phantasma entsteht; mit diesem ist aber zugleich die Empfindung seiner da.
4. Die Sinnesorgane, die sich im Empfindenden befinden, sind solche Teile, daß mit ihrer Verletzung die Entstehung der Phantasmen unmöglich wird, auch wenn die andern Teile unverletzt bleiben. Man findet sie in den meisten Lebewesen; sie sind die Lebensgeister und Häutchen, die in der zarten Gehirnhaut (pia mater) ihren Ursprung haben und das Gehirn samt allen Nerven einhüllen, ebenso auch das Gehirn selbst und die Arterien, die sich im Gehirn befinden und durch deren Bewegung sich auch der Ursprung des Wahrnehmungsprozesses, das Herz, bewegt. Wo immer der von einem Objekt ausgehende Bewegungsvorgang den Körper des Empfindenden trifft, da wird der Vorgang durch irgendeinen Nerv zum Gehirn fortgeleitet; ist der dorthin führende Nerv so verletzt oder gehemmt, daß die Bewegung nicht weiter fortgeleitet werden kann, dann erfolgt keine Empfindung. Ebenso fällt die Wahrnehmung des Objektes aus, wenn die Bewegung zwischen Gehirn und Herz infolge des Fehlers irgendeines leitenden Organs behindert ist.
5. Obgleich, wie gesagt, jede Empfindung durch Reaktion entsteht, so ist dennoch nicht notwendig, daß alles, was reagiert, auch empfindet. Ich weiß, daß es Philosophen und Gelehrte gegeben hat, die da meinten, daß alle Körper mit Empfindung begabt seien. Ich sehe auch nicht, wie man sie widerlegen könnte, wenn das Wesen der Empfindung allein in der Reaktion beruhen würde. Aber selbst wenn aus der Reaktion auch unbelebter Körper ein Phantasma entstünde, so würde es doch sogleich vergehen, sobald das Objekt, entfernt wäre. Denn wenn jene nicht zum Behalten der mitgeteilten Bewegung (auch nach Entfernung des Objekts) passende Organe haben, wie die Lebewesen, werden sie nur so empfinden, daß sie sich niemals erinnern, empfunden zu haben. Das hat aber mit der Empfindung, die ich jetzt bespreche, nichts zu tun. Denn unter Empfindung verstehen wir gewöhnlich ein Urteil über Objekte auf Grund ihrer Vorstellung, nämlich durch Vergleichen und Unterscheiden der Phantasmen. Das ist aber nur möglich, wenn jene Bewegung in dem Organ, in dem das Phantasma entstanden ist, eine Zeitlang verbleibt und das Phantasma wieder zurückzurufen gestattet. Es hängt der Empfindung, um die es sich hier handelt und die gewöhnlich so bezeichnet wird, notwendigerweise eine Art Gedächtnis an, das uns in Stand setzt, Früheres mit Späterem zu vergleichen und eines vom anderen zu unterscheiden. Es gehört deshalb zur Sinnesempfindung auch stets eine gewisse Mannigfaltigkeit von Phantasmen, so daß eins vom andern unterschieden werden kann. Gesetzt, ein Mensch habe keine Sinnesorgane mit Ausnahme eines guten Auges – die übrigen Teile des Sehorganes befänden sich in gesunder Verfassung –, gesetzt weiter, er nehme mit diesem immer nur ein und dasselbe Ding von derselben Farbe und Gestalt wahr, ohne daß die Erscheinung sich im geringsten ändere: so würde er, denke ich, was auch andere behaupten mögen, nicht mehr sehen, als ich durch meine inneren Organe die Knochen meiner Arme fühle, während doch die Knochen überall beständig von einem höchst empfindlichen Häutchen umgeben sind. Ich könnte vielleicht sagen, jener Mensch stiere das Ding an; aber ich würde nicht behaupten, daß er es sähe; denn immer dasselbe empfinden und nichts empfinden, kommt geradezu auf das Gleiche hinaus.
6. Gleichwohl gestattet das Wesen der Empfindung nicht, daß mehrere Dinge zugleich empfunden werden. Da nämlich das Wesen der Empfindung in Bewegung besteht, so können die Empfindungsorgane, während sie von einem Objekt angeregt sind, von einem andern nicht derart bewegt werden, daß die beiden Bewegungen in ihnen zwei Phantasmen der Gegenstände hervorrufen. Es werden also nicht zwei Vorstellungen von zwei Objekten entstehen, sondern nur eine, die aus dem Zusammenwirken beider gemischt ist.
