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VII

Der alte Klaus hatte den kurzen Schlaf des Alters. Die Jahreszeit sprach für ihn nicht mit. Schlug es vier Uhr von den Kirchtürmen, so regte sich der einstmalige Schiffer in ihm, der auch im Ruhestand die Gewohnheit der Stundeneinteilung festhält. Er machte Licht, kontrollierte seine Uhr, zog brummelnd die Hosen über und zündete Feuer im eisernen Trommelöfchen an. Bis das Kaffeewasser im Topf brodelte, rauchte er sinnend die erste Morgenpfeife.

Heute wollte das Wasser nicht so schnell zum Kochen kommen. Aber der Alte hatte Zeit. Er langte vom Bort ein abgegriffenes Büchelchen herunter, das handlich zwischen Töpfen und Tabakskasten steckte, befestigte die Brille hinter den Ohren, leckte den breiten Daumen an und blätterte die Seiten um. Buchstabe für Buchstabe las er die Historie von seines großen Ahns Nikolaus Gülich, Band- und Manufakturwarenhändlers zu Köln, Heldentaten, Untaten und ruhmreichem Tode durch Henkershand auf freiem Platze, zu seinem ewigen Andenken genannt Gülichsplatz. Ein Lächeln der Befriedigung auf den verwitterten Zügen, hielt der Alte seine Morgenandacht ...

Plötzlich schob er mit einem Ruck die Brille auf die Stirn. Hatte es da nicht geklopft? Von draußen ans Fenster geklopft? Und jetzt klopfte es wieder. Leise, aber bestimmt. Der Alte erhob sich, legte das Buch sorglich auf den Schemel und schlurfte zum Fenster. Er öffnete und suchte mit geschärftem Blick in der Dunkelheit. Draußen stand ein Mann, den Hut in die Augen gedrückt.

»Wer is da?«

»Ein armer reisender Handwerksbursche bittet um Herberge.«

»Ich glöw, du bis besoffe. Hier is kein Schlafstell'.«

»Beim heiligen Christoph, aller Vagabunden Schutzpatron, laß mich herein, Klaus.«

»Materdeies, der Jupp! Jitz äwwer flöck!«

Vorsichtig, um die Ruhe des Hauses nicht zu stören, schlurfte er zur Haustür, öffnete leise und ließ den Herrn eintreten. Und leise schloß er die Tür zum Flur, als sie im Zimmer standen.

Joseph Otten warf Hut und Mantel aufs Bett, stellte sich an den Ofen und rieb sich die Hände. Der Alte sah zu.

»Morjen, Här.«

»Morgen, Klaus.«

»Auch widder mal das Vergnügen?«

»Auch wieder mal.« Joseph Otten wandte sich um und sah dem Alten ins Gesicht. »Oben,« und er nickte mit dem Kopf zur Decke, »oben alles mobil?«

»Bestens in Ordnung.«

»Das freut mich.«

»Die Freud' sollt' mr verlange könne. Ich hätt' Ihne dat äwwer auch schriftlich mitteile gekonnt, Herr Doktor.«

»Ihr seid wohl alle – sehr zornig auf mich?«

»Kann ich nit behaupte. Der Mensch gewöhnt sich an alles.«

»Dann braucht' ich ja eigentlich gar nicht zu stören?«

»Wenn Sie bloß komme, um zu störe – dat wird nit verlangt.«

Joseph Otten wandte sich schweigend wieder dem Ofen zu. Das Wasser im Topf brodelte und erfüllte den Raum mit seinem Singsang. Und schweigend langte der alte Klaus sein Kaffeebüchschen vom Bort, schüttete eine Portion gemahlenen Kaffees in eine Steingutkanne, hob mit seinen harten Händen den heißen Topf vom Feuer und brühte den Morgentrank. Zwei große Steinguttassen rückte er auf den Tisch, schnitt vierkantige Stücke von einem Schwarzbrot, zog Stuhl und Schemel heran und kehrte sich zu seinem Gast. »Nehmen Sie Platz, Herr Doktor.«

