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XIX

Die Glocke der Zonser Pfarrkirche läutete den Sonntag ein. Das ganze Land ringsum sog die Feierlichkeit ein, die wie ein alter Segen über Wiesen und Äcker schritt, und lag lautlos und erwartungsvoll. Der Wind hatte die Wolken vertrieben. Eine wärmende Vorfrühlingssonne zog auf und schien ruhig auf Landschaft und Strom, der fast die ganze Breite seines Bettes zurückgewonnen hatte und nun auf starkem Rücken das rasch zu Tal gleitende Eis wie ein leichtes Spielzeug trug. Selten nur klang ein Ton durch die Stille, wenn sich vom Uferrand eine neue große Scholle löste, sich verwundert um sich selber drehte und pfeilschnell den Gefährten in die trügerische Freiheit nacheilte.

Tringche, die Wirtschafterin, kam aus der Frühmesse, die sie seit dem Tage, an dem die sonderlichen Gäste in ihr Haus gezogen waren, nie versäumte. Die Gemeinde war klein, es gab nicht viel zu schauen, und die einfache Seele nutzte Zeit und Gelegenheit, die Fürbitte der lieben Heiligen auch für die Hausgenossen zu erflehen, die daheim geblieben waren und auf ihre Art eine direkte Verständigung mit dem Herrgott herbeizuführen trachteten. Als sie in die Küche trat, brannte bereits das Feuer, und der Professor stand neben dem Herd und achtete auf das Wasser, das gerade ins Kochen geriet.

»Is die Frau als munter?« fragte sie und griff ohne weiteres mit zu.

»Munter wäre zu viel gesagt. Aber sie ist aufgewacht. Wir wollen schnell für den Tee sorgen.«

Wenige Minuten später stand Heinrich Koch mit dem Teebrett vor Ottens Tür und klopfte leise. Joseph Otten öffnete. Er nahm das Teebrett entgegen, dankte mit einem Neigen des Kopfes und trat, die Tür behutsam schließend, ins Zimmer zurück. Aus der Kammer kamen kurze, schnelle Atemzüge.

Vorsorglich kühlte Otten das Getränk und trug es ans Bett. »Es wird dir gut tun, Maria.«

Beim Klang seiner Stimme schlug sie die Augen auf. »Mir ist so heiß, und es drückt auf der Brust und im Kopf.«

»Wir werden's schon niederzwingen.«

»Joseph,« sagte sie nur, faßte seine Hand und trank gehorsam.

Nach einiger Zeit fragte sie nach dem Wetter. »Die Sonne ist durch? Bitte, stoß den Laden zurück. Ich möchte die ganze Kammer voll Sonne sehen.«

Er willfahrte sofort. »Du brauchst dich gar nicht zu rühren. Ich schiebe dir ein Kissen unter den Kopf, und du kannst vom Bett aus gerade durch das Fenster blicken. Ist es schön?«

Sie lag und sah mit großen Augen in die Sonne. »Wunderschön« – – –

Gegen Mittag wurde sie unruhiger. »Joseph – es ist doch mehr als eine Erkältung. – Das Atmen schmerzt mich so. Und es klopft – überall.«

Er hielt ihren Puls zwischen den Fingern und befühlte ihre Stirn. »Ich lasse sofort den Arzt holen. Der soll dem Fieber zu Leibe. Und morgen bist du gesund.«

Auf der Treppe hatte er eine kurze Unterredung mit Koch, der sogleich Hut und Mantel nahm und sich nach Dormagen aufmachte, um Arzt und Apotheke aufzusuchen. Darüber wurde es Nachmittag. Otten saß am Bett seiner Frau und hielt ihre Hand. Er hatte ihr eine kalte Packung um die Brust gemacht und sie nach einigen Stunden erneuert. Danach fühlte sie Erleichterung.

