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Einzug in Ägypten

Nach fünftägiger Fahrt auf einem Dampfer des Österreichischen Lloyd tauchten über dem Mittelmeer, das glatt und leuchtend dalag wie ein Teich voll azurblauer Tinte, ein paar weiße Kleckse auf. Der alte Bootsmann erklärte sie in schönstem Slowenisch-Italienisch für das »süße Alexandrien« und ließ dabei ein Schmunzeln los, das für den Abend auf die Übertretung aller zehn Gebote schließen ließ.

Ich machte die Reise, wie es sich für einen armen Teufel geziemt, dritter Klasse, d. h. im Zwischendeck. 65 Franken kostet's. Dafür wird man in einem ringsum offenen Raum zusammen mit einer Ladung Nutzholz, Kisten, Ballen und den Postsachen ganz Europas verfrachtet. Geschlafen wird auf besagtem Nutzholz, und essen tut man, was man sich mitgebracht hat. Um diese beiden Fakta kümmert sich der Lloyd für seine 65 Franken nicht. Dagegen sorgt er in anerkennenswerter Weise für Unterhaltung. Alle Religionen und Konfessionen, alle Sprachen und Völker Europas, Afrikas, und Kleinasiens sind in dieser dritten Klasse vertreten und beide Geschlechter, Männlein und Weiblein, einträchtig beieinander. Manchmal sehr einträchtig. Ich habe in diesem Kaninchenstall eifrig Sprachstudien getrieben. Vor allem habe ich mir eine bemerkenswerte Fertigkeit angeeignet, arabisch zu fluchen und zu schimpfen. Das zu können ist sehr wichtig. Es ist der Gegenzauber gegen das magische Wort »Backschisch«, das Schlüsselwort zum Orient.

Die erwähnten Kleckse lösten sich nach zwei Stunden in eine Unzahl flachdächiger Häuser und einen sehr belebten Hafen auf. »Lassen Se nech kimmen heran enen von die arabischen Kerls an Ihr Gepäck, su nehmen eweg. Se werden es los oder nebbich Ihr Geld. Wenn nix helft, teilen Se aus Maulschellen!« sagte mir ein alter Hebräer aus Jerusalem. Ich beschloß, das zu beherzigen.

Der Dampfer legte am Kai an.

Das erste, was wir sahen, war eine Keilerei. Etliche hundert Männer in Kaftan und rotem Fez drangen mit wildem Gebrüll und aufgeregten Gestikulationen auf drei oder vier uniformierte Männer ein und hatten sich, wie es schien, vorgenommen, ihnen unbedingt die Kleider vom Leibe zu reißen. Es war aber keine Keilerei. Die Uniformierten, Schutzleute waren es, erfüllten nur die schwere Aufgabe, die Lastträger, Dragomans, Hoteldiener usw. so lange am Erklettern des Schiffs zu hindern, bis es wenigstens fest an Land lag. Mit Hilfe von freundlichen Worten und Stockhieben gelang es auch. Die Landungsbrücke schwebte noch mit einem Ende in der Luft, da machte der Schwarm einen verzweifelten Sturmangriff. Flatternde Kaftans, nackte braune Beine und brüllende Mäuler in schwitzenden, dunkeln Gesichtern rasten herauf. Einer riß mir den Koffer aus der Hand, ich griff schnell zu und gab ihm einen gelinden Faustschlag aufs rote Käppi. Da entfloh er. Ein Strudel von Menschen bildete sich um uns. Wir wollten auf die Brücke, aber ein Dutzend Hände hielten uns fest. Etwa fünfzig Hotelnamen in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache schwirrten uns um die Ohren.

Ein olivenfarbiger, schwarzbärtiger Kerl schnatterte auf mich ein.

»Wollen Sie ein Mädchen, Sir? Meine Schwester, sehr hübsch und jung!«

Er erhielt einen etwas ernsthafteren Hieb in seine Gaunerphysiognomie.

Da packte mich einer in blauer Livree.

»Gehen Sie nach Kairo, Sir? Ich bin vom Khedivial Hotel. Billig und gut. Ich will Sie nach dem Bahnhof führen. Sie haben nichts zu zahlen, außer der Straßenbahn!«

»Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich Ihnen wirklich nichts zahle. Ich kann den Bahnhof auch allein finden. Wie teuer ist Ihr billigstes Zimmer?«

»Fünfundzwanzig Piaster« (5 Mk.).