Es war außerdem im 7. Kapitel gezeigt, daß der Teilung und Zählung von Körpern eine Teilung und Zählung ihrer Orte und umgekehrt entspricht. Daraus folgt, daß auch Zeiten und Bewegungen entsprechend gezählt werden müssen. Wenn ein angeschautes Objekt verschieden farbig erscheint, wird es mit den verschiedenen Farben nur ein mannigfaltiges Objekt, aber nicht eine Mannigfaltigkeit von Objekten sein.
Endlich kommt noch hinzu, daß jene Organe, die allen Sinnen gemeinsam sind, nämlich deren Teile von den Nervenwurzeln bis zum Herzen reichen, bei starker Erregung durch einen Gegenstand zur Aufnahme eines neuen Eindrucks (von welchem Objekt und durch welchen Sinn auch immer) weniger geeignet sind, da die Bewegung, die bereits vorhanden ist, der Aufnahme einer neuen Widerstand darbietet. Daher kommt es auch, daß die vollständige Versenkung in einen Gegenstand die Empfindung anderer Objekte, die auch gegenwärtig sind, nicht zuläßt. Denn vollständige Versenkung heißt, daß der Geist ganz in Anspruch genommen ist, indem nämlich eine heftige Bewegung durch die Organe der Empfindung geht, welche, solange diese Erregung dauert, gegen alle anderen Reize unempfänglich bleiben. Wie es einmal Terenz ausspricht: »Populus studio stupidus in funambulo animum occuparat.« Und was ist die Betäubtheit (Stupor) anderes als αναισθησία, d. h. Unfähigkeit, andere Dinge zu empfinden? Also nur ein einziges Objekt kann zu ein und derselben Zeit wahrgenommen werden. So sehen wir beim Lesen nicht alle Buchstaben zugleich, sondern nacheinander, obgleich die ganze Seite uns vor Augen liegt; überschauen wir mit einem Blick die ganze Seite, dann lesen wir nichts, obwohl die einzelnen Buchstaben daselbst ganz deutlich geschrieben sind.
All dies erweist, daß nicht jeder Conatus des Organs nach außen hin Empfindung genannt werden darf, sondern allein derjenige, der wiederholt die andern an Stärke übertrifft und vorherrschend ist; er läßt die anderen Phantasmen zurücktreten, wie das Licht der Sonne die übrigen Sterne durch ihre Helligkeit verdunkelt, wenn sie ihnen auch ihr Licht nicht nimmt,
7. Die Bewegung des Organs, aus dem das Phantasma entspringt, pflegt jedoch nur, wenn das Objekt gegenwärtig ist, Empfindung genannt zu werden; ist das Objekt nicht mehr da, das Phantasma dagegen geblieben, so heißt es Phantasievorstellung oder lateinisch imaginatio. Da aber nicht alle Phantasmen Bilder sind, trifft dies Wort nicht genau mit der allgemeinen Bedeutung von Phantasievorstellung überein. Immerhin mag es zur Bezeichnung dessen, was die Griechen φαντασία nennen, ruhig angewendet werden.
Die Imagination also ist in Wahrheit nichts anderes als eine wegen der Entfernung des Objekts erschlaffende oder abgeschwächte Empfindung. Was kann aber die Ursache der Abschwächung sein? Wird etwa die Bewegung durch Entfernung des Objekts schwächer? Wäre dies der Fall, so wären auch immer und notwendigerweise die Phantasiebilder in der imaginatio weniger klar als in der Empfindung. Das ist aber nicht der Fall. In Träumen etwa (den Imaginationen der Schlafenden) sind sie nicht weniger klar als in der Wahrnehmung selbst. Der Grund vielmehr ist dieser: bei dem Wachenden sind die Phantasievorstellungen früher wahrgenommener Dinge deswegen dunkler, weil die Erregung der Sinnesorgane durch andere gegenwärtige Objekte jene Phantasiebilder weniger vorherrschen läßt. Im Schlafe dagegen, wo jeder Zugang verschlossen ist, tritt Erregung von außen der innern Bewegung gar nicht in den Weg.