Joseph Otten blickte auf. Der Duft des Kaffees lockte nach der langen, nächtlichen Wanderung, die er noch unternommen hatte. Dann fiel sein Blick auf den Alten. »Klaus,« sagte er und packte ihn bei der Schulter, »sei nicht so bärbeißig, oder du jagst mich zum Teufel.«

»Dat hier is Ihr Haus.«

»Viel merk' ich nicht davon bei der Behandlung.«

»Ich hann en zu steif Rückgrat, um ene Katzenbuckel riskiere zu könne. Wenn ich äwwer von der Heimkehr des Herrn Doktor gewoß' hätt', hätt' ich mich übe gekonnt.«

»Nächstens werd' ich dir vorher depeschieren, Klaus.«

»Dat kann nit schade. Mer weiß sonst nie: is et der Här oder is et ene Spitzbow.«

Joseph Otten ließ sich auf dem Schemel nieder und wärmte sich die Hände an der bauchigen Kaffeetasse. Dann tat er einen tiefen Zug. »Donnerlütsch, Klaus, dä Kaffee hat sich nit gewäsche.«

»Enä, Här, hä es esu schwatz als wie ne Mohr.«

»Süch, dä bringt mich op zartere Gedanken.« Er beugte sich tief und griff unter seinen Sitz. »Wat es denn dat?«

Klaus schmunzelte. »Kennt Ihr dat nit mieh? Ihr hatt op mingem Historiebüchelche gesesse.«

»Dat Büchelche mit dingem Ahn, dem staatse Nikolaus Gülich drin?«

»Datselbigte, Jupp. Un ich sehen, dat Ihr doch noch de ahle, brave Jung sitt. Dat is mr nu doch en Freud'.«

»Verzäll mr jet von dingem Ahn. Hext hä noch ömmer op dem Gülichsplatz erömm?«

»Hä es usgewandert un spookt jetz in Paris, weil die Franzose die Biesterei gemach' hann, den Broncekopp von singem Denkmal zu stehle. Nu is Kölle öm die größte Berühmtheit ärmer.«

»Wann mr widder nach Paris marschiere, hole mr dä Kopp retour.«

»Dat soll e Wort sinn, Här. Der Gülichsplatz muß widder zu Ehre gebrach' werde.«

»Dadrauf hast du et Rähcht, Klaus.«

»Die Welt kennt kein' Pietät mieh,« brummelte der Alte und trank seinen Kaffee.

Joseph Otten saß, die Hände zwischen den Knien, und wartete. Minuten vergingen. Dann meinte Otten, und es zuckte um seine Lippen: »Mir scheint, nachdem wir nun deine Familienangelegenheiten erörtert haben, könnten wir wohl zu den meinen übergehen. Also Frau und Kind sind wohl – ?«

»Die Frau is wie immer. Aufrecht un beim Tagwerk. Nix zu erinnern.«

»Und die Carmen?«

»Is nu als zur Kommunion gegange, En Mädcher wie e Fichtenbäumche. Mr kennt sich nit aus. Kregel un stolz, en junge Dam' un als widder e Kind, da Kopp voller Spän', un wann et ihr paßt, als widder lammfromm. Akkerat wie ihr Vadder.«

»Akkurat wie ich? Dann wird sie so schlimm nicht sein.«

»Dat weiß ich nit.«

»Klaus,« sagte Joseph Otten, »nun rede mal die Wahrheit. Hältst du – hältst du mich für so schlimm?«

»Jupp,« sagte der Alte, »enä un eja. Süch, mr braucht nit schlimm zu sein, äwwer mr kann so scheinen. Un et gitt Minsche, dene is et e Leid, wenn der andere, den se als en Art Erzengel bewundere möchte, von der Menschheit bloß för ene lästige Prinz Karneval estimiert werd. Dene is dat e herzlich un e schmerzlich Leid. Jaja, so is dat. Un et is schlimmer als schlimm för die, die et Leid hann, weil sie et besser wisse, un könne doch ihre Weisheit nit an dr Mann bringe, weil – nu, weil et der Jupp partuh nit will.«