Au weh, ich beschloß, dem Manne durch die Lappen zu gehen,

»Kommen Sie, kommen Sie, es kostet Sie nichts, absolut nichts,« sagte der Grieche und schwor sofort einen Eid.

Er nahm meinen Koffer, von meinen Mitpassagieren konnte ich nicht Abschied nehmen, die Menschenflut hatte sie längst mitgerissen. Von der Brücke aus sah ich plötzlich eine Gestalt durch die Luke im Zwischendeck auf das Kai fliegen. Es war der, der seine Schwester verkaufte. Ein Polizeisoldat in Khaki und martialischem Schnauzhart hatte ihn hinausgeworfen.

»Inala buk ars, Kelb!« (Verdammter Lüdrian, Hund!) schimpfte er hinter ihm her und schüttelte drohend die Faust

Der hinausgeworfene Ehrenmann verschwand.

Im heißen Sonnenbrand ging's über einen Platz, über den Autos jagten, zweispännige ägyptische Droschken, galoppierende muntere Eselchen, geritten von ängstlich dreinblickenden Reisenden, schwitzende Hamals (Lastträger) und ein schreiender, aufgeregter Menschenstrom. Der Grieche mit meinem Koffer rannte voraus wie ein Windhund.

Da kam ein Schuppen mit großem Tor – ffft – weg war Mann und Koffer. Ich stürzte blitzschnell nach, fiel über einen Ballen Betten und ein schimpfendes Judenweib und wurde an eine Tafel gerissen, geschoben, gestoßen.

»The key, die Schlüssel!« schrie mein Grieche.

Ich öffnete den Koffer, ein Beamter griff hinein, klopfte daran, wegen eines etwaigen doppelten Bodens, eine Marke kam darauf und ein arabischer Schnörkel, und schon hatte der Hellene wieder zugeschlossen, mir den Schlüssel in die Hand gedrückt ein Geldstück auf den Tisch geworfen und sauste wieder im Galopp davon.

»Der nächste Zug gehen gleich, schnell machen, Herr!« brüllte er.

An einem Gittertor war ein Häuschen, der Grieche rief ein paar arabische Worte hinein. Ein roter Techerbusch und eine Brille darunter sahen zum Fenster heraus, und eine beringte, braune Hand winkte ab.

»Der Doktor, es ist all right«, rief der Agent und war wieder mal weg.

Vor mir bäumten ein paar schöne Droschkenpferdchen, die Trambahn war im Wege. Mein Grieche war plötzlich hinter mir und stieß mich mit dem Koffer sanft in einen Straßenbahnwagen hinein. Dann rollten wir geschwind durch etwas, das Straßen ähnlich sah. Flachdachige, hohe Häuser, dazwischen niedrige Hütten, halbverfallen und wüst, Zelte, dazu wieder ein Schutthaufen, eine weißschimmernde Moschee, ein riesiges Prachthotel und wieder Hütten, Schuppen, Schutthaufen. Und vor, in und auf all diesen Behausungen eine wimmelnde Menge, ein buntes Durcheinander von Menschen, Wagen, Eseln, Ochsen und Kamelen. Alles schrie, brüllte, grunzte und blökte durcheinander, ein jegliches nach seiner Art.

Durch unsern Straßenbahnwagen flutete auch ein gut Teil dieses Verkehrs, ein sich stets erneuernder Strom von Händlern mit Zeitungen, Obst, Zigaretten, Kuchen und tausend andern Dingen. Sie umschwärmten die Fahrgäste und waren so aufdringlich wie die Fliegen des Landes. Von der einen Seite wurden zwei vom Kondukteur hinabgeworfen, und von der andern kamen vier wieder herauf. Auf den Trittbrettern hockten zwanzig blinde Passagiere, und am Hinterperron ließen sich ein halbes Dutzend Radfahrer mitziehen.

Plötzlich gab's einen gewaltigen Ruck, alles stürzte heraus: Endstation, der Hauptbahnhof.