Wenn dem so ist, dann ist weiter die Ursache dafür aufzudecken, daß im Schlaf der Zugang von den äußeren Objekten zu den inneren Organen abgeschlossen ist. Ich vermute nun, daß bei dauernder Wirksamkeit der Objekte, der notwendigerweise eine Reaktion des Organs und vornehmlich der Lebensgeister folgt, das Organ ermüdet, d. h. daß seine Teile von den Lebensgeistern nicht ohne Schmerz mehr erregt werden; werden aber die Nerven leer und schlaff, so ziehen sie sich zu ihrem Ursprung zurück, mag dieser nun in der Höhlung des Gehirns oder des Herzens liegen, wodurch die Tätigkeit, die durch die Nerven fortgeleitet wurde, notwendigerweise unterbrochen wird. Denn die Einwirkung auf einen passiven Körper, der vor ihr flieht, ist nur von geringem Eindruck; schließlich, wenn die Nerven ganz erschlafft sind, hört sie überhaupt auf. Also erlischt auch die Reaktion, d. h. die Empfindung, bis sie wieder aufgeweckt wird, nachdem das Organ durch Ruhe wieder hergestellt ist und neue Lebensgeister es durchziehen. Und so scheint es immer zu gehen, es sei denn, daß irgendeine andere ungewöhnliche Ursache dazukommt, wie etwa innere Hitze infolge von Abspannung oder irgendeiner Krankheit, die die Lebensgeister und andere Teile der Organe außergewöhnlich erregt.
8. Daß aber in dieser Mannigfaltigkeit von Phantasievorstellungen ein Zusammenhang besteht und den gleichen bald ähnliche, bald unähnliche folgen, geschieht nicht ohne Ursache und nicht so zufällig, wie vielleicht viele denken. In der Bewegung jedes kontinuierlichen Körpers folgt ein Teil dem andern durch Kohäsion. Während wir nun die Augen und die Organe der andern Sinne auf verschiedene Objekte nacheinander richten, werden beim Verharren der Bewegung, die von jedem einzelnen unter ihnen erzeugt war, Phantasievorstellungen wieder hervorgerufen, je nachdem eine dieser Bewegungen vorherrschend wird, und zwar geschieht dies in derselben Reihenfolge, in der sie früher einmal in den Sinnen erregt waren. Wenn nun mit der Zeit viele Phantasmen durch Wahrnehmung in uns entstehen, kann schließlich beinahe jede Vorstellung durch eine andere hervorgerufen werden, so daß es am Ende rein zufällig zu sein scheint, welche Vorstellungen einander folgen. Bei wachenden Menschen ist das indessen meistens weniger unbestimmt als bei schlafenden. Die Vorstellung eines begehrten Zieles ruft nämlich all die Vorstellungen wach, die die Mittel sind, um zu jenem Ziele zu gelangen, und zwar geschieht dies in umgekehrter Ordnung vom letzten der Mittel zum ersten und wieder vom Anfang zum Ende. Das setzt aber ein Begehren voraus und eine Beurteilung der Mittel, die zum Ziele führen, was Erfahrung uns lehrt. Erfahrung ist ein Vorrat von Vorstellungen, gesammelt aus der Wahrnehmung zahlreicher Dinge. Denn »φατάζεσθαι« und sich erinnern unterscheiden sich nur darin, daß »sich erinnern« eine Vergangenheit zum Gegenstand voraussetzt, φατάζεσθαι dagegen nicht. In der Erinnerung werden Vorstellungen gleichsam als durch die Zeit abgenutzt betrachtet, in der Phantasie aber, wie sie sind, welche Unterscheidung nicht für die Dinge selbst, sondern nur für die Auffassung durch das vorstellende Subjekt gilt. Das Gedächtnis gleicht dem Anblick entfernter Gegenstände; wie man hier die kleineren Teile der Körper wegen der zu großen Entfernung nicht sieht, so sind dort viele Eigenschaften, Raum- und Zeitbestimmungen der Dinge, die einst von den Sinnen wahrgenommen wurden, durch die Länge der Zeit dahingeschwunden.