»Schreibe nichts an Carmen. Sie soll sich nicht erschrecken.«

»Ist sie denn allein zu Haus?«

»Das Mädchen ist bei ihr. Die ist zuverlässig. Und Moritz Lachner wird nach ihr sehen.«

»Wissen sie, daß du hier bist?«

»Moritz Lachner weiß es. Er wird es ihr sagen.«

»Wenn dir morgen besser ist, Maria, gehe ich nach Köln.«

Sie drückte seine Hand, schloß die Augen und schlummerte wenige Minuten. In ihr Gesicht trat ein schmerzlicher Ausdruck. Unruhig bewegte sie den Kopf und erwachte. »Der Atem – will gar nicht.«

Durch die Wirtschafterin hatte er sich Eis besorgen lassen. Er schlug ein Stück in kleine Teile und gab sie ihr ein. Dabei stützte er wie eine Mutter, die ihrem Kinde helfen möchte, ihren Kopf, und sie drückte ihr Gesicht fest in seinen Arm.

»Bleib so, Joseph.«

»Gern, Liebste ...«

»Als ich ein kleines Mädchen war, hatte ich einmal das Fieber. Das ist meine schönste Erinnerung an meine Kindheit. Klingt das nicht komisch? Und doch ist es so. Denn damals – bekümmerte sich meine Mutter – den ganzen Tag nur um mich. Wie wohl das tat. Wenn ich in ihrem Arm lag, war ich sofort still – und träumte. Von bunten Wiesen und warmer Sonne darauf, und einer Schaukel zwischen zwei Obstbäumen, auf der ich mich – ganz sachte – schaukelte. Das war ein wonniges Gefühl. Frei – und doch geborgen. Jetzt schaukele ich wieder.«

»Weil du geborgen bist.«

»Weil ich geborgen bin. Ja – –. Wie wunderbar das ist, daß sich das – wiederholt. Jetzt wiederholt. Ich hab' nicht lange – ein kleines Mädchen sein dürfen. Daher sind mir auch die Tage – so treu im Gedächtnis geblieben. Und später – wenn ich einmal von Herzen müde war – habe ich mich heimlich immer nach ihnen gesehnt. Oft – oft sehr stark. Aber ich hatte ja – den großen Jungen zu schaukeln, der mein Mann war. Das ging vor. Und nun – tust du mir denselben – Liebesdienst.«

»Sprich nicht so viel, es strengt dich an.«

»Das tut nichts. Ich habe eigentlich – nie viel im Leben gesprochen. Aber heute macht es mir Freude. Ich kann dir das nicht erklären. Aber es ist mir so, als ob ich immerfort – immerfort mit dir plaudern müßte. So vieles, was ich versäumt habe – dir zu sagen. Ich war immer zu beschämt, es auszusprechen. Du solltest mich nicht für aufdringlich halten. Daß ich dich so heiß liebte.«

»Du – du –« sagte Otten und wiegte sie leise.

»Nun bin ich wieder – in der Schaukel. Die einzige schöne Kindererinnerung, die mir geblieben ist, nimmt Gestalt an – daß ich sie greifen könnte. Das ist – wie eine Auferstehung. – Ach du – – bei dir ist es so gut ...«

»Ich glaube,« sagte Otten, »du willst mir gar noch danken.«

»Ich habe Grund dazu. Nein, widersprich nicht. Wenn ich einmal sterben sollte – will ich ihn dir sagen.«

Er wiegte sie hin und her. Sein graues Haar lag dicht an ihrem vor der Zeit gebleichten.

Vor dem Hause fuhr die Kalesche des Arztes vor. Heinrich Koch hatte ihn erst erwarten müssen und ihn nach kurzer Aufklärung gleich mitgebracht, nachdem sie sich in der Apotheke mit allem, was in Betracht kommen konnte, versehen hatten. Der Arzt klopfte an die Zimmertür, und Otten rief »Herein!«, ohne seine Frau aus dem Arm zu lassen. Einen Moment blieb der Arzt, betroffen von dem seltsamen Bild, auf der Schwelle stehen. Dann trat er rasch näher und nannte seinen Namen.

»Gestatten Sie, daß ich sofort die Untersuchung vornehme?«

Jetzt erst machte Otten Platz. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und stand am Fußende des Bettes, damit Frau Maria ihn sehen könnte. Es tat ihm weh, als der Arzt ihre Brust enthüllte.

Die Untersuchung zog sich eine geraume Weile hin. Zwischendurch stellte der Arzt einige Fragen nach allem, was vorausgegangen war. Bevor Otten antworten konnte, antwortete Frau Maria. Sie wollte nicht, daß er sich mit einem Bekenntnis peinigen sollte.

