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I

Jenseits der Schiffsbrücke, auf der Deutzer Seite, hockten die spielmüden Kinder auf der Kaimauer, drückten die heißen Gesichter gegen die Eisenstäbe und blickten durch die Umzäunung über den Strom hinweg auf das langgestreckte, halbmondförmige Köln. Ein paar verlorene Strählchen der Wintersonne glitzerten noch auf dem Wasserspiegel, suchten vergebens zueinander zu gelangen, verquirlten langsam in der Strömung und erloschen als glimmende Pünktchen ... Ein silbriger Ton blieb in der Luft zurück. Jene überraschende Klarheit, die vor dem letzten Verdämmern noch einmal die Seele der Menschen wie die Seele der Natur erfüllt und alle Bilder in scharfen Konturen erstehen läßt. Gegiebelt und gezackt, die Türme des Domes und der Kirchen wie deutende Finger gen Himmel gestreckt, zog sich die altersgraue Silhouette Kölns den Rhein entlang.

Es war still auf der breiten Wasserstraße. Die ungefügen Lastkähne, die Schlepperzüge und die hochbordigen Passagierdampfer lagen zusammengedrängt im Hafen wie eine müde Herde, hielten Wintersruh und warteten auf besseren Pegelstand. Nur die kleinen Lokalboote huschten schwalbenflink von Ufer zu Ufer, fühlten sich als alleinige Herren des Stromes, ließen den Rauch noch schwärzer hinter sich dreinqualmen und Dampfpfeife und Schiffsglocke doppelt hell und grell erklingen. Legten sie an, um neue Passagiere abzuwarten, so zog das Schweigen über den Strom und duckte sich der alten, mächtigen Rheinstadt zu Füßen.

»Sie is schon mal versunken gewesen,« sagte das kleine Mädchen, das zwischen den beiden Knaben auf der Deutzer Kaimauer hockte, hob die Schultern, als ob es ein Gruseln verspürte, und blickte mit glänzenden Augen geradeaus.

»So dumm,« höhnte ihr Nachbar zur Linken, schob die bunte Gymnasiastenmütze in den Nacken und spuckte ins Wasser.

»Der alte Klaus hat es mir doch erzählt,« ereiferte sich die Kleine. »Zwei Bauern hatten Köln verflucht, weil sie von den Kölner Kaufleuten betrogen worden waren. Da verschwand die Stadt vor ihren Augen.«

»Is ja zu dumm,« beharrte der Aufgeklärte. »Wo käm' sie denn auf einmal wieder her?«

»Die Bauern haben sie wieder herausgebetet, weil sie doch sonst ihr Gemüs' nicht absetzen konnten.«

»Sieh mal, wie schlau. Wenn das wahr wär', hätten doch die Kölner die Bauernklüngels, wie sie das nächste Mal in die Stadt kamen, ohne viel Fisimatenten aufgeknüpft. Uzerei ließen die sich vom Gemüsbauer nicht gefallen.«

»Gott, ich weiß es doch,« fügte die Kleine pikiert und drehte ihm den Rücken zu. –

Die Dämmerung rührte die Stadt an. Die Gassen und Straßen wichen wie hinter einem Schleier zurück. Nur die Türme hielten stand und bildeten weithinaus die Wahrzeichen, in langem Sichelkranz die erhabene Masse des Domes flankierend. Hellebardiere im Dienste der Majestät.

Die Kleine seufzte. Ihr zweiter Begleiter, der sich aus seiner Träumerei nicht herausgerührt hatte, fuhr hastig herum.

»Ist dir kalt?«

Sie schüttelte den schwarzen Lockenkopf. Ein feuerrotes Seidenband trug sie durch das Haar gezogen.

»Hach, es is so schön ...« Und nach einer Pause: »Ich kann alle Türm' zählen. Und jeder Turm weiß eine Geschichte. Ich möcht' sie alle kennen ...«

»Frag mich,« bat der andere und strich sich das rötliche Haar unter den Hutrand.

Der Buntbemützte maß ihn mit dem Blick des Patrizierjungen. »Du weißt doch höchstens in eurer Synagoge Bescheid!«

»Hab' ich dich gefragt oder den Moritz?« fuhr das Mädchen auf.