Die beständige Erzeugung von Vorstellungen in der Wahrnehmung und der Imagination ist das, was man Überlegung zu nennen pflegt; sie ist dem Menschen mit den Tieren gemeinsam. Wer überlegt, vergleicht die vorüberziehenden Phantasmen, d. h. er nimmt die Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit unter ihnen wahr. Die Ähnlichkeiten zwischen Dingen von verschiedenen Wesen oder solchen, die weit auseinander liegen, schnell zu erfassen, ist ein Kennzeichen einer hervorragenden Phantasie; dagegen Unähnlichkeiten zwischen ähnlichen Dingen herauszufinden, bezeugt eine gute Urteilskraft. Die Erfassung von Unterschieden ist nicht eine Empfindung in einem Gemeinsinn, der von der Sinnesempfindung oder Wahrnehmung im eigentlichen Verstande unterschieden wäre, sondern sie ist die Erinnerung der Unterschiede, wenn die einzelnen Phantasmen eine Weile fortbestehen; die Unterscheidung zwischen warm und hell ist nichts anderes als die Erinnerung an zwei Objekte, an ein leuchtendes und zugleich an ein wärmendes.
9. Die Phantasmen Schlafender sind Träume. Über sie lehrt uns die Erfahrung fünferlei. Erstens sind die meisten ungeordnet und zusammenhanglos. Zweitens träumen wir nichts, was nicht aus Phantasmen vergangener Wahrnehmungen zusammengesetzt ist und besteht. Drittens entstehen manchmal Träume in müden Menschen durch allmähliche Hemmung und Veränderung ihrer Phantasmen, durch überhandnehmende Schläfrigkeit, bisweilen aber entstehen sie auch mitten im Schlaf. Viertens sind Träume stärker als die Imaginationen der Wachenden, wenn man von den Phantasmen absieht, die in der Wahrnehmung entstehen, denen sie an Klarheit gleichkommen. Fünftens wundern wir uns im Traume weder über den Ort noch das Aussehen der Dinge. Was die Ursachen für diese Phänomene sein können, ist nach dem schon Gesagten nicht schwierig einzusehen. Weil erstens jede Ordnung und jeder Zusammenhang aus fortwährendem Hinblick auf das Ziel, d. h. aus einer planmäßigen Überlegung stammt, so wird, da im Schlafe kein Zweck ins Auge gefaßt wird, die Folge der Phantasmen durch kein Ziel mehr bestimmt, sondern so sein, wie es sich gerade trifft, etwa, wie sich Objekte unsern Augen darbieten, wenn wir gleichgültig auf sie vor uns schauen und die Dinge nur sehen, nicht weil wir sie sehen wollen, sondern weil wir unsre Augen gerade offen haben; dann erscheint uns alles ohne jedwede Ordnung. Die zweite Eigenart der Träume ist darin begründet, daß beim Schwinden der Empfindung keine neue Bewegung von den Objekten her uns trifft; daher entstehen auch keine neuen Phantasmen, es sei denn, daß wir neu nennen würden, was aus alten zusammengesetzt ist, wie eine Chimäre, ein goldener Berg und ähnliches. Warum drittens der Traum bisweilen gleichsam als Fortsetzung von Wahrnehmungen aus zerstückelten Phantasmen entsteht (z. B. bei Kranken), hat seinen Grund augenscheinlich darin, daß die Empfindung in bestimmten Organen fortbesteht und in andern aufhört. Wie aber, wenn die äußern Organe eingeschlafen sind, bestimmte Phantasmen erweckt werden können, ist schwieriger zu sagen. Nichtsdestoweniger enthalten die obigen Darlegungen auch die Erklärungen dieses Falles. Wenn etwas nämlich die zarte Gehirnhaut erregt, erweckt es auch einige von den Phantasmen, welche im Gehirn noch in Bewegung waren; und wenn eine innere Bewegung des Herzens jene Gehirnhaut erreicht, erzeugt die vorherrschende Bewegung im Gehirn das Phantasma. Diese Bewegungen des Herzens sind nun Begierden und Abneigungen, von denen sogleich zu reden sein wird. Wie aber Begierden und Abneigungen durch Phantasmen, so werden umgekehrt auch Phantasmen durch Begierden und Abneigungen erzeugt. Z. B. aus Zorn und Streit entsteht im Herzen Wärme, und umgekehrt wird aus Wärme im Herzen, mag sie wie auch immer hervorgerufen sein, Zorn, und das Bild eines