»Ich will nicht?«

»Enä, nit öm de Welt! Hä kann sich nit herbeilasse, daröwer nachzudenke, dat die Liebe von der Frau die Sorg öm dr Mann is. Un weshalw kann hä sich nit herbeilasse? Weil hä sonst der Frau spornstreichs die Sorg affnehme wörd. Äwwer Sorgen, dat is nix för der Jupp. Dat steiht nit in singem Lewenskontrakt. Domet kann'r nit dörch die Welt zigeunere. Un so denkt hä: Et is ritterlicher, ich fragen gar nit erst. Adjüs.«

Joseph Otten saß vornübergeneigt und strich mechanisch mit den Händen über die Knie.

»Das verstehst du nicht, Klaus.«

»Nee, nee, ich bin ene ahle Schafskopp.«

»Davon hab' ich kein Wort gesagt. Im Gegenteil, mit dem, was du gesagt hast, hast du mehr als recht. Du hast mir nicht schlecht den Kopf gewaschen. Alle Welt wäscht mir jetzt den Kopf. Und alle Welt meint, der meine wär' wie der ihre. Das ist aber der Irrtum.«

»Kopp is Kopp. Mr frisiert sich nur anders.«

»Man – sich? – Ich glaub' eher, der Herrgott frisiert einen anders.«

»Oder der Düwel.«

Es blieb eine Weile still zwischen ihnen. Draußen trabten ein paar belastete Menschenkinder zur Frühmesse. Ein Lehrjunge lief pfeifend über die Gasse. Fern ein Wagenrollen. Und es war wieder still ...

»Ich bin nun mal so,« sagte Otten endlich. »Die Rechnung geht nicht mehr anders auf ...« Sein Blick begegnete dem Blick des Alten. »Schau mich nicht so mitleidig an. Dazu liegt wahrhaftig kein Grund vor. Man hat ja nur ein Recht auf seine Lebensführung, wenn man sie nicht bereut.«

Der Alte räumte das Kaffeegeschirr zusammen.

»Minge Broder in Zons maacht et nit mich lang',« meinte er nebenbei.

»Dein Bruder? Der in Zons das Häuschen hat?«

»Hä is als achzig.«

»Dann wirst du ja Hausbesitzer?«

»Einer muß dat Krömche öwernehme. Zu vermiete is in Zons nix. Et sind zu wenig Menschen im Städtchen.«

»Und dann willst du übersiedeln.«

»Ich will ene stille Lewensowend hann.«

»Bis dahin fließt noch viel Wasser den Rhein herunter. Die Gülichs sind eine zähe Sorte. Dein Bruder wird es noch ein paar Jährchen mittun. Und bis dahin liegst du hier an der Kette und bellst die Einbrecher an.«

»Ich wollt' Sie bloß drop opmerksam mache. So wat kütt öwer Nacht.«

»Und da möchtest du mich jetzt gelinde an die Kette legen?«

»Dat sinn nit minge Sache. Wer en Hus hat, der moß wisse, wat hä zu donn hat.«

»Warten wir's ab,« sagte Otten und erhob sich. »Fünf Uhr vorbei. Ich möcht' mir ein Bett suchen.«

»Soll ich Sie bei der Frau anmelde? Domet sie nit erschreckt?«

»Ich geh' ins Hotel. Vor Mittag komm' ich wieder. Ich weiß ja jetzt, daß alles – wohlauf ist.«

»Ihr wißt dat. Äwwer die Frau weiß dat nit von Euch.«

Joseph Otten nahm seinen Mantel über und drückte den Hut in die Stirn. »Ich komm' bei Tageslicht, Klaus. Wenn die Sonne scheint, haben alle Dinge ein fröhlicher Gesicht.«