»Frag mich nur,« sagte der ältere. Er war blaß geworden und sah unruhig auf das Mädchen. »Der Laurenz kann ja nach Hause gehen, wenn's ihm hier nicht paßt.«

»Geh du doch. Immer drängst du dich uns auf. In Sekunda wollen sie dich wohl nicht?«

»Untertertianer,« sagte der andere und zuckte mit der Lippe.

»Judenjung.«

»Das ist keine Beleidigung.« Er wandte sich dem Mädchen zu, das erwartungsvoll hinhorchte. »Ich werd' mir doch den schönen Abend nicht verprügeln.«

»O – –,« machte die Kleine verblüfft. »Ich hätt' aber gern gesehen, wie der Laurenz mal Wichs gekriegt hätt'.« Und dann sprang sie mit der Raschheit der Kinderempfindungen auf ihr altes Thema: »Sieh mal, der Dom! Is es wirklich wahr, daß den ersten Baumeister der Teufel geholt hat?«

»Das ist eine Legende,« erklärte Moritz Lachner. »Weil der Bau nie fertig wurde, erzählten sich die Leute, Meister Gerhard von Ryle, der Bauherr, habe hoch oben auf dem Domkran mal mit dem Teufel gewettet, daß er schneller mit dem Dombau fertig sein würde, als der Teufel einen Kanal von Trier nach Köln graben könne. Meister Gerhard aber hätte durch die Schwatzhaftigkeit seiner Frau die Wette verloren und sich vom Turmgerüst in die Tiefe gestürzt. Das wäre der Grund gewesen, weshalb kein neuer Stein mehr hätte fassen wollen.«

»Weil die Wette sündhaft war,« triumphierte Laurenz Terbroich. »Alle Künstler sind Sünder.«

Moritz Lachner warf einen schnellen Blick auf die kleine Spielgefährtin, die gerade in die rotgewordenen Hände blies.

»Weiter, Moritz. Und der große Sankt Martin nebenan? Davor könnt' ich mich fürchten.«

»Der ist so trotzig aufgebaut, weil er früher auf einer Insel stand und sich gegen das Wasser wehren mußte.«

»Waren wirklich keine Räuber drin?«

»Man sagt, schottische Mönche hätten die Kirche gleichzeitig als Wohnhaus für sich gebaut. Wie ein schottisch Kastell. Ob das wahr ist, muß ich erst noch untersuchen.«

Laurenz Terbroich klatschte sich vor Vergnügen auf die Schenkel. »Der Moritz! Der Moritz Lachner will es untersuchen! Morgen sag' ich es dem Herrn Erzbischof!«

»Rechts vom Dom, da liegt Sankt Gereon. Schnell, Moritz, was weißt du davon?«

»Auf dem Platz, auf dem diese Kirche steht, wurde der Hauptmann Gereon mitsamt seiner thebaischen Legion niedergemetzelt, weil er und seine frommen Soldaten nicht vom Christenglauben lassen wollten.«

»Huih! – So düster sieht die Kirch' auch grad' aus.«

»Die Geschichte macht dem Lachner besonders viel Spaß,« behauptete der Untertertianer frech. »Eine ganze Legion Christen! Abgemurkst!«

»Wenn du von Sankt Martin nach links guckst, Terbroich,« sagte der und blies die schmalen Nasenflügel auf, »so siehst du den Rathausturm. Das ist der schönste Turm von Köln, ja der schönste von ganz Deutschland. Frag nur deinen Ordinarius. Und der ist euch Patriziern zu Ehren gebaut worden.«

»Du willst dich wohl wieder einschmeicheln?«

»Euch zu Ehren. Weil euch das Volk glücklich allzusammen festgenommen und ins Kittchen gesteckt hatte. Und von der Buße, die ihr habt zahlen müssen, errichteten die Zünfte diesen schönen Rathausturm.«

»I ja,« echote Terbroich, »und neben diesem schönen Rathaus liegt die Judengasse, und weil nun der Rathausturm gar so schön geworden war, wurde diese Nachbarschaft nicht mehr als passend befunden, und man fegte sie sauber und euch all zusammen zu den Toren hinaus, wo ihr bis zur französischen Revolution liegen bleiben konntet. I ja.«

»Du hast ja – überraschende Geschichtskenntnisse,« stammelte Lachner.

