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XX

Laurenz Terbroich war unwillkürlich zur Seite getreten. Offenen Mundes starrte er die Erscheinung an. Dann preßte er die schmalen Lippen aufeinander und blähte die Nasenflügel, um seine Bestürzung zu meistern. »Herr Doktor Otten?« fragte er endlich und lächelte mit unterwürfigen Augen. »Sie kommen nach Köln zurück?«

»Extra Ihretwegen.«

Laurenz Terbroich schloß die Korridortür und ließ den Besucher ins Zimmer. »Entschuldigen Sie die Unordnung, Herr Doktor. Mein Diener hat den Nachmittag von mir frei bekommen, des Fastnachtsdienstags wegen. Auch ich wollte noch zu einer Veranstaltung. Man wird in diesen Tagen den Domino überhaupt nicht mehr los. Aber Sie waren ja auch einmal jung und in solchen Dingen nicht der letzte. Nein, wirklich, es sieht hier geradezu beschämend aus.«

Er hastete die Sätze heraus, als wollte er den Besucher gar nicht zu Wort kommen lassen, als wünschte er von vornherein den leichten Ton anzugeben, auf dem sich die Unterhaltung bewegen möchte.

Joseph Otten sah sich aufmerksam um. Der Salon war geschmackvoll in einheitlichem Stil gehalten. An den Wänden hingen alte, schöngerahmte Ölbilder. Auf dem Tisch stand die fußhohe Nachbildung einer Venus in Bronce. Daneben ein dünnstengeliges, halbgefülltes Sektglas venetianischer Arbeit und in metallenem Kühler die leere Flasche. Mit einem ironischen Ausdruck blickte Otten von dem Arrangement aus den Besitzer, der sich verlegen das schmale Backenbärtchen und die rasierte Oberlippe strich.

»Sie haben sich wohl Mut getrunken, Herr Terbroich?«

»Mut? O nein. Aber in dieser Karnevalsstimmung –«

»Ernsthaft. Ist diese Karnevalsstimmung in den letzten Jahren nicht die normale bei Ihnen gewesen?«

»Sie scherzen. Ich bin sonst kein Trinker. Ich wollte nur heute abend gleich in gehobener Stimmung sein.«

»Sie haben etwas Besonderes vor?«

»Nichts Besonderes gerade. Der übliche große Kehrausball.«

»Allein?«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine, ob Sie mit meiner Tochter hinzugehen gedachten?«

»Mit Ihrer – Tochter?«

»Herr Terbroich, Sie tun ja gerade, als ob Sie von der Existenz meiner Tochter kaum Kenntnis hätten? Mir wäre das weiter nicht unlieb, aber bleiben wir bei der Wahrheit, oder, falls Ihnen das Wort nicht geläufig sein sollte, auf realem Boden.«

»Herr Doktor, Ihre verletzende Unterstellung –«

»Bitte,« sagte Otten. »Ich komme erst in zweiter, dritter Linie in Betracht. Nicht wahr, das empfinden Sie selber? Und wir wollen hier keine Silben stechen. Dazu ist die Situation nicht angetan und die Zeit zu kostbar. Also Sie kennen Carmen sehr genau, Herr Terbroich?«

In Laurenz Terbroichs Augen spielten unruhige Lichter. Seine schmalen Lippen zuckten nervös. »Selbstverständlich« erwiderte er kurz. »Wir sind doch Jugendfreunde.«

»Würden Sie mir wohl ein wenig von Entwicklung und Ziel dieser Freundschaft erzählen?«

»Derartige Liebesgeschichten dürften Sie doch zu wenig interessieren.«

»Ah – Liebesgeschichten. Vorhin nannten Sie das – Jugendfreundschaft. Ich sehe, wir verstehen uns bereits besser.«

»Ich verstehe Sie ganz und gar nicht, Herr Doktor.«

»Ich möchte Sie nicht gern von Ihrem Vergnügen zurückhalten, Herr Terbroich. Marschieren wir deshalb geradeaus, und wir können uns in einer Viertelstunde eine freundliche Verbeugung machen.«

»Was bezwecken Sie denn eigentlich? Das ist doch kein Tag zu ernsten Auseinandersetzungen.«

»Für mich sind die Tage gleich geworden. Wären sie es nicht, so ließen Sie mir doch keine andere Wahl. Und daß Sie selber ernste Auseinandersetzungen voraussehen, beweist mir Ihr Ausspruch. Bitte, sprechen Sie weiter.«

»Herr Doktor, ich verwahre mich ausdrücklich dagegen –«

»So sprechen Sie doch endlich weiter!« – Das klang wie ein Befehl.

»Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen,« murmelte Laurenz Terbroich.

»Mit anderen Worten: Sie wünschen, daß ich fragen soll. Nun, ich kann ja auch das. Also Sie lieben Carmen –?«

»Wir mögen uns sehr gern.«

»Ihr mögt euch sehr gern ... Und Carmen liebt Sie wieder?«

»Sie bringt mir die gleichen Gefühle entgegen.«

»Sehr diplomatisch ausgedrückt. Aber damit kommen wir nicht weiter. Was sind das für Gefühle, die Sie erwähnen?«

Über des jungen Mannes Gesicht glitt ein trotziges Aufbegehren. »Das sind unsere eigenen Angelegenheiten.«

»Nicht doch, Herr Terbroich, Wenn ich in denselben Ton verfalle, gibt es ein Unglück.«

Laurenz Terbroich zuckte zusammen und warf einen scheuen Blick auf den unheimlichen Frager, der hager und sehnig vor ihm aufgerichtet stand. »Haben Sie nicht auch Ihre kleinen Geheimnisse gehabt, als Sie jung waren?«

»Das habe ich. Aber ich hatte sie nicht allein. Die andere teilte sie mit mir.«

»Das ist auch hier der Fall. Carmen und ich sind uns vollkommen klar.«

»Worüber?«

»Über unsere Liebe, oder unsere Freundschaft – oder wie Sie es nennen wollen.«

»Nicht, wie ich es nennen will. Ich will hören, wie Sie beide es nennen. Sie schweigen –? Also sagen wir. Sie sind sich über Ihre Liebe klar. Und wie gedachten Sie, diese Liebe auszugestalten? Denn man steckt sich doch irgend ein Ziel.«

»Das haben wir vorläufig noch der Zukunft anheimgegeben.«

»Diese Zukunft scheint mir aber sehr nahe zu liegen. Nehmen wir an, daß morgen schon diese Zukunft wäre. Was ist Ihnen? Morgen wird ein Tag wie alle anderen sein. Was würden Sie also morgen tun?«

Laurenz Terbroich nestelte die Knöpfe seines Dominos auf und zu, »Wenn Sie es wünschen,« sagte er dann und mühte sich, eine Zuvorkommenheit in seine Sprache zu legen, »wenn Sie es wünschen, werde ich heute abend noch mit Carmen darüber reden.«

»Weichen Sie mir nicht immer aus.«

»Ich weiche Ihnen durchaus nicht aus. Ich bin so gutmütig, mir Ihre Inquisition gefallen zu lassen, obwohl Sie am wenigsten ein Recht dazu hätten –«

»Wollen Sie bei der Sache bleiben?«

»Sie können doch nicht einfach Ihre ganzen Lebensmaximen auf den Kopf stellen.«

»Für mein Kind,« sagte Otten eisig, »könnte ich noch etwas ganz anderes, als meine sogenannte Lebensweisheit über den Haufen werfen. Merken Sie sich das.« Er lenkte ein. »Aber das vermögen Sie noch nicht zu verstehen. Sie müßten sein wie ich und ein Leben gelebt haben wie ich. Ich will nicht zu streng mit Ihnen ins Gericht gehen.«

»Ich könnte Sie auch nicht als Richter anerkennen. Es gäbe Frauen genug, die ich gegen Sie anführen könnte.«