Feindes entsteht im Schlafe. Und wie die Liebe und Schönheit in gewissen Organen Wärme erzeugt, so erregt auch Wärme, welches die Ursache ihrer Entstehung auch sei, in denselben Organen oft ein Begehren und das Bild einer nicht widerstrebenden Schönheit. Auf dieselbe Weise endlich erzeugt Kälte bei Schlafenden Furcht und ruft Träume von Gespenstern und Schrecken und Gefahren hervor, wie umgekehrt Furcht bei wachen Menschen Kälte erzeugt. Was nun den vierten Punkt anbetrifft, daß die Dinge, die wir im Schlaf zu sehen und zu fühlen glauben, so deutlich wie in der eigentlichen Empfindung sind, so beruht das auf zwei Ursachen: erstens haben wir von den Dingen außer uns keine Sinneswahrnehmung, und so herrscht jene innere Bewegung, die das Phantasma entstehen läßt, durch Fehlen aller andern Eindrücke vor; zweitens werden die durch die Zeit verwischten Teile des Phantasmas durch andere erdichtete Teile ersetzt. Wenn wir träumen, wundern wir uns schließlich weder über merkwürdige Orte und Erscheinungen uns fremder Dinge, weil Erstaunen voraussetzt, daß uns Dinge neu und ungewöhnlich erscheinen, was wiederum aber Erinnerung und Vergleich mit früheren Erscheinungen einschließt; im Traume jedoch erscheint alles gegenwärtig.
Hier ist zu bemerken, daß gewisse Träume, besonders solche, die Halbeingeschlafene und Menschen haben, die mit dem Wesen der Träume nicht vertraut und zugleich abergläubisch sind, früher und auch jetzt nicht zu den Träumen gerechnet werden. Manche halten die Erscheinungen und Stimmen, die sie im Traume zu sehen und zu hören glauben, nicht für Phantasmen, sondern für Objekte, die außerhalb der Träumenden existieren. Denn in einigen nicht nur schlafenden, sondern auch wachenden Menschen, besonders in solchen, die sich eines Verbrechens bewußt sind, hat die Furcht selbst nachts und an heiligen Orten, ein wenig auch unterstützt durch Geschichten von derartigen Erscheinungen, schreckliche Phantasmen im Geiste erregt, die für wahrhafte Dinge gehalten wurden und denen man den Namen »Geister« oder »unkörperliche Substanzen« gab.
10. Bei den meisten Lebewesen zählt man fünf Sinne, die sowohl nach den Organen, als auch nach der Art ihrer Phantasmen sich unterscheiden, nämlich: Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Tastsinn. Sie besitzen teils für sich eigene Organe, teils allen gemeinsame. Das Gesicht ist ein teils belebtes, teils unbelebtes Organ. Unbelebte Teile sind die drei Säfte: die wässerige, die mit der dazwischen liegenden, in der Mitte mit einer Öffnung (Pupille genannt) versehenen Traubenhaut (Uvea) auf der einen Seite durch die äußere gewölbte Oberfläche des Auges begrenzt wird, auf der andern Seite durch die Ciliarfortsätze und die Hülle des kristallinischen Saftes; zweitens der kristallinische Saft, der, in der Mitte zwischen den Ciliarfortsätzen hängend, der Gestalt nach einer Kugel nahekommend, von dichterer Beschaffenheit durch die eigene durchsichtige Oberhaut von allen Seiten begrenzt wird; und drittens der glasartige, der die übrige Höhlung des Auges erfüllt, dichter als der wässerige, aber feiner als der kristallinische. Als belebter Teil des Organs begegnet uns zuerst die Gefäßhaut, ein Teil der zarten Gehirnhaut oder pia mater, die, soweit sie nicht durch die aus dem Mark des optischen Nervs kommende Haut bedeckt ist, die Retina heißt. Diese Gefäßhaut reicht, weil sie einen Teil der zarten Gehirnhaut bildet, bis zum Anfang des Rückenmarkes, der sich innerhalb des Schädels befindet, in dem die Wurzeln aller Nerven zu finden sind. Alles, was die Nerven an animalischen Lebensgeistern besitzen, erhalten sie hier; denn es ist undenkbar, daß sie wo anders herkommen. Da die Empfindung nichts anderes ist als die bis zum letzten Punkte des Organs fortgeleitete Wirksamkeit der Objekte und die animalen Lebensgeister