Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Heute herrschte eine Tropenhitze hier im Süden von Delaware. Die Sonne brannte auf das Dach des hölzernen Stationshauses hernieder, daß der Teer in langen Fäden heruntertropfte. Grell stach sie auch auf das Schild über der Tür, das den schönen Namen »Brandyvine« trug. So hieß nämlich die Station.
Mein Freund lag lang ausgestreckt im Schatten des Güterschuppens, sah durch das Fenster dem Beamten am Telegraphenapparat zu und klopfte sich ab und zu auf die Stelle seines Körpers, wo gutsituierte Leute den Bauch haben.
Er hatte freilich keinen, und ich auch nicht. Dafür hatten schon die letzten drei Tage gesorgt. Heute mittag aber war uns von einem Farmer ein hochfeines Diner vorgesetzt worden, Kurt hatte seinen Mann oder vielmehr seine zwei Männer dabei gestellt, und daher kam jetzt das befriedigte Klopfen.
Ich kauerte auf einer umgestürzten Pianofortekiste, kratzte meine Maispfeife aus und sah, wie ich glaube, ziemlich mürrisch drein. Ich hatte kein bißchen Tabak mehr.
Jetzt wartete ich hier auf den nächsten Zug; ich war entschlossen, dann irgendeinen Menschen, wenn's sein mußte, den Präsidenten der Vereinigten Staaten, um Tabak anzufechten.
In einem Umkreise von einigen Meilen gab es hier keine sonstigen Menschen, den Beamten und seinen Negerjungen ausgenommen. Beide hatte ich schon erfolglos interviewt. Ich klopfte wütend meine Pfeife aus und blickte dann wieder sehnsüchtig die Gleise entlang – vom Zuge war noch nichts zu sehen.
Da kam um die Kurve herum ein Mann gelaufen.
Ob der wohl Tabak hatte? Ich betrachtete ihn aufmerksam, dann mit gespanntester Aufmerksamkeit.
Ja war das möglich? Ich sah nochmals scharf hin; kein Zweifel, den kannte ich! –
Da sah und erkannte ihn auch Kurt, er sprang auf, wir guckten uns eine Minute sprachlos an; dann liefen wir ihm entgegen.
Es war Moses Weinstock!
»Mensch, Moses, Weinstock! Wo kommst du denn her?«
Er sah uns an und schüttelte mit einem wehmütigen Lächeln, das ich schon von früher her an ihm kannte, den Kopf; er schien uns nicht zu erkennen.
»Bitte, meine Herren, kann man hier nicht bekommen einen Schluck Wasser?«
Himmel, wie sah der Mensch aus! Ich bemerkte das jetzt erst. Die Wangen waren hohl wie bei einem Skelett; die Augen lagen tief und brennend im Gesicht. Sein unsicherer Gang war mir schon aufgefallen.
Wir zeigten ihm den Brunnen hinter dem Gebäude. Er trank gierig aus meiner Mütze; wir mußten sie wieder und wieder füllen. Endlich hatte er genug. Er setzte sich, wo er stand, auf die Erde nieder und murmelte etwas, was ich nicht verstand.
Wir hatten uns immer noch nicht von unserem Erstaunen erholt, diesen Mann hier und unter solchen Umständen wieder zu treffen.
Als wir vor mehr als zwei Jahren von Europa herüberfuhren, waren im Zwischendeck auch eine große Anzahl russischer Juden. Einer von ihnen, der ziemlich gut deutsch sprach und verstand, hatte mit uns Freundschaft geschlossen.
Es war dieser Weinstock hier. Manchen Abend hatte er uns durch Erzählungen aus seinem Leben, hauptsächlich aus seiner Militärzeit in Rußland, verkürzt. Er war der Sohn einer armen, aus Deutschland eingewanderten kinderreichen Händlerfamilie. Geboren war er in Moskau. In Nishnij Nowgorod, wohin seine Eltern verzogen waren, hatte er das Schneiderhandwerk erlernt. Dann kam er zum Militär; und seine Erlebnisse dort waren schuld daran, daß er später nach Amerika ging und jetzt hier lag, mit zerfetzten Schuhen und Kleidern, dürr und heruntergekommen, eine Ruine von einem Menschen.