»Sie reden von anderen Menschen und ich rede von meiner Tochter, Herr.«

»Nun ja?«

»Von meiner Tochter! Das ist ein Unterschied!«

»Das ist, wenn Sie gestatten, ganz einfach unlogisch.«

»Es ist meine Logik, weil es meine Tochter ist. Es würde mich um Ihretwillen sehr betrüben, wenn Sie sich dieser Logik verschlossen zeigen sollten.«

Sein Blick wich nicht von Terbroich, dessen Gesicht sich unwillig färbte. »Dieser Logik bin ich nicht gewachsen.«

»Sie gedachten, morgen mit meiner Tochter eine Reise nach dem Süden zu unternehmen.«

»Wer behauptet das?«

»Ich bin nicht engherzig genug, Menschen, die sich lieben und die obendrein mündig sind, Vorschriften machen zu wollen. Nur den Grad der Liebe muß ich wissen. Daß Carmen fest auf Ihre Ehrlichkeit baut, dessen bin ich gewiß. Sie würde sonst nicht so weit mit Ihnen gegangen sein, denn über ihren Stolz sind wir uns ja wohl einig.«

»Carmen ist eine viel zu große und freie Natur, als daß sie den landläufigen Heiratsgedanken eine solche Wichtigkeit beimäße.«

»Nicht Heiratsgedanken. Treugedanken.«

»Wir sind uns treu.«

»Und werden es bleiben? Denn das wäre die Ehe.«

»Das hängt nicht allein von mir ab.«

»Sie lügen, Mensch.«

Laurenz Terbroich fuhr auf. Die beiden Männer standen sich hart einander gegenüber.

»Sie lügen. Denn Sie möchten mich glauben machen, es könnte auch von meiner Tochter abhängen. Und ebenso belügen Sie meine Tochter, indem Sie ihr ewige Treue vorspiegeln, während Sie nur das schöne Spielzeug noch nicht missen möchten. Noch nicht. Aber Sie werden keinen Schritt weiter gehen, Terbroich, das verspreche ich Ihnen. Ich mahne Sie. Es ist meine Tochter.«

»Sie beschimpfen mich in einer unverantwortlichen Weise.«

»Der Schimpf ist sehr schnell behoben. Antworten Sie klar und ohne Umschweife: Wollen Sie Carmen heiraten?«

»Daran ist augenblicklich gar nicht zu denken. Wenn Carmen auch über einiges Vermögen verfügt, so würde das doch nicht ausreichen, um einen schuldenfreien Haushalt zu ermöglichen. Die Fabrik aber erträgt zur Zeit nicht noch einen Haushalt, wie ich ihn gewohnt bin und wie ich ihn bei einer Verheiratung führen müßte, neben dem meines Vaters. Ganz abgesehen davon, daß die Fabrik modernisiert und vergrößert werden muß, was ungeheure Summen beansprucht, die beschafft werden wollen.«

»Das war ehrlich. Also ist eine Heirat ausgeschlossen, und wir hätten uns nur noch mit dem Fall zu befassen, daß Sie unverheiratet zu bleiben gedächten, um Ihre und Carmens Liebe zu sanktionieren. Sagen Sie mir, daß jeder im anderen den Lebensgefährten sehen will, und ich gehe.«

Laurenz Terbroich spielte mit dem Glas, das er vom Tische nahm. »Wie kann ein Mensch so langfristige Versprechungen geben! Noch dazu für sich und einen zweiten Menschen?«

»Sie sollen es nur für sich allein. Und nur für die Zeit, die Sie nach ehrlichem Ermessen übersehen.«

»Das – kann ich.«

»So werden Sie also zunächst mit mir gehen und Ihre Verlobung rückgängig machen.«

Laurenz Terbroich zuckte zusammen, daß das Glas, mit dem er spielte, gegen die Tischkante klang. »Sind Sie – bei Sinnen?«

»Sie geben demnach zu, daß die Verlobung besteht. Dieselbe, die Sie mit Ihren rednerischen Jongleurkünsten meiner Tochter auszureden verstanden. Kein Wort! ... Teufel, was für ein minderwertiges Subjekt! Und mit so was muß ich mich befassen!«

»Ist die Unterredung zu Ende?«

»Wollen Sie in sich gehen? Wollen Sie mit mir kommen und sich als anständiger Mensch erweisen?«

»Ich gebe Carmen frei.«

»Wie großartig! Meine Tochter, Herr! Man verfügt nicht über Dinge, die einem nicht gehören.«

»Ich verfüge. Das ist meine Erklärung.«

»Soll das heißen?« –

»Ja,« sagte Laurenz Terbroich und hielt das Glas gegen das Licht.