nichts weiter sind als die im Herzen gereinigten, durch die Arterien fortgeleiteten vitalen Lebensgeister, so ergibt sich, daß zu den Nervenwurzeln, die sich im Kopf befinden, der Erregungsprozeß durch irgendwelche Arterien vom Herzen aus geleitet wird, seien jene Arterien das netzförmige Gewebe (plexus retiformis) oder andre, die in die Gehirnsubstanz hineinführen. Jene Arterien stellen ein Komplement oder die andere Hälfte des ganzen Sehorgans dar. Dieser letzte Teil ist ein Organ, das allen Sinnen gemeinsam ist, während der andere, der sich vom Auge bis zu den Wurzeln der Nerven erstreckt, allein dem Gesichtssinn zukommt. Das dem Gehör eigentümliche Organ ist das Trommelfell und der dazugehörige Nerv; die übrigen Organe bis zum Herzen sind gemeinsam. Die besonderen Organe des Geruchs und Geschmacks sind Nervenhäutchen, im Gaumen und an der Zunge für den Geschmack, in den Nasenlöchern für den Geruch; von den Wurzeln jener Nerven bis zum Herzen ist alles gemeinsam. Als Organ des Tastsinns endlich sind Nerven und Häute durch den ganzen Körper verteilt, welche in den Wurzeln der Nerven ihren Ursprung haben. Das übrige, was allen Sinnen gemeinsam ist, besteht, wie es scheint, nicht in Nerven, sondern in Arterien.
Das dem Gesichtssinn eigene Phantasma ist Licht. Unter dem Namen Licht versteht man auch Farbe, die aber nichts anderes als gemischtes Licht ist. Das Phantasma eines leuchtenden Körpers ist Licht, das eines farbigen Körpers Farbe. Das eigentliche Objekt des Sehens ist aber nicht das Licht, auch nicht die Farbe, sondern der leuchtende oder beleuchtete oder farbige Körper selbst. Denn Licht und Farbe, als Phantasmen des Empfindenden, können nicht Accidenzien des Objektes sein. Was allein schon daraus erhellt, daß die sichtbaren Dinge oft an Orten erscheinen, an denen sie sich nach unserm sichern Wissen nicht befinden, und daß sie an verschiedenen Orten in verschiedener Farbe und an mehreren Orten zugleich zu erscheinen vermögen. Bewegung, Ruhe, Größe und Gestalt sind dem Gesicht sowohl als dem Tastsinn gemeinsam. Ein Ganzes von Gestalt und Licht oder Farbe pflegt von den Griechen εἶδος und εἶδωλον und ἴδεα, von den Lateinern species und imago (Worte, die alle dasselbe wie Erscheinung bezeichnen) genannt zu werden.
Das beim Hören erzeugte Phantasma ist Ton, beim Riechen Duft, beim Schmecken Geschmack. Durch den Tastsinn erhalten wir die Empfindungen von Härte und Weichheit, Wärme und Kälte, Nässe, Öligkeit und vieles andere, das leichter durch das Gefühl als durch Worte zu unterscheiden ist. Glattheit, Rauheit, Dünnheit, Dichtigkeit beziehen sich auf die Gestalt und gehören deshalb zum Tastsinn als auch zum Gesichtsinn. Die Objekte des Hörens, des Geruchs, Geschmacks, Tastsinns sind ebenfalls nicht Ton, Duft, Geschmack, Härte usw., sondern die Körper, von denen Ton, Duft, Geschmack, Härte usw. ausgehen. Über ihre Ursachen und auf welche Weise sie entstehen, darüber ist später zu sprechen.
Alle diese Phantasmen sind Wirkungen in dem empfindenden Subjekt, hervorgebracht durch Objekte, die auf die Organe wirken. Aber von ebendenselben Objekten gehen noch andere Wirkungen auf ebendieselben Organe aus; es sind dies gewisse in den Sinnen entspringende Bewegungen, die animalische Bewegungen heißen. Da nämlich in jeder Empfindung von außerhalb befindlichen Dingen Tätigkeit und Gegentätigkeit wechselseitig stattfindet, d. h. zwei Conatus sich gegenüberstehen, so ist offenbar, daß die von beiden gleichzeitig hervorgebrachte Bewegung nach allen Seiten sich überallhin fortpflanzt, vornehmlich aber nach den Grenzen beider Körper hin. So oft das im innern Organ stattfindet, entsteht ein Conatus nach außen, der in einem körperlichen Winkel fortschreitet, der um so größer (und mit ihm die entsprechende Vorstellung) ist, je stärker der Eindruck war.