Er hatte es nicht gut gehabt bei seinem russischen Infanterieregiment, Die Offiziere hatten ihn beschimpft und geschlagen und ihm Strafen über Strafen zudiktiert.
Von seiner Mutter wurden ihm einige Male Sachen zugeschickt – er bekam sie nie; dann auch Geld, – es verschwand.
Als er wieder zehn Rubel nicht bekommen hatte, machte er seinem Unteroffizier Meldung. Der ließ ihm zehn Hiebe geben, und ermahnte ihn, ihm nur immer vertrauensvoll derartige Sachen zu melden, er werde das Seinige pünktlich erhalten. Darauf verzichtete Moses und schrieb seiner Mutter, sie möge ihm nichts mehr schicken.
Als er sich eines Tages krank melden wollte – er konnte nicht mehr laufen – schlug ihm der Offizier ins Gesicht, daß er blutete. Da beschloß Moses, zu desertieren. Eines Nachts rückte er heimlich aus, lief zur Bahn und stieg auf einen Güterzug. Auf diese Weise kam er schnell ein gutes Stück vorwärts.
Die Manöver hatten in der Nähe der deutschen Grenze stattgefunden, und so erreichte er noch vor Morgengrauen das letzte russische Grenzstädtchen.
Hier verschafften ihm Glaubensgenossen bald einige Zivilsachen, ein wenig Geld und einen falschen Paß. Dann schrieb er unter einer Deckadresse an seine Mutter um Geld, er wolle nach Amerika flüchten.
Auf dem Schiff war er von den besten Hoffnungen erfüllt.
»Sehen Sie, meine Herren, es wird nicht können werden schlimmer als in Rußland. Ich werde bekommen Arbeit und werde sparen, daß ich kann etwas schicken meiner Mutter. Es wird gehen.«
Und nun war es doch nicht gegangen! In Neuyork war er damals gelandet; unser Ziel war Baltimore.
Wir hatten noch manchmal seiner gedacht, hatten sein wehmütiges Lächeln und seine drollige Sprechweise erwähnt und gehofft, daß die bescheidenen Hoffnungen dieses armen Teufels im Dollarlande erfüllt werden möchten. Nun hatten wir ihn so wieder getroffen. Er tat mir unendlich leid.
Als er eine Weile geruht hatte, fragte er mit leiser müder Stimme:
»Die Herren haben wohl nicht ein Stück Brot?«
Wir zwei »Herren« sahen einander verlegen an, und ich mußte ihm leider versichern, daß er richtig geraten habe, wir hätten keins.
Gleich darauf kam der Zug. Kurt focht eine aussteigende Dame verzweifelt an. Sie gab ihm einige Bananen und einen Pie (Obstkuchen).
Kurt, der Pies ebenso gern aß wie ich, warf einen entsagungsvollen Blick darauf und gab ihn dann dem Juden; der aß ihn langsam auf.
Ich hatte einem alten weißbärtigen Herrn etwas Cutploughtabak abgebettelt, dann erhielt ich von dem Kutscher der Dame mit dem Pie noch eine Zigarre. Das übte auf mich eine so gute Wirkung aus, daß ich beim Abmarsch von Brandyvine aus Leibeskräften den Sozialistenmarsch pfiff.
Der Telegraphenbeamte sah zum Fenster hinaus und schüttelte mißbilligend den Kopf. Kurt sah es und brach in ein schallendes Gelächter aus.