»Dat kütt bei der Frau nit in Anrechnung. Die Frau hat en Rähcht darop, dat mer sie nit warte läßt. Nit en einzig Minut. Ich gönn se wecke.«

»Das wirst du bleiben lassen. Ich bring' Aufregung genug ins Haus.«

»So! Und wie nennt Ihr denn dat, wenn der Mann an der Schlafkammer von der Frau vorbeigegange is? Dat is kein Aufregung. Enä. Dat is Rücksicht. Äwwer Rücksicht ov die eigene Gemötlichkeit. Ming Lewdag nit Rücksicht op die Gemötlichkeit der Frau. Hotel! Nit eine Schritt!«

Otten stieg die Röte in die Stirn. Er faßte die Türklinke und öffnete. »'Morgen, Klaus,« sagte er kurz, und es war ein hochfahrender Ton in den Worten.

»Schließt Euch die Haustür nur selver op.«

»Mach keinen Lärm.«

Ärgerlich ließ Otten die Stubentür los. Das Geräusch lief durch das alte Haus. Otten stand auf dem dunklen Flur und horchte. Oben öffnete sich leise eine Tür. Schritte huschten an die Treppe. »Klaus – –?« rief eine Stimme.

Der alte Klaus kam aus seinem Zimmer. »Ja, Frau Otten?«

»Ist jemand bei Ihnen? Mir war schon die ganze Zeit so.«

»Maria – –,« sagte Otten leise, und seine Stimme vibrierte.

Ein atemloses Schweigen erfüllte das Haus bis in den Giebel. Der alte Klaus verschwand lautlos in seinem Zimmer. Und nach einer Spanne, die sich dehnte und dehnte, fragte Otten: »Bist du noch da?«

»Warte, ich komme.« Und die Schritte huschten zurück.

»Nein,« sagte Otten, »ich komme.« Und langsam stieg er die Treppe hinauf zur Giebelstube. Durch den Türspalt fiel das Licht einer Lampe. Und in dem Lichtkreis stand Maria und nestelte hastig den Morgenrock zu, den sie übergeworfen hatte. Da trat er ein.

Sie ließ die Hände sinken, hob den Kopf und sah ihn an. Ihr Gesicht war schneeweiß. Und er stand und nahm ihren Blick entgegen und fühlte die brennende Röte in seinem Gesicht.

»Wie der Dieb bei der Nacht, Maria.«

»Du bist – gekommen.«

»Wir wollen kein gemästetes Kalb schlachten, Maria. Die Rolle des verlorenen Sohnes liegt mir nicht. Ich bin gekommen.«

Nun bemerkte er, wie blaß sie war. Er streckte die Hände aus, »Ich habe dich erschreckt.«

Sie legte ihre Hände in die seinen. Ihr Blick heftete sich immer noch an sein Gesicht. »Bist du – gesund?«

»Mütterchen,« sagte er und zog sie näher, »muß ich denn krank sein, wenn ich heimkomme?«

»Ich hatte es – fast – gewünscht – –«

»Maria – –! Und wenn ich's wäre?«

»Leg dich hin, Joseph. Wir sprechen bei Tag weiter.«

»Willst du mich nicht küssen?«

»Ich dachte – du würdest – –«

»Komm,« sagte er nur ...

Er fühlte, wie ihre Lippen zitterten. Da küßte er sie behutsam auf die Augen. Und auch hier spürte er das Zittern. »Traust du dich nicht, Maria? Bin ich dir so fremd geworden?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es wird wohl die Freude sein. Ich fass' es noch nicht.«

»Die Freude? Ich hab' dich nicht verwöhnt. Also ist es ein Vorwurf, und ich verdien' ihn.«

»Nein, nein!« Und plötzlich zog sie seinen Kopf nieder und küßte ihn lange auf den Mund. »Willkommen, Joseph.«