11. Hierin liegt die erklärende Ursache dafür, daß erstens unter sonst gleichen Umständen dasjenige größer erscheint, was unter einem größern Winkel gesehen wird; zweitens, daß in einer klaren, mondlosen, kalten Nacht mehr Fixsterne scheinen als zu anderer Zeit. Denn deren Wirksamkeit wird durch die klare Luft weniger behindert, ihr Licht durch den Mond, der abwesend ist, nicht verdunkelt. Die Kälte, welche die Luft klärt, unterstützt oder verstärkt die Tätigkeit der Sterne auf das Auge, so daß sonst unsichtbare Sterne nunmehr gesehen werden können.
Diese allgemeinen Ausführungen über die Empfindung, die durch Gegenwirkung in den Organen entsteht, mögen genügen. Über den Ort des Bildes, über Sinnestäuschungen und über andere Dinge, die wir durch Empfindung erfahren, wird erst dann zu reden sein, wenn wir vom Menschen ausführlich sprechen, da dies zumeist von der Struktur des Menschenauges abhängt.
12. Es gibt jedoch eine andre Art von Empfindung, über die hier einiges gesagt werden mag, nämlich die Empfindung von Lust und Schmerz. Sie entsteht nicht aus der Gegenwirkung des Herzens nach dem Äußern hin, sondern sie entspringt der von dem äußersten Teile des Organs nach dem Herzen hin verlaufenden Bewegung. Da nämlich der Ursprung des Lebens im Herzen liegt, muß jede in dem Empfindenden zum Herzen fortgepflanzte Bewegung die Lebensbewegungen irgendwie ändern oder ablenken, indem sie dieselbe beschleunigt oder verlangsamt, unterstützt oder behindert. Wird sie unterstützt, so entsteht Lust, wird sie behindert, dann entsteht Schmerz, Beschwerde, Kummer. Und wie die Phantasmen wegen der Richtung des Conatus nach außen außerhalb zu existieren scheinen, so scheinen Lust und Schmerz, weil der Conatus des Organs nach innen geht, etwas Innerliches und dort zu sein, wo die erste Ursache dieser Empfindungen liegt. So scheint etwa in einer Wunde, die uns Schmerz verursacht, der Schmerz selbst zu sein.
Die Lebensbewegung ist der fortwährende Kreislauf des Blutes durch die Venen und Arterien, wie es vom ersten Beobachter dieser Tatsache, von meinem Landsmanne, dem Doktor Harvey, durch unerschütterliche Beweise dargetan ist. Ist diese Bewegung infolge einer andern, durch die Einwirkung von Sinnendingen hervorgerufenen, behindert, so kann sie durch Beugung oder Streckung der Körperteile wieder hergestellt werden, nämlich dadurch, daß die Lebensgeister bald in diese, bald in jene Nerven hineingetrieben werden, bis jegliche Beschwerde möglichst beseitigt wird. Wenn dagegen die vitale Bewegung durch einen Wahrnehmungsvorgang unterstützt wird, dann wird dadurch eine Disposition für eine solche Verteilung der Lebensgeister geschaffen, daß sie vermittelst der Nerven möglichst erhalten und verstärkt wird. So entsteht der erste Antrieb einer animalischen Bewegung; man findet ihn sogar im Embryo, der Unangenehmes zu vermeiden sucht oder sich dem nähert, was ihm zusagt; so bewegt er seine Glieder schon willkürlich. Dieses Streben heißt, soweit es auf das gerichtet ist, was als angenehm erfahren ist, Begehren; sucht es dem Unangenehmen aus dem Wege zu gehen, Abscheu oder Flucht. Im frühesten Lebensalter ist das Begehren wie der Abscheu auf nur ganz wenige Dinge gerichtet; noch fehlt Erfahrung und Gedächtnis. Deshalb besitzen kleine Kinder keine so große Mannigfaltigkeit der animalischen Bewegung, wie wir sie bei den Erwachsenen sehen. Ohne Erfahrung und Gedächtnis vermag man aber nicht zu wissen, welche Dinge uns Lust oder Schmerz bereiten; ihr Anblick allein weckt Vermutungen. Daher greifen Kinder aufs ungewisse nach Dingen oder kehren sich von ihnen, obwohl sie gar nicht wissen, ob sie ihnen gut oder schädlich sind. Erst allmählich lernen sie, was zu begehren und was zu vermeiden sei, wie sie auch erst allmählich die Herrschaft über ihre Nerven und Organe gewinnen, dieses zu erreichen, jenem aus dem Weg zu gehen. Begehren und Abscheu sind das erste Streben der animalischen Bewegung.
