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Am Rande des Lebens

In dem Laden des alten Hulligan herrschte heute ein furchtbarer Lärm. Eine betrunkene Gesellschaft saß drinnen beisammen, Eisenbahnarbeiter und Farmer aus der Umgebung. Sie hockten auf Schnapstonnen und Kisten, rauchten, tranken und gröhlten, tanzten auch einmal eins und verbrauchten dabei furchtbar viel Whisky.

Pater Hulligan schenkte ihnen aufmerksam ein, immer sein öliges Lächeln auf den fetten, groben Zügen. Das hatte er sicher noch aus dem Kloster. Sein Wandel vor dem Herrn war sogar für den Abt eines irischen Klosters zu bedenklich gewesen, und er hatte ihn hinausgeworfen. Jetzt verkaufte er hier in Texas Bier und Schnaps, Lebensmittel, Kleidungsstücke und landwirtschaftliche Maschinen und wer weiß was sonst noch.

An der Bar stand ein dürrer, blasser Mann mit ausgesprochen irischem Gesicht und der krummen, eckigen Haltung, die schwere Arbeit hervorruft. Er starrte in sein Glas.

»Willst du noch einen, Landsmann?« fragte ihn der Wirt.

Der Blasse lächelte:

»Wollen tät ich ihn schon; aber da sitzt mein Kamerad, der hält mir nachher einen Vortrag über die Verderblichkeit des Schnapses im allgemeinen und für meinen schwachen Magen im besonderen. Er hat übrigens verdammt recht, der Deutsche, ich habe genug und heute noch einen großen Weg.«

Der Wirt schielte nach der Ecke, in der der Begleiter des Blassen saß.

»Sollte kein Mensch glauben, daß der keinen Whisky säuft und dabei noch ein Dutchman ist. – Ihr seid Tramps, nicht? Wo wollt ihr denn hin?«

»Nach Pittsburg in die letzte Chance,« antwortete der Irländer mit einem leichten Seufzer.

»O weh,« lachte der Wirt, »da kommt ihr heute freilich nicht mehr hin. Ungefähr noch fünfzehnhundert Meilen bis dahin, was?«

»Ja, so etwas ist's. Da unten kommt wohl die große Trestlebrücke, nicht? Wir wollen heute noch drüber und bis nach Blackhurn.«

»Heiliger Patrick, da habt ihr noch weit,« rief Hulligan. »Und seht euch auf der Brücke vor. Wenn ihr runterfallt – der Sumpf ist zwanzig Meter tief! Es regnet und die Schwellen sind schlüpfrig!«

»Ja, wir müssen fort, es wird Abend. Good bye!« sagte der Blasse.

Er holte den Deutschen aus der Ecke, und sie gingen hinaus, der Ire ein wenig schwankend.

Der Regen schlug ihnen ins Gesicht, und es wehte kalt von den Bergen her.

Der Deutsche atmete tief auf und sah seinen Begleiter forschend an.

»Hast du gefragt, wann der nächste Zug kommt, Will?« fragte er.

»O du, das habe ich vergessen!« sagte Will erschrocken.

»Wärst du nicht in die Spelunke gegangen, so wären wir jetzt drüben. Der letzte Zug ist vor einer Stunde vorüber; wenn wir unterwegs von einem andern erwischt werden ...«

»Ja, dann wird's gefährlich, der Sumpf soll zwanzig Meter tief sein.«

Der Große schwieg und beugte sich gegen den Wind vornüber. Sein Begleiter knöpfte seinen Überzieher zu und trabte hastig neben den weitausgreifenden Schritten des Deutschen her.

Die Straße senkte sich, sie verließen sie, wandten sich rechts dem hohen Bahndamm zu und kletterten hinauf. Oben stürmte der Wind scharf daher und warf ihnen sprühende Regenschauer ins Gesicht. Die Gegend war kahl und nüchtern, doppelt trostlos im müden Dämmerlicht dieses Herbstabends. Oben am grauen Himmel jagten schwarze Wolkenfetzen, und der Wind sang in den zerzausten, tropfenden Sträuchern am Bahndamm.

Sie wanderten hastig vorwärts, hatten es eilig, in die Stahlhöllen nach Pittsburg zu kommen. Da waren alle möglichen Übel zusammen, eine furchtbare Arbeit, täglich einige schwere Unfälle, schlechter Lohn und Dreck und dazu wohl zwanzig Nationalitäten; bei den meisten saß das Messer locker.

Aber doch Arbeit, ein Unterschlupf für den Winter! Der ist hart in diesem Lande, und die Herzen seiner Bewohner sind's auch.