»So, so. Sie sind bei dem Unwetter am Rhein gewesen. Diesen Frühlingsstürmen ist nicht zu trauen. Und jedenfalls befanden Sie sich in einer seelischen Erregung, die Sie zur Aufnahme der Krankheit noch geeigneter machte. Nun, es ist nur eine Affektion. Die Hauptsache ist, gnädige Frau, daß Sie aufs genaueste die Vorschriften befolgen. Dann werden wir bald wieder am Rhein spazieren gehen. Aber bei besserem Wetter. Soll ich aus dem Kloster eine Schwester herbitten?«

»Wenn Sie mir die Dienstreichungen anvertrauen könnten, Herr Doktor,« sagte Otten und trat vor, »so wäre es mir lieber. Was mir an Geschicklichkeit abgeht, ersetze ich durch Zuverlässigkeit.«

»Ich dachte nur, daß sich Frauen gegenseitig –«

»Meine Frau ist nur an mich gewöhnt.«

»Schön. So darf ich Sie wohl informieren, und am besten im Beisein der Wirtschafterin.«

Otten öffnete höflich die Tür, nickte seiner Frau zu und folgte dem Arzt, der auf der Treppe stehen blieb. »Hören Sie, Herr Doktor Otten, das ist keine leichte Affektion, wie ich es vorhin zur Beruhigung Ihrer Gattin hinstellte. Ich habe die Pflicht, Ihnen gegenüber offen zu sein. Und ich kann es doch?«

»Ohne Schonung, wenn ich bitten darf.«

»Es ist eine Lungenentzündung, die sich rapide entwickelt hat. Wenn ich auch nicht gleich das Schlimmste befürchte, so muß ich Sie doch auf den Ernst der Situation aufmerksam machen. Meine Vorschriften müssen auf das peinlichste befolgt werden, eine Nachtwache muß sein, die alle zwei Stunden die Packungen wechselt und jede Minute bereit ist, beizuspringen, der Kranken durch Eisstückchen Erleichterung zu verschaffen und ihre Herztätigkeit durch einen Trunk Champagner anzufeuern. Ich möchte Sie noch einmal fragen: Soll ich nicht lieber eine Vinzenzschwester bitten?«

»Herr Doktor,« antwortete Otten ruhig, »wenn die Möglichkeit besteht, daß es sich für meine Frau nur noch um ein, zwei Nächte handeln könnte, so will ich diese Nachte für mich allein haben.«

»Die Möglichkeit ist nicht außer Frage. Vor morgen ist Genaueres nicht zu bestimmen. Andernfalls aber –«

»Andernfalls – und ich hoffe mit aller Kraft, daß dieser andere Fall eintritt – kann kein Mensch schneller die Genesung meiner Frau herbeiführen helfen als ich. Ich allein bin der Gewinnende – wie ich der Verlierende sein würde.«

Sie gingen die Treppe hinab und trafen Heinrich Koch und den alten Klaus auf der Diele. Und während der Arzt aus den mitgebrachten Vorräten ein paar Medikamente hervorsuchte, hatte sich Otten stumm zu den Freunden gesellt und saß zwischen ihnen. Mit heimlichem Staunen betrachtete der Arzt das seltsame graue Kollegium ...

Dann rief er die Wirtschafterin und wiederholte seine Vorschriften. Otten hatte sich sofort erhoben.

»Ich fahre jetzt nach Hause,« wandte sich der Arzt an ihn, »aber ich werde heute abend gegen zehn Uhr wieder hier sein, um der Patientin, falls die Atmungsbeschwerden sich steigern sollten, ein paar Stunden Schlaf zu verschaffen.«

Otten reichte ihm die Hand. Sein Auge ruhte für Sekunden auf dem Gesicht des Arztes, als ob es dort mehr zu lesen gäbe. Dann ließ er die Hand fallen. »Haben Sie Dank.«

»Auf Wiedersehen.«

Otten grüßte, wandte sich um und ging an den Freunden vorbei, die hinter ihm dreinschauten, bis er die Treppe hinauf war, und auch dann noch horchten, bis sie die Türe seines Zimmers ins Schloß gleiten hörten.