»Willst du mich hier behalten?«

»Du sollst nichts versprechen.«

»Ich will es auch nicht. Nur wünschen will ich. Deinetwegen. Und Carmens wegen.«

»Sie ist kein Kind geblieben.«

»Umsomehr werde ich von nöten sein.«

»Der Vater ist von nöten, Joseph.«

»Ja, darauf werde ich mich nun wohl besinnen müssen. Ich glaube, ich habe hier manches nachzuholen. Und nicht nur in der Vaterrolle. Wenn ich nun diese Augen hier wieder glänzen machte?«

»Sie blicken nicht immer so. Laß es Tag werden.«

»Aber wenn sie geweint haben. Und dazu sparst du dir die Nacht auf. Wenn du allein liegst, Maria, und dich um einen Menschen sorgst, der es nicht verdient. Ich seh' es. Auch diese Nacht hast du geweint.«

»Ich spürte dich so greifbar nahe. Das war wohl, weil du auf der Reise zu mir warst.«

»Ich bin schon gestern abend gekommen, Maria.«

Da lief es über sie hin wie ein Frost. »Gestern – abend –?«

Er legte schnell den Arm um sie. »Ich hätte es nicht sagen sollen.«

»Du kannst nicht lügen,« und sie strich sich über die Augen. »Das hab' ich immer gern an dir gehabt.«

»Setz dich, Maria. Ich will versuchen, es dir zu erklären.«

»Nein,« sagte sie, »das wäre gegen die Abrede. Du bist Herr deiner selbst. Das habe ich mir geschworen, als ich freiwillig mit dir ging. Und daß ich nun seit drei Jahren deinen Namen zu Recht trage, das wird mich doch nicht kleiner gemacht haben. Größer, Joseph, größer. Dein Name legt Pflichten auf.«

»Die ich dir allein überlasse.«

»Du darfst sie mir ruhig anvertrauen. Ich werde dich nie fühlen lassen, daß du dich gebunden hast.«

»Aber ich werde es dich fühlen lassen.«

Nun mußte sie dennoch lachen. »Mein großer Junge,« sagte sie und strich über sein Haar. »Immer die guten Vorsätze. Immer die besten Absichten. Ich weiß das ja und muß dich schon deshalb lieb behalten.«

»Nur deshalb?«

Sie schloß die Augen. »Frag mich nicht. Ich freue mich ja doch.«

Da nahm er sie fest in die Arme und blickte über ihr Haar hinweg, damit sie ihrer Bewegung nachgeben konnte.

»Wollen wir jetzt Carmen besuchen?«

»Sie ist eine Langschläferin,« sagte sie und trocknete sich heimlich die Augen. »So große Fräulein besucht man eigentlich nicht am Bett.«

»Es scheint, daß ich mir hier erst wieder Respekt verschaffen muß.«

»Tritt leise auf. Wir gehen in ihre Kammer.«

Sie nahm das Licht und ging voraus. Und während er ihr leise folgte, staunte er über ihre Selbstbeherrschung, und es durchzuckte ihn wie ein Stolz, daß die Seele dieser Frau nichts wußte als sein Bild. Er berührte ihre Schulter, und sie blickte nach ihm zurück. Eine Sekunde zögerte ihr Fuß. Und er beugte sich vor, mit bittenden Augen, stützte ihren Arm, der das Licht hielt, und wartete. Da lehnte sie den Hinterkopf gegen seine Brust. So küßten sie sich. – – Sie traten leise in die Kammer und sahen sich mit flimmernden Augen um. Kaum erkannte er sein Kind wieder. Der dunkle Lockenkopf, der da in den Kissen lag, zeigte eigene Züge. Lieblichkeit und Eigenwillen. Aber der Eigenwille herrschte vor. Und der Mann am Bette dachte an die Worte des alten Klaus: Akkerat wie ihr Vadder ...