Joseph Otten trat an den Tisch. Seine Hand berührte die Broncefigur der Venus. »Terbroich, Sie wissen nicht, was Sie sagen. Sie sprechen von meiner Tochter.«

»Ich weiß das sehr wohl. Aber ich bin mir selbst der Nächste.«

»Und Sie wagen es, sich ein Geschenk zu erschleichen, das für ein Leben ist? Zu erschwindeln?«

Laurenz Terbroich zuckte mit den Achseln. »Diese allzu seriöse Behandlung –«

Joseph Otten ließ ihn nicht zu Ende reden. Plötzlich war alles Blut aus seinem Gesicht gewichen. Seine Hand spannte sich um die kleine Broncefigur, und mit kurzem, jähem Schwung schlug er Terbroich die Kante des Sockels in die Schläfe. Wie vom Blitz getroffen stürzte Laurenz Terbroich zusammen, fiel mit halber Wendung gegen den Tisch und glitt mit dumpfem Aufschlag zu Boden.

»Insekt – –,« sagte Otten, betrachtete den Broncesockel, der rein geblieben war, und stellte die Figur auf den Tisch zurück. Laurenz Terbroich lag regungslos am Tischfuß. Die Hand hielt er krampfhaft um das Venezianerglas geschlossen, das gesprungen war. Der Domino hing um seinen Körper.

Otten streifte ihn mit einem verächtlichen Blick. »Ich habe ihm eine Wohltat erwiesen. Und ich vollziehe meine Wohltaten gern ohne Lärm. Meine und Marias Tochter gehört nicht in den Mund der Leute. Sprechen wir also nicht mehr von unseren Wohltaten.«

Er nahm seinen Hut, verließ das Zimmer und zog die Korridortür hinter sich ins Schloß. Die Parterrebewohner waren noch nicht von ihrer Karnevalsreise durch die Stadt zurückgekehrt. Und als er auf die Hausschwelle trat, war er auch schon von der vorüberflutenden tollen Menge aufgesogen.

Er erreichte den Abendzug nach Dormagen. Und wieder saß er allein in seinem Kupee und grübelte.

»Ich hatte bisher nichts für meine Tochter getan. Nun habe ich das einzige für sie getan, was ich für sie tun konnte. Ich habe ihr ein neues Leben geschenkt ... Kein Mensch weiß von dem, was sie darum ihre Jugend nannte, weil sie gläubig war, wie es auch Maria war. Nur ich allein auf der Welt, Und nun gibt es nur noch eine Pflicht für mich, die allen anderen voraufgeht: die Vaterpflicht. Sie gebietet mir – zu schweigen.«

Und noch einmal sagte er, wie auf der Hinfahrt: »Schlaf ruhig, Maria,« – –

Auf der Station Dormagen gab er eine lange Depesche an Moritz Lachner auf, in der er die Erkrankung Marias und ihr Hinscheiden meldete und den jungen Freund ersuchte, Carmen auf das schonendste zu verständigen und sie mit dem Morgenzug nach Zons zu bringen. Todmüde, aber in aufrechter Haltung schritt er die Chaussee entlang, bog um das Städtchen herum und trat in Klaus Gülichs Haus.

»Jetzt will ich schlafen,« sagte er zu Heinrich Koch. »Was noch zu erledigen war, ist erledigt.«

Er lehnte das Anerbieten des Freundes, in dieser Nacht seine Schlafkammer zu benutzen, dankend ab und ging hinauf in sein Zimmer. Am Bette der Toten verharrte er eine lange Weile. Er hatte Bericht zu erstatten.