Alles das ging dem Deutschen durch den gesenkten Kopf. Dabei rannte er aber mit Riesenschritten vorwärts.

Der Ire zupfte ihn am Jackett.

»Was ist?« fragte er.

»Geh nicht so schnell, weißt du, mein Magen ...« sagte er mit einem gutmütigen Lächeln auf dem blassen Gesicht, aus dem die Nase spitz und schneeweiß heraussah.

»Ach so,« sagte der Große, und sein etwas starres Gesicht wurde freundlicher. »Siehst du, du hast stets bloß Beschwerden, wenn du getrunken hast. Bist sonst solch ein guter Kerl, aber du kannst kein Wirtshaus bloß von draußen betrachten.«

Er wandte sich ab. »Ein Kerl wie Samt und Seide, bloß schade, daß er suff,« rezitierte er leise auf Deutsch.

Da schwang sich der Bahndamm in großem, weitausholendem Bogen nach links herum, eine weite, grünliche Fläche dehnte sich vor ihnen im Schatten des heraufdämmernden Abends – der Sumpf.

Die Schienen liefen ineinander, die Bahn wurde eingleisig Fred sah an dem hohen Signalmaste hinauf, der dort stand, nickte und ging weiter.

Vor ihnen lag die Brücke. Die Gleise lagen auf eingerammten Pfählen, die Schwellen ragten so wenig über die Schienen hinaus, daß außen kein Platz mehr zum Gehen war, man mußte innerhalb der Schienen laufen. Die regengetränkten Schwellen glänzten schwarz und naß. Das Gehen war gefährlich. Zwischen den Schwellen schimmerte der grüne Sumpf, durchsetzt mit großen, schwarzen Wasserlachen, herauf.

Der Große ging voraus. Will folgte ihm ein bißchen unsicher und ängstlich. »Wenn bloß kein Zug kommt, Fred! Wir wären verloren, ausweichen geht hier nicht.«

»Na, beruhige dich!« sagte Fred, »das Signal war auf ›Freie Strecke‹ gestellt, und von vorn ist ja der letzte Zug kaum vorüber. Trotzdem wollen wir so schnell wie möglich machen, daß wir hinüberkommen.« Der Ire gab keine Antwort. Er sah sich von Zeit zu Zeit um und stöhnte manchmal leise; sein Magen schmerzte ihm.

Sie waren ziemlich bis an die Mitte der Brücke gekommen, da blieb der Ire stehen.

»Fred, horch!« Eine Minute verstrich in tiefem Schweigen. Da verzerrte sich Wills Gesicht.

»Heiliger Gott, Fred, hörst du es denn nicht, das Rollen? Ein Zug kommt!« schrie er.

Der Große preßte die Lippen zusammen.

»Schnell, Will schnell vorwärts! Dort drüben ist ein Licht, das Bahnwärterhaus. Wir müssen hinkommen, ehe der Zug uns eingeholt hat!«

Der Irländer schoß voraus, Fred stürmte in langen Sprüngen hinter ihm her, mit jedem Satze über mehrere Schwellen hinweg. Der Sturm knatterte ihnen um die Ohren, der Regen peitschte in grauen Schleiern herab, und hinter ihnen wurde das unheimliche Rollen stärker. Von Todesangst getrieben, sausten sie zwischen den glänzenden Schienen dahin, dem rettenden Lichte zu. Sie wagten sich nicht umzusehen, jede Sekunde war wertvoll. Da tat der Ire einen Fehltritt, er rutschte mit einem Bein zwischen die Schwellen hinab. Fred packte ihn am Kragen und riß ihn empor. »Vorwärts!« schrie er ihm ins Ohr, das Geräusch des herankommenden Zuges verschluckte den Schall seiner Stimme, die Schienen klangen in kurzen, hellen Takten, und das heftige Keuchen der Lokomotive wurde lauter und deutlicher.

»Will, wir kommen nicht mehr hinüber, spring hinunter, dicht am Pfahl, laß den nicht los, schnell, spring!« schrie der Deutsche.

Der Ire sah ihn mit weißem, vor Todesangst verzerrtem Gesicht an und schüttelte den Kopf.

»Hinunter!« brüllte Fred nochmals und packte ihn an der Schulter.

Will sträubte sich, die Angst und der genossene Schnaps hatten ihm die Sinne verwirrt.