Er konnte nicht sofort in die Schlafkammer gehen. Mitten im Zimmer stand er, mit weit geöffneten, ungläubigen Augen, und sein Kopf wiederholte sich beständig die Worte des Arztes. »Es ist Gefahr – es ist Gefahr.« Das war ja nicht auszudenken. Das mußte einen anderen betreffen, nicht ihn. Nicht ihn und Maria. Sein Gesicht verzog sich, daß es um Jahre älter erschien, seine Augen suchten ratlos in allen Ecken. Und wieder arbeitete sein Gehirn, daß es ihn schmerzte. Bei Gott, der Arzt war hier gewesen, der Arzt hatte gesprochen, von Maria gesprochen, es ließ sich nicht aus der Welt schaffen, was er gesagt hatte, Maria war in Gefahr. Maria ...? War es denn möglich, daß sie ihn allein lassen wollte? Wie das? Hatte er sie nicht allein gelassen und es alle die Jahre gewünscht, daß er allein bliebe? Aber das war doch gewesen! Was hatte das Gestern mit dem Heute zu tun? Was waren ihm alle die Jahre? Was bedeuteten sie für ihn? Nur eines hatte noch Geltung. Das, was geschehen war, seit er sie wieder hatte.

Und nun – aus und vorbei? Ein letzter Blitz, der sein Leben erleuchtete und es aufrüttelte? Um ihm den Weg zu zeigen. Auch das für ihn? Und – aus.

»Nein!« stieß er hervor.

Seine Gestalt reckte sich. Seine Augen glühten. Mit geballten Fäusten stand er und zog alle Selbstbeherrschung an sich.

In der Kammer regte sich Frau Maria. »Bist du da, Joseph?«

Er ruckte mit dem Kopfe, fand ein schnelles Lächeln und ging zu ihr hinein. Sie hatte sich halb aufgerichtet.

»Hat der Arzt draußen noch etwas gesagt, was ich nicht hören sollte?«

Er legte sie sanft in die Kissen zurück. »Nur seine Vorschriften hat er wiederholt, damit dir morgen schon besser ist. Dazu mußt du nun auch helfen. Am Abend schaut er noch einmal bei dir nach.«

»Joseph – du läßt keine Schwester zu mir.«

»Ist es auch dir lieber, wenn ich dich pflege? Es ist Egoismus von mir. Ich möchte so gern ein wenig abzahlen.«

»Nein, es ist Egoismus von mir.«

Sie lag für Sekunden still und suchte ihre Brust zu beruhigen. »Es könnte,« fuhr sie fort, »auch einen andern Verlauf mit mir nehmen, als wir uns wünschen ... Sollte das sein – Hab' ich dich doch für den Rest – ganz für mich allein.«

Es rieselte durch seinen Körper. Da waren dieselben Gedanken, die er eben erst dem Arzte ausgesprochen hatte. Und nun klangen sie wieder zusammen in einen Ton, wie so oft, wie immer.

»Wir gehören zusammen,« sagte er nur.

»Spürst du das, Joseph?«

Er antwortete nicht. Er legte seinen Kopf dicht neben den ihren auf das Kissen und verharrte so. Langsam kroch der Abend ins Zimmer und umspann sie.

Wenige Worte hatten sie nur getauscht, Zärtlichkeitsworte, die nur ein Hauch waren und doch die Kammer füllten. Jetzt machte Otten Licht, nahm mit einer Geschicklichkeit, über die er selber staunte, eine neue Packung vor und reichte seiner Frau die Medizin. Die Fiebermessung ergab einen höheren Grad.

Mit dem vorrückenden Abend fühlte sie sich schwächer. Der Atem ging heißer und heftiger, und das Bemühen, es ihn nicht merken zu lassen, gab ihr wirre Worte ein. Die Wirtschafterin brachte die Kräftigungsmittel, die der Arzt verordnet hatte, und sie nahm sie ohne Zögern. Auch von dem Champagner, den Otten ihr von Zeit zu Zeit reichte, trank sie gehorsam. Dann begann sie zu erzählen, halblaut, in kurzen, abgerissenen Sätzen, die sie ihrem Atem anpaßte. Nahes und Fernes, alles mit demselben merkwürdig wichtigen Ton. Als wäre nichts Unwichtiges in ihrem Leben gewesen.