Als ich fragte, warum er lache, meinte er:
»Jetzt weiß ich erst, wo ich den Mann schon gesehen habe, – im Affenhause des Leipziger Zoologischen. Sieht er nicht aus wie ein richtiger alter Pavian, wie er so böse hinter uns herglotzt?«
Moses ging mit uns. Er erzählte uns in abgerissenen Sätzen seine Erlebnisse in Amerika. Sie waren trüb und traurig wie die der meisten Einwanderer. Zuletzt hatte er in einem kleinen Städtchen, etwa 60 Meilen von hier, gearbeitet. Wegen Krankheit mußte er seine Stellung aufgeben, und als er wieder gesund war, fand er keine andere. Da faßte er den Entschluß, nach Philadelphia zu laufen. Aber vier Nächte im Freien und die magere Kost hatten für seine schwache Leibesverfassung genügt.
Als wir eine halbe Stunde gelaufen waren, mußte er sich setzen und ausruhen. Der Schweiß rann ihm in Strömen über das eingefallene Gesicht. Seine dunklen Augen sahen geradeaus. Es waren merkwürdige Augen, voller Verzicht und Traurigkeit. Eine ganze Welt von Menschenleid lag darin.
Als er aufstand, schwankte er hin und her, machte einige stolpernde Schritte und setzte sich dann wieder nieder.
Wir sahen ein, daß er heute nicht mehr weiter konnte. Kurt guckte sich nach einem Nachtlager um.
Nach einer Stunde kam er mit der Nachricht wieder, etwa einen Kilometer weit rechts von der Bahn sei ein Strohhaufen.
Wir brachen auf. Moses sprach kein Wort mehr. Sein Zustand verschlimmerte sich zusehends. Was ihm eigentlich fehlte, konnte ich nicht erfahren. Es war wohl einfach Erschöpfung.
In den Strohhaufen gruben wir von der Seite einen Stollen und pflanzten den Weinstock hinein, so daß nur sein Kopf hervorsah. Er bekam noch eine Banane, und dann machten wir uns jeder ein gleiches Loch.
Als Moses schlief, verließen wir ihn noch einmal. Es war unterdessen dunkel geworden, und wir hatten vor uns ein Licht bemerkt, das jedenfalls von einem Farmhause kam. Unterwegs fiel ich noch in einen Schlammgraben, was auf mein Äußeres von sehr ungünstigem Einfluß war.
Es war eine große und noch ganz neue Farm. Die schwarze Köchin, die wir um etwas Essen baten, erklärte uns, der Boß Boß = Arbeitgeber. wäre nicht zu Hause, die Missis zu Bett gegangen, überhaupt nichts mehr zu essen da, und wir sähen sehr ruppig aus und täten besser, ein wenig zu arbeiten. Dann warf sie die Tür zu.
Es war das erstemal, daß uns eine Negerin so entgegenkam. Sonst hatten uns auch die ärmsten ihrer Rassegenossen etwas von dem Wenigen gegeben, was sie hatten. Vorsichtigerweise schickte sie aber einen Arbeiter heraus, der uns vor die Farm brachte und uns mit einem herzlichen »Gute Nacht« entließ.
Wir kehrten trotz dieser Vorsichtsmaßregel noch einmal um, als er fort war, und unterzogen den Obstgarten einer genauen Prüfung. Die Pfirsiche waren gut, doch mit den Äpfeln war nicht viel los.
Am andern Morgen war Moses körperlich leidlich munter, aber sein Gemütszustand machte mir Sorgen. Wir marschierten etwa fünf Meilen hintereinander weg, dann rasteten wir an einem Sägewerk. Kurt bekam darin Brot mit Butter und Fruchtsaft bestrichen, wir machten drei Teile, doch war Moses nicht zu bewegen, etwas zu nehmen. Er starrte mit trüben, manchmal jäh aufflackernden Augen vor sich hin, und auf dem ganzen Marsche hatte er fast noch kein Wort gesprochen. Ich steckte ihm seinen Teil in die Tasche, dann ging es weiter.
Das Wetter hatte sich über Nacht geändert. Heute fegte ein kühler Nordwind mit kurzen, rauhen Stößen daher. Gegen elf Uhr fing es an zu regnen. Moses fror, ich auch und Kurt hatte nach mehreren vergeblichen Versuchen, mit dem ihm eigenen Humor Stimmung in uns zu bringen, die Sache aufgegeben.