Mein Führer zerrte mich im Trabe auf ein dichtbelagertes Häuschen an der Vorderfront zu. Er verlangte Geld für die Fahrkarte, ich gab ihm ein Zwanzigfrankstück. Das erhielt wieder ein wildfremder, schmieriger Araber. Der stieg damit über die Holzbarriere vorm Häuschen und einem mit einem Bündel beladenen Greis auf den Rücken. Es gab eine Minute lang ein großes Geschrei und Gewürge in dem Haufen, und der Araberjüngling flog plötzlich mit großer Vehemenz wieder über die Barriere zurück. Zu meinem großen Erstaunen brachte er wirklich eine Fahrkarte nach Kairo und auch das Geld richtig wieder.

Jetzt: »Backschisch!«

Auf ein Zwanzighellerstück fiel er nicht herein, er wollte zwei Piaster haben. Ich gab ihm einen, und er war's zufrieden.

Zwei Minuten später saß ich in einem Wagen dritter Klasse des Schnellzugs nach Kairo. Ich sah nach der Uhr, seit ich das Schiff verlassen hatte bis jetzt waren gerade zwölf Minuten vergangen! Der Agent erhielt das ausgelegte Geld für Zollabfertigung und Straßenbahn noch durch das Fenster. Der Zug fuhr schon, da stand er noch draußen auf dem Trittbrett und verlangte meinen Namen. Er erhielt ihn und gab mir noch einen Hotelprospekt mit einem Plan von Kairo.

In wenigen Minuten war der sehr schnelle Zug aus Alexandrien heraus, und die typische Deltalandschaft begann. Im Sonnenschein funkelnde Kanäle des Nils, mit Schilf und Rohr verbrämt, Baumwoll-, Mais- und Reisfelder, dann und wann eine Gruppe wie Steinsäulen aufragende Dattelpalmen mit leuchtenden roten Früchten behangen, Mangroven, Sykomoren und Feigenbäume flogen vorüber. Schwitzende Fellachen stapften auf den Feldern hochgeschürzt hinter antiken hölzernen Pflügen her. Neben dem Eselein oder Kamel war die holde Gattin eingespannt. Tier und Mensch waren gleich geduldig. Sie ritzen gerade ein wenig den Schlamm des Vater Nil, so wie es ihre Väter schon vor 4000 Jahren taten. Dann sät der Fellah, das übrige besorgt die regelmäßige Ueberschwemmung und Allahs Sonne. Dann kam einmal ein Dorf, grau, niedrig und halbverfallen, menschlichen Wohnungen unähnlich. Sie sehen vom Zuge aus wie viereckige Haufen gedörrter Nilschlamm mit eingeschnittenen Tür- und Fensterlöchern. Das ganze Dorf hat nur ein Dach und vier Wände wie ein Ameisenbau.

Wieder huschten Felder vorüber mit weidenden Eseln, Ziegen und Kamelen auf den grasbewachsenen Wegen oder einem Ochsen im Schlamme eines Nilarms, der nachdenklich dem sausenden Ungeheuer nachblickt. Auf dem Telegraphendraht sah ich einige Landsleute sitzen, Schwalben in ihren Winterferien hier unten im Süden. Auf einem Feld keuchte eine Dampfpumpe am Kanal, daneben eines der uralten Schöpfräder, morsch und zerbrochen; ein Sinnbild des erwachenden, modernen Ägyptens.

Die Bremsen kreischten, der Zug lief in einen Bahnhof ein.

Mit furchtbarem Gebrüll strömten Passagiere, Händler und Bettler in die Wagen. Durch die Wagenfenster flogen Körbe, Koffer und Bündel, Kinder wurden herein- und hinausgesteckt.

»Moija!« schrie eine heisere Stimme am Fenster.

Ein Araber nahm für wenige Pfennige einen der porösen Tonkrüge, mit frischem, destilliertem Nilwasser gefüllt, ein Derwisch bezahlte dafür nur mit einem »Allah kehrim«« – Vergelt's Gott.

Ich zeigte einem Traubenhändler zwei Piaster und erhielt dafür gut zwei Kilo weiße, herrlich süße Trauben, mit Beeren fast pflaumengroß. Feigen, Datteln, Bananen, Melonen, Teppiche, Pfeifen, Pantoffeln, alle Früchte und Erzeugnisse des Orients schleppten die Händler in Körben auf dem Kopfe durch die Wagen. Eine Unterhaltung im Wagen, solange der Zug hält, ist unmöglich. Schon der Kauf einer Wassermelone wird von einem Gebrüll und einer Aufregung begleitet, als ständen Millionen auf dem Spiele.