»Die hab' ich mir extra dir zu Ehren eingepaukt, weil du so sehr unseren Verkehr suchst.«

» Euren – Verkehr?«

»Zankt euch doch nachher,« rief die Kleine ungeduldig und trippelte nervös auf den Mauerquadern. »Was ist das mit den elftausend Jungfrauen?«

Und dienstfertig belehrte Moritz Lachner: »Sie liegen zu Sankt Ursula. Im Norden der Stadt. Von hier aus kannst du das uralte Kirchlein nicht sehen. Es war ein Heidenprinz, der wollte die Tochter des Königs von Britannien zur Frau oder das Land mit Krieg überziehen. Da sagte sich die fromme Ursula ihm zu, aber unter der Bedingung, daß er Christ würde und sie mit elftausend Jungfrauen des Landes eine Wallfahrt nach Rom machen dürfe. Als sie aber vom Papst zurückkam und in Köln landen wollte, das von den Hunnen belagert wurde, wurde sie mit allen ihren Begleiterinnen von dem wüsten Heidenvolk erschlagen.«

»Gewiß, weil sie die häßlichen Soldaten nicht heiraten wollten.«

»Wenn sie nicht einen Prinzen zum Bräutigam gehabt hätt', hätt' sich die Ursula wohl nicht besonnen,« warf Laurenz Terbroich skeptisch ein. »Darin sind sich alle Mädchen gleich.«

»Ja, einen Prinzen – –,« sagte die Kleine gedehnt und sah den hübschen, vornehmen Jungen mit flimmernden Augen an.

»Soll ich weitererzählen?« fragte Moritz Lachner hastig. »Dort drüben, am Neumarkt, liegt Sankt Aposteln. Eine arme Rittersfrau hatte Zwölflinge bekommen –«

»Er lügt,« sagte Laurenz Terbroich, »Zwölflinge kriegen nur Kaninchen.«

»Zwölf Knaben,« fuhr Lachner eilig fort, als fürchtete er, um seinen Erzählerposten zu kommen. »Und weil sie sie nicht ernähren konnte, wollte sie sie ertränken lassen. Aber der Herr Erzbischof fand die Kinder am Wasser und nahm sie mit und erzog sie zu Stiftsherren und gründete für sie die Kirche zu den Aposteln, da die doch auch zwölf gewesen waren. Und mehr nach Süden, siehst du, da liegt Sankt Maria im Kapitol. Das ist auf demselben Platz gebaut, auf dem die alten Römer, als sie noch in Köln wohnten, ihr Regierungsgebäude hatten, und die Frau vom König Pippin, die ihren Stiefsohn Karl Martell in Köln gefangen hielt, liegt darin begraben. Und in der Kirche Sankt Alban wird eine Hostie verwahrt, die im Munde eines Gottesleugners plötzlich zu Fleisch wurde. Aber interessanter ist die Albertuskapelle in Sankt Andreas. Die enthält die Gebeine von dem großen Dominikanergelehrten Albertus Magnus. Der konnte hexen und zaubern und war doch ein Heiliger und der Lehrer von Thomas von Aquino, dem in dem spitzfindigen Franziskaner Duns Scotus ein gefährlicher Gegner entstand. Der Duns Scotus aber liegt nebenan in der Minoritenkirche und – «

»Nu hör doch nur endlich auf,« unterbrach ihn Laurenz Terbroich ärgerlich. »Daß du zum Herrn Pater in die Katechisierstund' gehst, kannst du uns doch nicht weismachen.«

Da schwieg der Lachner.

Auf der Schiffsbrücke wurden die Laternen hochgezogen. Die Stadt war langsam in der Dunkelheit verschwunden. Nur die Masse des Domes hob sich gespenstisch, einer rätselhaft übernatürlichen Erscheinung gleich, gegen den Abendhimmel ab. Und als hätten die Laternen der Schiffsbrücke das Zeichen gegeben, so blitzte es am jenseitigen Ufer auf, und die Lichter liefen die Hafenstraßen entlang bis zur alten Trutzburg Kölns, dem Bayenturm, entzündeten sich in der Rheinstraße und drangen weiter ins Herz der Stadt, kreuz und quer durch die Gassen der Altstadt in die Prunkstraßen der Neustadt. Und aufs neue trat die Silhouette Kölns hervor, in roten, magischen Dunst gehüllt. Gegiebelt und gezackt, von deutenden Türmen und Basiliken überragt. Von dem tiefen Atemzug der Vergangenheit erfüllt und dem heißen Pulsschlag seiner Gegenwartskinder. Die ewige Sagenstadt am Rhein ...