»Sie wird sehr selbständig werden,« sagte Frau Maria draußen. »Man möchte Kinder immer am liebsten klein behalten.«

»Freu dich, daß sie so aufblüht. Die Rasse läßt sich nicht unterkriegen.«

»Darum trauere ich nicht,« meinte Frau Maria. »Es ist etwas anderes, etwas, wofür ich schwer die Worte finde. Die Mutter fühlt, daß das Kind mehr und mehr ihrer Sorge entwächst.«

»Ja,« erwiderte Otten nachdenklich, »darin muß für die Eltern eine Lebenstragik liegen, daß sie zusehen müssen, wie die Kinder sich ablösen, wie der Teil ihres Selbst für sich ein Ganzes wird.«

»Wenn beide Eltern leben, ist es minder schwer. Man rückt noch um ein weniges näher zusammen und verdeckt sich so die Lücke. Nun, darüber vergehen noch Jahre.«

»Daß wir zusammenrücken?«

»Bis die Lebenstragik der Eltern, wie du es nennst, an uns herantritt.« Frau Maria stellte das Licht auf den Tisch ihres Schlafzimmers. »Du siehst abgespannt aus, Joseph. Ich lass dich jetzt allein.«

»Du glaubst doch nicht, daß ich jetzt noch schlafen werde?«

»Tu es mir zulieb, Joseph. Wenn du aufwachst, bist du erst wirklich daheim, und die alten Traumbilder sind in die Ecken gescheucht. Versuch es.«

»Die alten Traumbilder? Alte oder neue, unter mein Dach sollen sie mir nicht folgen.«

»Tu es mir zulieb,« bat sie noch einmal.

»Wenn du es so bestimmt möchtest ... Aber nur auf das alte Kanapee dort. Und nachher ein Bad.«

»Ich werde dich wecken, Joseph.«

»Nein,« sagte er, »es ist noch eine Bedingung dabei. Du mußt bei mir sitzen bleiben. Ich kann nicht sofort einschlafen. Und ich will deine Hand in der meinen fühlen.«

»Das ist ja, als hättest du eine stille Absolution nötig.« Ein leises mütterliches Lächeln zog über ihr Gesicht. »Nun, leg dich hin.«

Er entledigte sich seines Rockes und streckte sich auf das alte Ledersofa. »Ah,« machte er dabei, »wie gut!« Und sie legte ihm eine Decke über, rückte einen Stuhl heran und setzte sich zu ihm.

»Stille Absolution ...,« griff er ihr Wort auf und faßte auf der Decke ihre Hand. »Du hast es getroffen, Maria. Es wird sehr wenig Anlaß sein, sie laut und stolz zu verkünden, denn es wird auch eine sehr leise Beichte sein.«

»Schlaf,« sagte sie, »du hast nichts zu beichten. Wenn du nachher die Augen aufschlägst, lachst du dich selber aus.«

»Es ist immer dasselbe. Wie es um dich steht, kommt für dich nicht in Betracht. Du suchst nur, es mir leicht zu machen.«

»Wer weiß den Beweggrund,« erwiderte sie. »Vielleicht bin ich eine größere Egoistin, als du denkst. Vielleicht mache ich es dir nur so leicht, um es mir nicht – schwerer zu machen.«

»Du wirst mir noch einreden, du seist eine arge Sünderin und ich sei ein Heiliger.«

»Nein, Joseph, das werde ich dir nicht einreden. Deine Heiligkeit« – sie lächelte vor sich hin – »ist mir gewiß nicht unbekannt. Und die meine – ich hab' in den vielen Jahren, in denen ich allein saß, gelernt, auf mich zu achten, damit mir meine Empfindungen nicht zu jeder Zeit davonliefen. Das ist meine Heiligkeit.«

»Du bist zehnmal stärker als ich.«

»Zehnmal schwächer. Sonst hätte ich die Schutzwehr nicht nötig.«

»Und wenn du sie nicht hättest? Was wäre dann gewesen?«

Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. Ihre Brust hob sich, als wollte sie eine Last abschütteln.

»Laß das, Joseph!«

»Sag es mir,« bat er und streichelte ihre Hand.