Unser Weinstock war von Meile zu Meile langsamer gegangen. Jetzt setzte er sich wortlos auf einen Stapel von Schwellen nieder. So saßen wir drei eine Weile stumm und niedergeschlagen, ließen uns naß regnen und froren erbärmlich. Moses machte mit seinen heraufgezogenen Knien, dem spitzen, weißen Gesicht und den nassen Sachen einen bejammernswerten Eindruck.
Als wir etwa eine halbe Stunde gesessen hatten und Moses keine Anstalt traf, aufzubrechen, fragte ich ihn etwas ungeduldig, ob er denn noch nicht weiter könne.
Er lächelte und stand sofort auf. Ich machte mir im stillen Vorwürfe, daß ich so rücksichtslos gegen ihn gewesen war und nahm mir vor, ihm, wenn es irgend möglich wäre, für heute Nacht ein Bett in einer Farm zu verschaffen.
Ich habe ihm dann auch eins verschafft, aber nicht in einer Farm. –
Nachmittags gegen zwei Uhr erreichten wir einen Laden an der Bahn. Der Besitzer gab uns nichts, doch sagte er, in einer halben Stunde könnten wir Highbridge, ein Städtchen, erreichen. Dort würden wir genug zu essen bekommen.
Nach einiger Zeit sahen wir den Bahnhof vor uns liegen. Wir machten vor einer Brücke halt, die einen Fluß und neben diesem noch eine Straße überspannte. Die Gleise lagen etwa 15 m über dem gemauerten Brückenbogen. Der Damm bis dahinunter war mit scharfkantigen spitzen Bruchsteinstücken mehr besteckt als gepflastert.
Moses wollte oben bleiben, Kurt und ich stiegen hinunter, um in der Stadt nach Arbeit und etwas Genießbarem Umschau zu halten. Auf dem Wege meinte aber Kurt, es sei besser, Moses mitzunehmen, manchmal gäbe es hier so etwas wie ein Krankenhaus, wo er vielleicht Aufnahme finden könnte. Ich war derselben Meinung. Wir gingen also noch einmal hinauf.
Kurt war eher oben als ich, er drehte sich nach mir um und sagte: »Wo will denn Moses hin, der läuft ja fort?«
Ich sah ihn auch gehen und dann über der Brücke stehen bleiben und hinabsehen.
Eine böse Ahnung stieg in mir auf. Ich rannte vorwärts auf ihn zu. Drei Schritte war ich noch von ihm entfernt, da drehte er sich um. Er hob wie grüßend die Hand, dann trat er über den Rand hinaus. Einen Augenblick schien es, als stände er in freier Luft, dann neigte er sich nach vorn und stürzte hinab.
Im letzten Augenblick wollte ich ihn noch halten und bog mich vor – ich wäre ihm fast nachgestürzt; Kurt riß mich zurück.
Und dann sahen wir den Körper des Unglücklichen wie einen Gummihall von Stein zu Stein springen, aufschlagen, und weiterrollen und springen, dann ein klatschender Schlag und ein Aufspritzen des Wassers.
In später Abendstunde fanden sie den Leichnam. Ich hatte dem Sherif der Stadt Mitteilung von dem Geschehenen gemacht.
Wir halfen den Toten in die Leichenhalle tragen. Sein Gesicht war nur wenig verletzt. Über den Schädel hatten wir ein Tuch gebreitet – er hatte keinen Hinterkopf mehr.
Dann drückten wir ihm die Hand und gingen.
Am nächsten Tage liefen wir noch einmal zurück bis auf die Brücke und sahen eine Weile hinunter. Die Sonne schien fahl über blauschwarze Wolkenbänke herab, unten schoß der gelbe Fluß ins regennasse Land hinaus. Graugrün lag es da, mit großen hellen Flecken weißen Sandes gesprenkelt.
Dann turnten wir wieder über die Schwellen, stumpf und schweigsam, rechts und links eine im Sonnenschein glitzernde Schiene, weiter, immer weiter ...