»Ha,« rief die Kleine und lies am Geländer entlang, um den Lichtern zu folgen, »wenn ich könnt', wie ich möcht' – möcht' ich ganz Köln haben.«

»Ich will es dir schenken,« sagte Lachner atemlos und griff nach ihrer Hand.

»Du – – – –? Was willst du denn werden?«

»Historiker.«

»Was ist das: Historiker?«

»Geschichtsschreiber.«

»Märchen und so?«

»Die Geschichte der Menschen und ihrer Städte.«

»Ich übernehm' die Fabriken vom Vater,« sagte Laurenz Terbroich und legte den Kopf in den Nacken. »Teppichwebereien. Ein Ballen Teppiche bringt mehr ein als hundert Ballen Geschichtenbücher.«

»Wahrhaftig?« fragte die Kleine verblüfft.

»Wenn's dem Lachner seine Geschichten sind: mehr als tausend Ballen.«

»Du, Laurenz, dann werd' ich deine Frau.«

»Ich weiß nicht, ob das meine Eltern erlauben.«

»Och, sieh mal! Der stolze Laurenz! Mein Vater ist mehr als der deine!«

»Das fragt sich doch.«

»Das fragt sich nicht! Mein Vater ist ein Doktor und – und –«

»Ein Künstler,« sagte Moritz Lachner, »ein großer Künstler.«

»Deshalb heißt du auch so komisch,« meinte Laurenz mit einem schiefen Blick. »Du hast nicht mal einen richtigen Christennamen.«

»Ich heiße Carmen! Das bedeutet: das Lied, wenn du das noch nicht in der Schule gelernt hast. Weil ich sein schönstes Lied war', sagt mein Vater. Darum.«

»Ist denn der Herr Doktor Otten überhaupt dein Vater?« nörgelte der Junge,

»Was sagst du?«

»Nu, weil er doch nie in Köln bei euch ist.«

»Was – ?«

»Und überhaupt: Künstler haben nie richtige Frauen, und daher auch keine richtigen Kinder.«

Da war die Kleine an ihn heran.

»Au, au! Katze! Du hast gekratzt!«

Wie der Wind flog sie zurück. Wütend rannte der Junge hinter ihr drein. Sie erwischte Moritz Lachner beim Ärmel und zerrte den schwerfälligen Freund zwischen sich und dem Verfolger hin und her. »Nimm mich auf!« keuchte sie. Da beugte er sich nieder und nahm sie Huckepack. »Drauf, drauf!« triumphierte sie von ihrem hohen Sitz, und Moritz Lachner vergaß seine Untersekundanerwürde und stürzte sich wie ein Kriegselefant, der eine Amazonenkönigin trägt, auf den Feind. Nun hatte sie dem Gegner die Mütze vom Kopf gerissen und warf sie, aufjauchzend, mitten auf den Straßendamm.

Da machte sich der Barhäuptige an Lachner, der seine Hände, die der Reiterin als Steigbügel dienten, nicht freibekommen konnte, und bearbeitete mit den Stiefelspitzen die Schienbeine des Gegners.

Moritz Lachner kniff die Lippen zusammen und gab keinen Laut.

Blitzschnell bog sich das Mädchen herab und griff mit beiden Händen in das weiche, schwarze Haar des Angreifers.

»Au, au! Carmen! Loslassen!«

»Werd' ich deine Frau? Ja oder nein!«

»Loslassen! Maria Joseph!«

»Werd' ich deine Frau?«

»Ja! Jawohl!« –

Da glitt das Mädchen an Lachners Rücken nieder, rannte auf den Straßendamm, hob die weggeschleuderte Mütze auf und klopfte säuberlich den Staub heraus. Mit kleinen, wiegenden Schritten kam sie zurück, den Arm vorgestreckt. »Hier ist sie,« sagte sie und sah den wiedergewonnenen Freund von unten herauf an. »Sie is wirklich nicht schmutzig geworden.«

»Gib her,« knurrte der Laurenz grob, riß ihr die Mütze aus der Hand und stülpte sie auf den Kopf. Dabei verzog er das Gesicht.

»Hab' ich dir arg weh getan, Laurenz?«

»Ich blut',« sagte der Junge wehleidig und tippte mit dem Finger auf die Schläfe. »Du hast mich gekratzt.«

»Zeig!« Sie hob sich auf den Fußspitzen und betrachtete aufmerksam den Riß an seiner linken Schläfe.