Immer länger, immer erregter wurden die Sätze. Ihr Kopf zuckte unter seinen Händen. »Wenn ich nur schlafen könnte,« murmelte sie erschöpft.

Gespannt horchte Otten auf jedes Geräusch, das von der Straße kam. Aus der Ferne ein paar Freudenjauchzer von Karnevalsbrüdern. Sonst nichts. Und die Uhr zeigte auf zehn. Jede Minute dehnte sich ins ewige. Jetzt! Räderrollen ... Er atmete auf. Vor dem Hause hielt die Kalesche. Der Arzt hatte Lungen und Herz einer neuen Untersuchung unterzogen. Standhaft hielt Frau Maria aus, obwohl jede Bewegung sie schmerzte. »Ich bring' Ihnen den Schlaf, gnädige Frau.« Und er vollzog schnell eine Morphiumeinspritzung. An ihrem Bett blieb er sitzen, bis die Wirkung eintrat. Mitten in der Erzählung froher Dinge, die sie bewegten, legte sie den Kopf auf die Seite und schlummerte ein.

»Eine willensklare und willensstarke Frau,« sagte der Arzt. »Keine Silbe, die auf sie selbst hinweist, keine Klage, die auf ihre Schmerzen deutet, immer nur beschäftigt mit den Angelegenheiten der Menschen, die ihr nahe stehen. Jetzt verstehe ich, Herr Doktor, weshalb Sie nicht vom Platze weichen wollen.«

Otten sah ihn düster an. Dieser Landarzt hatte die Frau nach wenigen Stunden ergründet. Aber was er da sagte, von »nicht vom Platz weichen wollen«, traf nur halb zu, traf zu spät zu, und ein Hohn lachte in ihm über das eigene, späte Verständnis. »Ja, ja –,« antwortete er.

»Ich habe viel von Ihnen gehört, Herr Doktor, und Sie in früheren Jahren auch selber bewundert. Sie haben ein reiches Leben gelebt. Vergessen Sie das nicht, wenn Anforderungen an Sie gestellt werden.«

»Nein, nein –,« erwiderte er.

»Morgen früh, gleich nach der Sprechstunde komme ich heraus. Ich wünsche Ihnen beiden eine gute Nacht.«

Dann war er allein mit der Schlummernden. Und während er sie betrachtete und seine Hände auf die ihren legte, als ob er sich ihrer vergewisserte, jagten seine Gedanken kreuz und quer, suchten ein Wort, das er soeben vernommen haben mußte, fingen es ein, trieben es im Kreise und spielten mit ihm Fangball. Anforderungen. Anforderungen. Was für Anforderungen gäbe es danach noch –

»Nichts. Keine. – Ruhe da!«

Einmal erwachte sie. Es war nach Mitternacht. Und er nutzte die Gelegenheit, die Umschläge zu erneuern und ihr zu trinken zu geben. Kaum, daß sie die Kissen wieder berührte, entschlummerte sie aufs neue.

Otten vermeinte auf dem Korridor ein leises Geräusch vernommen zu haben. Als er nachsah, stand Heinrich Koch vor ihm, und der alte Klaus wartete auf der Treppe.

»Ja, Heinrich, das ist nun so. Kaum gewonnen, schon zerronnen.«

Heinrich Koch schüttelte den feinen Gelehrtenkopf. »Selbst wenn das Schlimmste einträte, Joseph, Frau Maria ist nicht wie jede andere – es bleibt etwas.«

»Etwas.«

»Genug für dich, wo du gar nichts mehr erwartet hattest. Und wohl sogar so viel, daß auch ich noch daran teilhaben kann«

»Jupp,« sagte der alte Klaus, »Kop hoch. Hal dr Nacke stief.«

Da flog ein Lächeln über Ottens steinerne Züge. »Dat donn ich. Gut' Nacht.«

Die kurze Ansprache hatte ihm gut getan. Sie wirkte nach und füllte die Stunden aus. »Nur die Knabenfreundschaften haben den langen Atem des Lebens,« dachte er. »Was hinterher kommt, ist nicht mehr uneigennützig. Wo sind alle die Nachfolger geblieben? Mit der letzten Flasche, zu der ich sie einlud, vom Stuhl gefallen. Habeant sibi