Als alle Plätze besetzt waren, setzten sich die Neuankommenden einfach nach orientalischer Manier mit gekreuzten Beinen in den Gängen nieder oder kletterten auf mitgebrachte Gepäckstücke und machten es sich gemütlich. Sie rauchten, aßen, schwatzten, lachten, spielten Karten, beteten ihren Rosenkranz oder lasen ihre arabischen Zeitungen. Hinter mir lauste sich ein alter, würdiger Effendi, sein Gegenüber blies schon seit zwei Stunden mit vollen Backen eine Mundharmonika, immer dieselbe Weise.

Draußen verglühte in einer Farbensymphonie das letzte Tageslicht. Über dem rasch in blaue, dunkle Schatten versinkenden Horizont schwebte eine riesengroße Mondscheibe herauf. Ein seltsamer, fremder, uralter Duft stieg aus dem müden Lande auf. Vom Minaret einer kleinen Dorfmoschee klang der helle Ruf »Allah il Allah«. Die Bauern eilten auf Eseln und Kamelen in ihre Dörfer.

Am Wege vor dem Grabmal eines Heiligen hockte ein Feldwächter auf seinem kleinen Teppich und betete inbrünstig mit den zahlreichen Verneigungen, die der mohammedanische Kultus vorschreibt. Etwas unendlich Friedliches, Ruhiges liegt über diesem stummen, feierlichen Beten.

In den dunkeln Feldern glühte dann und wann ein einsames Feuerchen auf, eine Gruppe weißgekleidete Gestalten darum beim Abendbrot.

Da, nochmals das Kreischen der Bremsen.

Lichter tauchten auf: Tautah, die letzte Station vor Kairo. Mit dem üblichen Geheul stürmten sie wieder die Wagen. Es wurde wie im Mehlwürmertopf. Durch mein Fenster flogen Kisten, Körbe, Teppiche und Krüge, eine ganze arabische Haushaltung, herein. Dann kam ein kleines Mädchen, ein Junge, noch ein Mädchen und schließlich eine tiefverschleierte Frau denselben Weg. Alle traten mir freimütig in den Schoß und auf Hände und Füße.

Im Abteil war nur noch ein Platz frei, aber er genügte für die ganze vierköpfige Familie. Die Frau langte sogleich unter ihrem Gewände einen nackten, braunen, sechs Wochen alten Sprößling hervor, von dem ich noch gar nichts bemerkt hatte, und gab ihm ungeniert die Brust. Der kleine Junge untersuchte mir unterdessen zutraulich die Taschen und setzte sich mir dann aufs Knie. Es war sehr gemütlich und 35 Grad Celsius!

In Angst und Enge erreichte ich so endlich »Masr el Kahira« – die Siegreiche. Es war tiefe Nacht und ich in Kairo ganz unbekannt. Jetzt hieß es, eine meinem Geldbeutel angemessene Unterkunft suchen. Das Khedivial-Hotel für fünfundzwanzig Piaster war sie nicht.

Der Zug stand noch nicht, da schwang sich draußen ein Kerl aufs Trittbrett, und ein griechisches Gesicht sah zum Fenster herein.

»Mr. Artur Heye? Well, mein Agent in Alexandrien telegraphierte mir, daß Sie kommen. Ich bin vom Khedivial-Hotel!«

Ein Polypenarm griff zum Fenster herein und packte meinen Mantel und Koffer.

Ich drängte mich, so schnell es ging, protestierend zur Tür hinaus, meinen Sachen hinterher; da wurde ich schon unter einem alles ersäufenden Wortschwall zum Bahnhof hinaus und in eine Droschke gedrängt. Die Rosse zogen an, ich hatte eine unbestimmte Vision von vorüber jagenden Wagen und Autos, galoppierenden Reiteseln und einer Flut hastender, weißgekleideter Gestalten, alles überstrahlt von hellem elektrischem Bogenlicht und begleitet von einem ungeheuren Lärm und Geschrei; da waren wir schon da. Geschäftige Hände holten mich und mein Gepäck aus der Droschke und schleppten mich in die Vorhalle.

Dort stand der Ober und zückte die Feder fürs Fremdenbuch – ich war meinem Schicksal nicht entgangen.


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