»Hast du kein Pflasterpapier?«

»Ich hab' keins.«

»Und du, Moritz? Gott, so mach doch.«

Moritz Lachner holte umständlich ein großes Bügelportemonnaie aus seiner Hosentasche hervor und brachte ein Blättchen englisch Pflaster zum Vorschein. Bevor er es präsentieren konnte, hatte die Kleine es ihm schon aus der Hand genommen und angeleckt. Er stand beiseite und sah zu.

»Neig dich, Laurenz. So – –!« Sie pappte das Pflasterchen über seine Schläfe. »Jetzt bist du ein Ritter, Laurenz, und trägst eine Narbe, deiner Dame zu Ehren. So – –! Und deine Dame gibt dir dafür einen Kuß.«

Sie legte ihm die Hände über die Ohren und küßte ihn mit ungeschickten Kinderlippen.

»Komm,« sagte der Junge, »wir laufen in die Stadt. Da ist es jetzt am amüsantesten.«

Er nahm das Mädchen bei der Hand, lief mit ihr zur Schiffsbrücke, erlegte ritterlich für sie mit das Brückengeld, und dann galoppierten sie über die ächzenden, schaukelnden Planken. –

Moritz Lachner stand noch immer auf demselben Fleck. Langsam stieg ihm das Blut aus den Wangen bis in die Stirn. Er nahm sein rundes Filzhütchen ab und strich mechanisch über sein rötliches Haar. Er schämte sich ... Da war er, der vierzehnjährige Untersekundaner, mit diesem zwölfjährigen hochmütigen Bengel und der kleinen zehnjährigen Carmen hierhergelaufen, statt hinter den geliebten Büchern zu sitzen. Nur, weil der Junge ein Patriziersohn und das Mädchen ein Künstlerkind und – ja doch – und schön war. Dr. Joseph Ottens, des berühmten Sängers und modernen Rezitators Otten Tochter! Und er hatte ihr Geschichten erzählt, den ganzen Nachmittag lang, und alle seine Weisheit vor ihr ausgekramt. Und Pferd gespielt und sich von dem wütenden Laurenz um ihretwillen die Beinkleider verderben lassen. Und zum Schluß sein englisch Pflaster geopfert und zugesehen, wie der bekämpfte Rivale noch dazu einen Kuß erhielt. Und dann – –

Es stieg ihm feucht in die Augenwinkel.

Dann hatte man ihn stehen lassen. In der Freude hatte man ihn vergessen. – –

In der Ferne sah er sie über die Schiffsbrücke laufen. Sie jagten sich und rannten gegen ein paar Brückenarbeiter, die hinter ihnen herschimpften. Noch einen Augenblick kämpfte er mit sich. Dann senkte er den Kopf und trabte hinterher.

»Sie weiß noch nicht, daß ihr Vater heut kommt und im Gürzenich singt,« beschwichtigte er seine Scham. »Das muß ich ihr noch sagen ...«

»Heut kann ich bis wenigstens acht Uhr draußen bleiben,« verriet die Kleine ihrem Freunde Laurenz, als sie die Brücke verließen. »Mutter gab keine Antwort, als ich sie fragte. Sie war den ganzen Tag so still. Da bin ich echappiert.«

Sie drückten sich an der Rheingasse vorbei. Schmal und hochgiebelig, mit schweren Balkenlagen und reichem, altkölnischem Schnitzwerk stand das Haus der Ottens. In der Haustür lehnte trotz des Winterabends ein untersetzter Mann mit grauem Stoppelbart, fest in ein gestricktes Wollenkamisol eingeknöpft, eine Schiffermütze auf dem Kopf. Er rauchte aus einer dünnstieligen holländischen Tonpfeife und blies die Kringel über die Gasse.

»Der alte Klaus,« flüsterte die Kleine. »Komm schnell.« Und sie tauchten in den Schatten der nächsten Häuser und entflohen auf den Heumarkt.

Der Schiffer nahm behutsam die Pfeife aus dem Mund und blinzelte hinter ihnen her. »Materdeies, dat wor doch uns Carmche? Mit dem Nixnotz, dem junge Terbroich?« Und er schüttelte mißbilligend den grobgeschnitzten Kopf.

Eben bog eine neue Gestalt um die Ecke, sah sich suchend um und wollte eiligst verschwinden.