Er träumte vor sich hin. Vom alten Klaus und dem väterlichen Schiff, das er führte. Von Heinrich Koch, dem kleinen, fröhlichen Kameraden, der ihm nie von der Seite gewichen war. Und von dem kleinen Hinterhälter – wie hieß er doch? – Medardus. Medardus Terbroich, Der Name stach ihm ins Gehirn. Medardus – Laurenz. »Sippschaft du. Wir rechnen noch ab.« –

Mit der Uhr in der Hand führte er den Krankendienst aus. Vor Morgengrauen erwachte Frau Maria, um nicht wieder einzuschlafen. »Guten Morgen, Liebste,« sagte er und beugte sich über sie. »Wie fühlst du dich?«

Ihre Augen gingen über ihn hin, streiften die Wände ab und kehrten zu ihm zurück. »Was war das nur? Das Letzte?«

»Du wirst geträumt haben. – Erkennst du mich jetzt?«

»Dich? Weshalb sollte ich dich nicht erkennen, Joseph? Du und Carmen – ach, ruf sie doch.«

»Du bist in Zons, Maria. Hast du noch Schmerzen?«

»Schmerzen – Schmerzen?« murmelte sie. »Ja, ich habe Schmerzen. Eigentlich sind es keine. Nur der Atem. Wenn ich doch nur ein einziges Mal – richtig – atmen könnte.«

Kurz darauf packte sie ein schwerer Anfall. Sie rang nach Luft, daß sich der Körper bäumte, und krampfte die Hände in das Leinentuch. Ohne Zaudern griff Otten zu, brachte sie in sitzende Stellung und streichelte ihr liebkosend die feuchte Stirn. Sie versuchte zu sprechen. In kurzen, hastigen Stößen ging ihr Atem. »Danke,« sagte sie endlich.

Nachher lag sie, ohne zu reden. Immer vergeblich bemüht, die Atemnot zu meistern. So fand sie der Arzt.

Als Otten ihn hinausgeleitete, machte er ein Sorgengesicht. »Das Fieber ist gestiegen. Wir können nichts tun, als bei der Behandlung bleiben. Versprechungen machen kann ich nicht.«

»Sie müssen.«

»Ich kann es nicht.«

»Gestatten Sie mir, einen zweiten Arzt zuzuziehen.«

»Ich wollte Sie gerade selber darum bitten. Haben Sie einen Vorschlag?«

»Geheimrat Bartels in Köln. Er war unser Hausarzt.«

»Ich werde ihn sofort von der Station aus telephonisch herüberbitten. Zum Nachmittag können wir gemeinsam hier sein.«

Auf seinem Zimmer fand er zu seiner Verwunderung Koch. »Was willst du hier?«

»Vorbeugen, daß du nicht unvernünftig wirst, Joseph. Unsere Kranke schlummert. Sofort streckst du dich auf das Sofa und versuchst ebenfalls zu schlafen. In zwei Stunden wecke ich dich. Und wenn unsere Kranke früher aufwacht, früher. Mein Wort darauf. Bedenke, daß du deine letzte Kraft für die kommende Nacht brauchst.«

Ohne zu verhandeln, willfahrte er.

Am späten Nachmittag brachte der Arzt den Kölner Geheimrat. Im Städtchen war das Leben heute reger. Die Karnevalswelle ging selbst an diesem einsamen Strande nicht vorüber, ohne seinen Puls zu erhöhen. Frau Maria hatte das Anrollen des Wagens vernommen. Aus der Ferne hörte sie Gesang und wirre Musik. »Was ist das für ein Tag?« fragte sie,

»Rosenmontag.«

»Rosenmontag ... Schön ist der Name.«

Die Ärzte traten ein. Der Geheimrat schüttelte Otten lange die Hand. Er hatte zu seinen eifrigsten Bewunderern gezählt. Dieser hagere Mann mit dem verwitterten Gesicht und dem grauen Haar war Otten? Er hätte ihn nur an den stahlblauen, aufblitzenden Augen erkannt.