Hierdurch empfangen nun die Nerven einen Impuls resp. werden die Lebensgeister zurückgezogen (wohl in die Nähe des Nervenursprungs). Dies ergibt Anschwellung und Abspannung der Muskeln, der Zusammenziehung und Streckung der Gliedmaßen folgt. Dies ist die animalische Bewegung.
13. Begehren und Verabscheuen können aber noch unter einem anderen Gesichtspunkt betrachtet werden. Dasselbe Ding kann einmal begehrt, ein andermal verabscheut werden, je nachdem es für nützlich oder schädlich gehalten wird. Wechseln so in einem und demselben Subjekt Neigung und Abneigung, Begehren und Abscheu, dann entsteht eine Vorstellungsreihe, die man Überlegung nennt; sie bleibt, solange die Möglichkeit besteht, das, was gefällt, zu erlangen, was mißfällt, zu vermeiden. Nur wenn eine solche Überlegung nicht stattfindet, ist einfach von Abscheu und Begehren zu reden; geht aber eine Überlegung der Handlung voran, dann heißt der letzte der wechselnden Triebe, falls er Begehren ist, Wille; ist er Abneigung, Nichtwollen. Wille und Begehren sind dasselbe und nur in der Auffassung verschieden, je nachdem eine vorausgehende Überlegung mit berücksichtigt wird oder nicht.
Was im Innern eines Menschen vor sich geht, während er etwas will, ist nicht von dem verschieden, was in andern Lebewesen vor sich geht, wenn sie etwas nach vorausgegangener Überlegung begehren.
Auch die Freiheit, zu wollen oder nicht zu wollen, ist im Menschen nicht größer als in allen andern Geschöpfen. Wo ein Begehren entsteht, war die vollständige Ursache dafür da; daher konnte, wie Kap. 9 Abs. 5 gezeigt ist, das Begehren selbst unmöglich nicht folgen, d. h. es folgte mit Notwendigkeit. Eine Freiheit, die Freiheit von Notwendigkeit wäre, kommt weder dem Willen der Menschen, noch dem der Tiere zu. Verstehen wir aber unter Freiheit die Fähigkeit nicht des Wollens, sondern des Ausführens, dann besitzen eine solche Freiheit sicherlich beide, Mensch und Tier, in gleicher Weise, soweit sie überhaupt möglich ist.
Folgen Begehren und Abneigung schnell einander, dann wird die entstehende Reihe wechselnder Triebe bald nach dem einen, bald nach dem andern genannt. Es ist dieselbe schwankende Überlegung, die, sofern in ihr ein Begehren enthalten ist, Hoffnung, sofern eine Abneigung, Furcht genannt wird; ohne Hoffnung kann man nicht von Furcht reden, sondern nur von Haß, und ohne Furcht nicht von Hoffnung, sondern nur von Begierde. Kurz, alle sogenannten Leidenschaften bestehen aus Begehren und Abscheu; reine Lust und reinen Schmerz gewährt allein der Genuß des Guten oder des Bösen. Der Zorn ist z. B. Abscheu vor dem drohenden Übel, jedoch verbunden mit dem Begehren, dem Übel tatsächlich zu entfliehen. Aber da es unzählig viel Leidenschaften und Gemütsbewegungen gibt und außerdem viele von ihnen nur der Mensch kennt, so wollen wir über sie ausführlicher in dem zweiten Teil unseres Systems, in dem Werk »Vom Menschen«, sprechen.