»Der Lachners Moritz,« knurrte der Alte befriedigt. »He, du Moritz, op de Heumarkt sinn se. Dat du mr got oppaßt op et Carmche!«

Moritz Lachner fuhr herum. Ertappt und verärgert. »Was geht das mich an?« fragte er trotzig. »Ich bin doch nicht ihre Kinderfrau?«

»Un ich sagen der nor dat ein: dat du mr got oppaßt.« Damit schob er die Pfeife ruhig zwischen die gespitzten Lippen.

»Ich geh' nach Haus,« sprach der Junge vor sich hin, und nahm doch den Weg zum Heumarkt, »ich geh' auf der Stelle nach Haus, auf der Stelle.« Nun hatte er das Reiterstandbild Friedrich Wilhelms des Dritten erreicht, des ersten Preußenkönigs in Rheinlanden. Er kroch gebückt um das Eisengitter herum und lugte nach allen Seiten. Enttäuscht erhob er sich. »Sie werden auf den Altenmarkt gelaufen sein,« überdachte er. »Aber ich geh' jetzt nach Haus.« Und dann lief auch er auf den Altenmarkt.

Dort entdeckte er sie, wie sie Hand in Hand über den Platz bummelten.

»Ich will mich nicht aufdrängen,« murmelte er, »ich will nicht.«

Am Jan-van-Werth-Brunnen hatte er sie erreicht.

»Du,« hörte er die Kleine sagen, »das is der Jan un et Griet.«

Laurenz lachte.

»Weshalb lachst du denn nur?«

»Als der Jan Reitergeneral geworden war, hat er et Griet sitzen lassen.«

»Soo –! Und als der Jan noch als Bauernknecht auf dem Kümpcheshof in Köllen diente, da hat die Bauerntochter, et Griet, ihm einen Korb gegeben. Ätsch!«

»Und dann ist et Griet eine alte verschrumpelte Appelfrau geworden, und der Jan zog als ein stolzer Reitersgeneral durch das Severinstor in Köln ein, und da saß et Griet vor seinem Appelkram und briet sich Kastanien.«

»Weiter.«

»Der Jan van Werth kriegte eine große Schadenfreude –«

»Das ist nicht wahr!«

»Er hielt aber doch sein Pferd an und sagte: Och, Griet, wer et hätt' gedonn!«

»Und et Griet ließ sich nicht foppen und sagte: Och, Jan, wer et hätt' gewoß'!«

Nun lachten sie miteinander.

»Wenn ich dich sitzen lass', wirst du et Griet!«

»Du aber noch lang' nicht der Jan!«

Er galoppierte mit steifen Beinen auf sie zu, salutierte und schnarrte: »Griet, wer et hätt' gedonn!«

Und sie wischte sich das Näschen, grämelte und piepte alsbald: »Jan, wer et hätt' gewoß'!«

»Ich fang' dich!«

»Möchtste wohl – kriegst mich nicht!«

»Griet, wer et hätt' gedonn!« schrie er und suchte sie zu haschen.

»Jan, wer et hätt' gewoß'!« jauchzte sie zurück und entkam ihm um das Denkmal herum.

Atemlos, lachend und aufkreischend, rasten sie hin und her. Jetzt streckte er die Hand nach ihren flatternden Locken, und sie fiel ihm in die Arme. Mit dem letzten Sprung waren sie gegen Moritz Lachner geprallt.

»Was fällt dir ein?« wütete Laurenz Terbroich und ballte die Faust. »Bist du denn so dickfellig, daß du nicht merkst, daß wir dich nicht haben wollen? Scher dich in euren Laden! Da kannst du deinem Alten helfen, Hasenfelle verkaufen.«

»Jawohl, geh nach Haus,« echote zornig die Kleine.

Moritz Lachners Augen irrten vom einen zum andern, unablässig von einem zum andern. Zum ersten Male kam ihm die Erkenntnis von der Grausamkeit der Kinderseele. Ihm war grenzenlos elend zu Sinn.

»Was stehst du noch?« schnaubte der Patrizierjunge.

»Ja, was stehst du noch?« zürnte die Kleine.

»Der Klaus,« stotterte Moritz, »der alte Klaus hat mich hergeschickt. Damit dir nichts passiert, Carmen.«

»Sag dem Klaus,« höhnte Laurenz, »er solle sich um seine Nase kümmern, damit sie nicht windschief wird.«

»Ja, sag ihm das!« jubelte die Kleine.