»Was dann – gewesen wäre?« wiederholte sie stockend. »Wenn du heimgekommen wärst wie jetzt, und ich – hätte dich in meine Kammer eingelassen? An den Hals hätt' ich mich dir geworfen, an den Hals! Ohne Scham, ohne Stolz! Wie eine Verdurstete hätt' ich mich meinem Mann an den Hals geworfen, Herr Gott!«

Die Erregung schüttelte sie. Sie sprang auf und ging bis in die Ecke des Zimmers. »Still,« sagte sie, »antworte nicht. Jetzt um Gottes Willen nicht antworten. Wo käm' ich hin, wenn ich meine Ruhe verlöre? Wohin kämen wir alle? Und eins will ich vor den anderen Frauen voraus haben, die sich um dich drängen: mich selbst!«

Sie hatte sich beruhigt und kehrte zurück. »Siehst du, Joseph, damit halte ich uns das Haus.«

»Es ist wie Weihnachten,« sagte Otten, »als ich noch ein Junge war. Das ganze Jahr hatt' ich Unfug getrieben, vor dem Klingelzeichen macht' ich ein fromm Gesicht, spürte plötzlich starke Gewissensbisse und kriegte für diese geringe Anstrengung den Schoß voll Geschenke.«

»Und dann spieltest du nach rechter Jungensart doch am liebsten mit den Geschenken, die dir nicht gehörten.«

»Ja, das tat ich, und es ist an mir hängen geblieben.«

»Die Menschen sind schuld,« verteidigte sie ihn, »sie haben dich verwöhnt, ob mit, ob gegen deinen Wunsch.«

»Bande!« stieß Otten hervor. »Sie will den Künstler gar nicht anders. Sie macht uns zu dem, was wir werden, durch ihre verdammte Sklaverei. Bleib bei mir sitzen, Maria. Der eigene Weihnachtstisch ist doch der beste. Es schwebt selbstlose Liebe darüber.«

»Du sollst jetzt schlafen, Joseph.«

»Ach du, Maria, es tut so gut, auf andere Leute schimpfen, wenn man sich selber nicht ganz sauber fühlt ...«

Dann betrachtete er sie verstohlen, während er ruhig atmend lag. Die Jahre hatten ihr wenig angetan. Um die Augen ein paar kaum sichtbare Runen, um den Mund eine tiefer gezogene Spur – aber die aufrechte Haltung des Körpers und die ernste Ruhe des Kopfes lenkten den Blick von den Einzelheiten auf das Gesamtbild. Und er drückte, einer heißen Wallung folgend, fest ihre Hand, die er noch immer hielt.

»Auch du hast Kämpfe gehabt, Maria, und sie waren schwerer als meine. Weil du dich nicht mitteilen konntest.«

»Ich habe dir regelmäßig berichtet, Joseph.«

»Ja, wenn du schreiben konntest: das ist nun geordnet, oder: es lohnt nicht der Mühe darauf einzugehen.«

»Es ist doch ein Glück, daß ich Arbeit habe.«

»Das ist bei dir die Umschreibung für Sorge. Von mir will ich nicht sprechen. Aber Carmen? Sie hat dir viel zu schaffen gemacht.«

»Sie ist in dem Alter, das an alle Mütter größere Anforderungen stellt. Weshalb sollte mich eine Ausnahme treffen?«

»Sah sie hübsch aus, als sie zur ersten Kommunion ging?«

Frau Maria lächelte. »Du bist ein eitler Mensch.«

»Und es sind dir keine Hindernisse in den Weg gelegt worden?«

»Wegen der Firmelung? Nein.«

»Dem Kind nicht. Aber der Mutter?«

»Ach, Joseph,« sagte Frau Maria abwehrend, »was bedeutet das? Mir kann das doch nichts anhaben. Ich lass' mir doch mein Leben, das ich eines Tages schön und später für lebenswert befunden habe, durch äußere Einflüsse nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Sei unbesorgt. Ich nenne heute nicht schwarz, was ich gestern weiß nannte.«