Jetzt begann ein nur sekundenlanges, wildes Ringen zwischen den beiden auf den glitschigen Schwellen. Das Entsetzen gab dem Iren Riesenkräfte. Schon zuckte ein bleiches Licht aus dem Scheinwerfer der Lokomotive über die beiden Kämpfenden, da hob der große Deutsche den Iren aus und dicht vor dem Kuhfänger der Lokomotive taumelten sie aus dem blendenden Lichtkreise über die Schienen und stürzten klatschend in den Sumpf.

Will packte noch im Fallen instinktiv einen der dicken Pfähle. Er krallte sich fest. Die Kälte des Schlammes jagte ihm den Rausch aus dem Körper. In wilder Angst zog er sich an den Pfahl heran und daran hoch. Sein Knie stieß an eine scharfe Kante, ein Zementsockel oder so etwas war's; er kletterte hinauf, holte tief und keuchend Atem und wischte sich den Schlamm aus dem Gesicht.

Da traf ihn ein leiser Ruf. Herr Gott, Fred!

»Fred, wo bist du?«

»Hier!« schrie es neben ihm aus der Dunkelheit. Er bog sich vor und spähte hinab. Da, ein weißer Fleck, Freds blasses Gesicht, seine weit aufgerissenen Augen starrten ihn an. Ein Grausen rann ihm über den Rücken; es sah aus, als läge der Kopf abgeschnitten dort.

»Fred, warte, ich!« – er überlegte, »ja, so geht's. Paß auf!«

Er rutschte wieder am Pfahle hinab, fuhr mit den Fußspitzen über den Boden und streckte sich lang aus.

»Packe mein Bein, kannst du?«

»Ja, aber ich wage mich kaum zu rühren, ich weiß nicht, ich stehe auf etwas Hartem, aber wenn ich mich bewege ... Muß erst meinen Arm freibekommen, so, noch ein Stückchen!« Will dehnte seinen Körper, bis er nur noch mit den verschlungenen Armen am Pfahle hing.

»Jetzt zieh, aber laß ja nicht los, ja nicht!«

Will zog sich mit Aufgebot aller Kräfte an den Pfahl heran. Fred strampelte mit den Beinen, um nachzuhelfen; es ging sehr langsam, aber es ging. Schwitzend und keuchend zerrten und wühlten die beiden in dem zähen, stinkenden Brei. Endlich faßte der Deutsche den Pfahl und klomm auf den Absatz, erschöpft und triefend.

Eine Weile hockten die beiden Kameraden zitternd vor Anstrengung im kalten Regen und brachten hustend und niesend den Schlamm aus Mund und Nase.

»Pfui Deibel,« spuckte der Deutsche, »das war eine verfluchte Geschichte. Allein wäre ich hier nicht wieder herausgekommen.«

»Und ich bin froh, daß du mich erst hineingeworfen hast. Ich wäre jetzt da oben so etwas wie Apfelmus,« knurrte Will. Er schüttelte sich und spie aus. »Schmeckt scheußlich, das Zeug. Well, nun komm, wir wollen hinauf und sehen, daß wir trocken werden.«

Sie kletterten an den Stämmen hoch, kratzten den Schlamm von den Kleidern und schütteten die Schuhe aus. Trabten dann naß und frierend weiter bis ans Ende der Brücke.

Am Bahnwärterhaus fragten sie, ob sie hereinkommen dürften sich reinigen und ein bißchen wärmen.

Der Bahnwärter hieß sie freundlich eintreten und hörte staunend ihre Schreckensgeschichte an.

»Männer, ihr habt Schwein gehabt,« sagte er. »Ihr seid auf den alten Bahndamm gesprungen. Sonst wäret ihr so spurlos im Sumpfe verschwunden, wie ein Dollar in Rockefellers Tasche. Früher war hier eine Talsperre, wißt ihr, so eine Schwindelgesellschaft baute sie, verfluchter Humbug war es. Es kam eine große Überschwemmung und dann eine ebenso große Pleite. Jetzt ist Crows Valley das feuchte, lieblich duftende Veilchenbeet, in dem ihr herumgepatscht seid. Na, jedenfalls seid ihr wieder heraus, es fehlt auch keinem ein Bein oder Kopf. Macht euch rein, ich braue unterdessen einen ›Whisky heiß‹. Den könnt ihr doch vertragen, nicht?«

Die beiden Leidensgefährten stimmten zu, besonders eifrig der Ire.

Sie tranken den »Whisky heiß«, erzählten sich noch bis spät in die Nacht hinein und schliefen dann im Heu. Beim Grauen des nächsten Tages brachen die beiden Tramps auf, sahen noch einmal schaudernd auf die in weißen Morgennebel gehüllte Trestlebrücke hinab und wanderten dann weiter nach Norden dem fernen, rußigen Pittsburg zu.


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