Auf dem primitiven Lager, das die Wirtschafterin ihm hergerichtet hatte, schlief er traumlos die ganze Nacht. Als er erwachte, war der Morgen da. Heinrich Koch klopfte an seine Tür und meldete, daß der Sarg gebracht worden sei. Er ließ nur den Freund und den alten Klaus ins Zimmer. Zu dritt trugen sie den Sarg in die Schlafkammer und betteten Frau Maria gemeinsam hinein. Es sollte keine fremde Hand sie berühren. »Sie braucht nicht geschmückt zu werden. Man schenkt nicht einem Reichen ein Groschenstück.«

Dann fuhr der Omnibus vor, und Lachner und Carmen entstiegen ihm.

Otten stand allein im Zimmer und erwartete seine Tochter. Man ließ sie allein eintreten.

Ohne daß eine Muskel in seinem Gesicht zuckte, sah er ihr entgegen. Jetzt war sie im Zimmer. Jetzt lief sie auf ihn zu. Jetzt klammerte sie die Arme um seinen Nacken und preßte ihren Körper an den seinen. Immer enger, immer fester. Als müßte sie mit ihm zusammenwachsen, Und er schloß die Arme um sie und war eins mit ihr.

Nur ein einziger, kurzer, wilder Ton, der einen Herzschlag lang das Gemach füllte. Und doch hatten sie beide aufgeschrien. – –

Joseph Otten war hinuntergegangen, um Carmens Begleiter zu begrüßen. Er fand ihn auf der Diele, und Heinrich Koch war bei ihm. »Ich danke dir, Moritz. Such keine Beileidsbezeugungen. – Du selbst bist die beste.«

Er saß mit ihnen am Tisch, und es blieb lange still.

»Herr Doktor Lachner hat dir noch aus Köln zu berichten,« sagte dann Heinrich Koch und sah den Freund an.

»Ist es wichtig?«

»Soll ich nicht lieber damit warten?« fragte Lachner verstört.

»Erzähle nur. Einmal müssen wir das Leben doch wieder aufnehmen.«

»Laurenz Terbroich ist tot.«

»Ist das so wichtig?«

»Es ist nur ein seltsames Zusammentreffen.«

»In der Tat.«

»Ich hatte eben Ihre schmerzliche Depesche erhalten und besprach mich mit meinem Vater, auf welche Weise ich Carmen vorbereiten könne, als die Ladenglocke anschlug und Carmen vor uns stand. Schneeweiß im Gesicht. ›Laurenz ist tot‹, sagte sie, und wir setzten sie in einen Sessel. Sie hatten für den Abend eine Verabredung gehabt, und da schon eine Stunde über die Zeit verstrichen war, nahm sie einen Wagen und fuhr zu ihm hinaus. Da vernahm sie es von dem Diener. Der alte Terbroich war oben und der Hausarzt. Sie ließen niemanden vor. Und sie war ohne weiteres zu uns gefahren. Nun mußte ich ihr das Schwerste mitteilen. Ich tat es so sorglich, wie ich es vermochte, weil ich eine furchtbare Gemütserschütterung befürchtete. Aber sie saß wie aus Stein. Nur einmal sagte sie: ›Mutter – –!‹

Das war mehr als der wildeste Ausbruch. Dann bat sie um ein Quartier. Und ich ging noch, um über Laurenz Terbroichs Tod Erkundigungen einzuziehen. Er war verunglückt. Der Diener erzählte mir, daß er ihn Champagner trinkend verlassen hatte, um ihn, das Glas noch in der Hand, am Abend tot aufzufinden. Im Domino, aus dem er während der Fastnachtstage kaum herausgekommen wäre. Er hatte im Rausch einen unglücklichen Sturz getan und war mit der Schläfe gegen die scharfe Kante des Tisches aufgeschlagen. Der Tod wäre auf der Stelle durch Bluterguß ins Gehirn erfolgt. Der alte Herr Terbroich wünschte nicht, daß die Umstände, unter denen sein Sohn gefunden wurde, bekannt würden. Er sollte noch in der Nacht eingesargt werden. Der Diener wurde in seine Heimat beurlaubt.