»Also hat dir die Seelsorge stark zugesetzt?«

»Der Pfarrer kam häufig ins Haus. Dann hin und wieder einmal. Zuletzt blieb er fort. Es lohnte nicht.«

»Es lohnte nicht,« wiederholte Otten. »Und alles, was dazwischen liegt, ist damit abgetan. Wie groß muß dir das erscheinen, was sich für dich lohnt.« Sie antwortete nicht. Sie fühlte, daß ihr Tränen kommen würden, und die Nacht war doch vorbei. Der Tag aber machte andere Rechte an sie geltend. Und heute zumal. Es würden doppelte Mutterpflichten werden, für das Kind, das in die Jugend hineinwuchs, und für den Mann, der aus der Jugend nicht herauswachsen wollte und konnte.

Sie beugte sich über ihn. Er war eingeschlafen. So ruhig atmend lag er, als hatte kein Sturm über ihn Gewalt, als wäre er des Wächters sicher. Knabenhafter Friede mischte sich mit den kühnen Manneszügen. Und Frau Maria dachte: »Das ist eine der Stunden, in denen er mir ganz allein gehört. Auch seine unruhige Seele. Jetzt halt' ich sie in Händen.« –

Das Tageslicht fiel durch die Spalten des Fenstervorhangs, Frau Maria hatte geträumt. Sie sah den Mann, dem sie sich unwiderruflich anheimgegeben, um fünfzehn Jahre jünger. Als Neuerwecker des deutschen Liedes zog er aus, und sie glückberauscht an seiner Seite. Ein Frühling war über die Lande gekommen, über ihr Herz. Kein Mensch hatte ein solches Blühen erlebt als nur sie. Als nur sie! Das strich man nicht aus einem Leben, wollte man nicht seinen ganzen Inhalt preisgeben. Und die Frau las in den Zügen des vor ihr Liegenden und las und las, und immer mehr las sie den Frühling ihres Lebens heraus, träumend in Erinnerungen, dankerfüllt, daß sie sie zu eigen hatte.

Als Verkünder des deutschen Liedes war er ausgezogen – als Künstler kehrte er heim.

Nein, das war nicht die Erfüllung aller Hoffnungen, Und dennoch der besten: er fand zu ihr heim. Mochte er sonst sein, wer er wolle. »Ich weiß nichts, als daß ich ihn lieb behalten muß.« – –

Im Zimmer Carmens regte es sich. Die Frau horchte auf. Sie hörte die Tür gehen. Und leise löste sie ihre Hand aus der des Schlafenden, erhob sich und ging hinaus.

»Guten Morgen, Mutter. Es ist spät geworden.«

»Guten Morgen, Kind. Du trinkst ein Glas heiße Milch. Denke dir, ich habe den Kaffee vergessen.«

»Aber Mutter! Und wie du ausschaust! Wie ein junges Mädchen!«

»Wie eine alte, verträumte Frau.«

»Sind die auch glücklich?«

»Ausruhen können, Kind, ist immer schön, wenn man einen Rückblick hat, der lohnt.«

Sie blieb bei der Tochter, bis sie den Schulweg angetreten hatte. Eine mädchenhafte Röte überzog ihre Wangen, als sie leise ins Schlafzimmer zurückkehrte. »Sie soll ihren Vater frisch und strahlend sehen,« gestand sie sich. »Das mag Eitelkeit sein. Trotzdem, ich will es. Es gehören die Augen einer Frau dazu, um den Mann immer im gleichen Bilde zu sehen. Die Augen einer Frau, die mit dem Mann eine gemeinsame Geschichte hat.«

Still setzte sie sich auf ihren alten Platz, nahm die Hand des Schlafenden in die ihre und horchte auf seine Atemzüge. Wie eine Pflegerin saß sie da, die nichts will als die Gesundung. »Denn ich hab' ihn nur lieb ...« murmelte sie.



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