Moritz Lachner zog tief die Luft durch die Nasenflügel. Seine Augen suchten unruhig am Boden. Er rang mit einem Entschluß und fand die Worte nicht. Dann trat er vor und faßte der kleinen Carmen Hand.

»Carmen – ich hätt' dir noch was zu sagen ...«

»Sag's mir morgen.«

»Nein, heute. Dein Vater kommt nach Köln. Vielleicht ist er schon da. Er singt heut abend im Gürzenich.«

Sie starrte ihn an. Ungläubig. Begierig. »Der – Vater? – Der meine – ?«

»Verlaß dich drauf.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaub's nicht. Die Mutter hätt's gesagt.«

»Vielleicht, daß er sich nicht hat anmelden können ...«

Hinter ihnen kicherte jemand. Es war Laurenz Terbroich.

Mit sprühenden Augen fuhr sie zu ihm herum.

»Du sollst nicht lachen!« Und sie stampfte mit den Füßen wie eine Wilde. Da brach sein Lachen ab.

»Du,« sagte Moritz und machte ein fröhliches Gesicht, »um halb acht beginnt das Konzert. Jetzt ist es sieben. Wollen wir zum Gürzenich laufen. Wenn er aus dem Wagen steigt, kriegen wir ihn zu sehen.«

»Du willst mich uzen.«

»Wenn du's nicht glaubst, da an der Säule kleben die Plakate.«

Ehrfürchtig gingen sie hin und lasen. »Liederabend von Dr. Joseph Otten. Im Saale des Gürzenich.« Zweimal und dreimal lasen sie. Das Mädchen erschauerte und blickte mit fiebrigen Augen auf das Papier. »Der Vater – –« Und wortlos trollten sie sich durch die Martinsstraße nach dem Wunderbau mittelalterlicher Gotik, einst »der Herren Tanzhaus«, dem Gürzenich.

Eine Horde Gaffer drängte sich an der Eingangstür: Frauen in Umschlagtüchern, Kinder auf dem Arm; Kleinbürger, die zum Abendschoppen strebten; Eckensteher in Schiffermütze und buntgestickten Plüschpantoffeln. Der Joseph Otten sang! Auf den Jupp waren sie stolz. Es war »ene Köllsche Jung«!

Die Kinder hatten sich in die vordere Reihe gedrängt. Die kleine, schlanke Carmen hielt sich fest an Moritz Lachners Hand. Wagen auf Wagen fuhr vor. Herren in vornehmer Haltung, Damen in großer Konzerttoilette entstiegen ihnen und eilten, durchs Portal zu kommen. Denn die Zaungäste kritisierten scharf und laut. »Jessesmarijusepp, die hätt' sich äwer fies fein angedonn.« »Süch ens, die meint, sie wär' em Huchsommer. Madam, Sie werde sich verkühle!« »Achtung, Här, der Kopp oder der Zylinder!«

»Das war mein Vater,« sagte Laurenz Terbroich, als der geradgereckte Herr, dem der Zuruf gegolten hatte, im Portal verschwunden war.

Es schlug halb acht. In raschem Trab kam ein Wagen heran und hielt. Ein hochgewachsener, früher Vierziger sprang elastisch heraus, gab dem Kutscher Weisung und wandte sich dem Eingang zu. »Guten Abend, Herr Doktor Otten,« scholl es hinter ihm her. Da wandte er sich lachend um, grüßte mit dem Schlapphut und winkte mit der Hand. Im Begriff, ins Portal zu treten, blickte er noch einmal über die Schulter, als sei ihm vorhin irgend etwas aufgefallen. Sein stahlblaues Auge traf die Kinder, suchte die erglühende Carmen heraus. Eine Erinnerung ging durch seinen Blick, ein Erkennen, Ein Aufstrahlen, und ein Nicken hüben und drüben. Dann war er im Gürzenich verschwunden. – –

»Das war mein Vater,« sagte die Kleine triumphierend zu Laurenz Terbroich. Und die beiden liefen hinter dem Volk her, um zu hören, was gesprochen würde.

Moritz Lachner blieb allein vor dem Gürzenich zurück. Seine Seele war mit dem bewunderten Manne hineingegangen, und er wartete, daß er sie ihm wieder herausbrächte. – –



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