Joseph Otten hatte während der Erzählung schweigend zum Fenster hinausgeblickt. Nun wandte er den Kopf. Und er blickte in Heinrich Kochs Augen. Keiner wandte den Blick ab.

»Es ist Aschermittwoch heute,« sagte Joseph Otten. »Nun ist der Mummenschanz zu Ende.«

»Und das Leben fordert uns wieder,« gab der alte Gelehrte zurück.

»Oder wir das Leben.« – – – –

Am Nachmittag des nächsten Tages begruben sie Frau Maria. Es war ein sonnenheller Vorfrühlingstag.

Als sie ins Haus zurückkehrten, ging Carmen auf des Vaters Zimmer. Er empfand, daß sie die Stunde für sich brauchte, und folgte ihr nicht, Moritz Lachner blieb bei den Männern.

»Wenn die Tage länger und wärmer werden,« begann der Professor nach einer Weile, »können wir unsere Forschungen im Freien beginnen. Ich möchte den ganzen Niederrhein nach den Tagen der Vergangenheit befragen und die Menschen, die vor uns auf der Scholle saßen, erkunden. Und wenn wir gefunden haben, daß alles, in seiner Art, nicht anders war, als es heute ist, wird uns unser Leben gar nicht mehr so außergewöhnlich vorkommen. Wie wär's, Herr Kollege, wenn Sie sich beteiligten? Auch Carmen könnten wir dazu erziehen.«

Moritz Lachner sah auf Otten. »Carmen? Ich hätte sonst nur das Haus meines Vaters vorzuschlagen.«

Otten nickte. »Es ist ein Althändlerladen.«

Eine leichte Röte stieg in des jungen Mannes Wangen, »Es kommt darauf an, wie wir es anschauen,« sagte er leise. »Hat man sich die Kinderaugen bewahrt, steht man selbst im ärmsten Ding die Prinzessin.«

Otten reichte ihm über den Tisch hinüber die Hand. »Komm wieder. Wir können dich brauchen.«

»Ich will es Carmen sagen.« Und er ging hinauf, um ihr seine neuen Pläne vorzulegen und ihren Lebensmut in die Ferne zu richten.

Die beiden Freunde waren allein.

»Solange die Kleine hier ist,« begann Otten, als redete er mit sich selbst, »habe ich die Sonne. Und wenn es gestohlene ist. Ich habe sie. Aber wenn mir das Kind einmal weggeholt werden sollte, und ich wäre ganz allein, und das Grauen käme –«

Heinrich Koch sah ihn an. Es war Stille. Und Heinrich Koch sagte in der Stille: »Ich bin kein Priester mehr, und das Recht, Beichte zu nehmen und Absolution zu geben, habe ich nicht mehr. Aber ich kann dir die Hand geben, wenn das Grauen kommen will. Vor Kameradschaft fürchtet es sich.«

Sie blickten beide hinaus, in das weite Land und über den breiten Strom. Über die Landstraße zog eine Prozession, Wallfahrer, die zum Muttergottesbild nach Kevlaar wollten. Verwehte Töne kamen herüber.

»Gegrüßet seist du, Maria. – O Maria, hilf!« ...

Und über den Strom glitt das Motorboot, das die Fähre zwischen Zons und dem Urdenbacher Ufer wieder aufgenommen hatte, und brachte eine Gesellschaft junger Düsseldorfer Künstler hinüber, die eine Aschermittwochstour hinter sich hatten und das alte Mauernest ansingen wollten und nichts Passenderes fanden als:

»Köln am Rhein, du schönes Städtchen,
Köln am Rhein, du schöne Stadt – –«

»Da zieht die Vergangenheit,« sagte Heinrich Koch, »nach links und nach rechts.«

Der alte Klaus kam ins Zimmer, holte sich einen Stuhl in die Kaminecke und rauchte nach des Tages Aufregungen mit stillem Wohlbehagen seine Pfeife.

Joseph Otten erhob sich. Seine Augen hatten den stahlblauen Glanz. Er öffnete das Fenster und ließ die Luft über sich hinströmen – –

Am Himmel stand ein leuchtendes Abendrot.



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