»Herr Geheimrat, wenn Sie ihr nicht helfen können, schaffen Sie ihr Erleichterung. Sie hat ein Anrecht darauf.«

»Ich weiß, und ich werde das meine dazu tun.«

Nach einer Viertelstunde, während der Kollege am Bett blieb, nahm er Otten beiseite. »Das Herz ist aufgerieben, es leistet keinen Widerstand. Die Lungenentzündung allein hätte das nicht vermocht. Ich habe ihr Kampfer gegeben, um die Herzschwäche zu heben. Das täuscht über ein paar Stunden hinweg. Aber – wie gesagt – es täuscht nur hinweg.«

»Leiden soll sie nicht!«

»Geben Sie ihr in der Nacht noch einmal von diesen Tropfen. Das Bewußtsein der Schmerzen wird dadurch aufgehoben. Sie war eine tapfere Frau, Herr Doktor.«

»Ah – – sie war – –!« –

Und wieder war er mit seiner Frau allein. Er hatte die Fensterläden geschlossen, daß kein Ton der Außenwelt in ihr Beieinander dringen sollte, und das Licht fortgestellt, daß nur ein Schein über ihnen lag. Und während es Nacht wurde und Stunde auf Stunde vorüberzog, Stunden, die nur nahmen und nichts brachten, erzählte er in leisem Flüsterton immerfort, immerfort. Von all den Jahren, von denen sie nichts wußte, und die doch ihr gehört hätten gleich all den früheren, weil seine Sehnsucht sie wie ein scheuer Vogel umflattert hätte.

»Nun hole ich alles nach,« sagte sie mit fliegendem Atem. »Alles mit einemmal.«

Und er erwiderte, und es war wie eine Selbstanklage: »Was hast du für ein Leben gehabt – –«

Sie strich mit der Hand über die Decke, als ob sie seine Seele glätten könnte. Er mußte sich zu ihr beugen, um sie zu verstehen.

»Keine Frau war glücklicher. Denn ich durfte nicht nur eine Liebe, ich durfte ein Trost sein. Wer kann soviel von sich sagen. Und daß ich dein Trost sein durfte – das macht mein Leben – herrlich.«

»Maria, nun ist die Reihe an mir.«

»Siehst du – sie ist auch an dich gekommen. Und wenn du – Carmen hilfst – gib acht, wie das Gefühl – ein Leben aufwiegen kann. Hilf Carmen, Joseph, Was du ihr tust – tust du der Mutter.«

Die Beschwerden steigerten sich. Er reichte ihr die Tropfen, und sie dämmerte dahin. Noch einmal sprach sie, mit großer Anstrengung. »Ist – der Morgen da? Ich – möcht' ihn sehen.«

Er öffnete die Läden und ließ das junge Tageslicht herein. Die Morgensonne glitzerte durch die Scheiben.

»Sonne – –! Du – Carmen – und die Sonne.«

»Sie hat nie anders als Maria geheißen.«

»Joseph –,« stieß sie hervor, »du –!« Und sie blickte in die Sonne ... Plötzlich öffneten sich ihre Augen weit. Sie sah ihren Mann an. Sie wollte noch etwas sagen, und es gelang ihr nicht mehr. Sie mühte sich um ein Abschiedswort. Und es wurde ein herzzerreißendes Lächeln.

Er hielt sie in beiden Armen, Ganz fest an seiner Brust. Und er las in ihren Augen, was sie noch wünschte: »Küß mich, Joseph.«

Da legte der Mann seinen Mund auf den ihren und küßte ihr den letzten Odem von den Lippen – –

Als die Ärzte nach einer Stunde kamen, fanden sie ihn, den Arm noch immer um die Tote gelegt. Und als sie wieder gegangen waren, saß er wie vorher. Den ganzen Morgen über. Mit seinen Gedanken allein.

Erst gegen Mittag kam er auf die Diele. Heinrich Koch und der alte Klaus erhoben sich von ihren Sitzen.

»Joseph –«

»Es ist schon gut.«

»Eine Depesche – an Frau Maria.«

Er nahm sie entgegen. »An Frau Maria im Himmel.«

»Joseph,« sagte Heinrich Koch, »ich habe sie lieb gehabt, wie keine andere Frau.«

»Ein Hinterbliebener mehr.«

»Zwei,« sagte der alte Klaus, »zwei mehr, Jupp,« Und er zerbrach vor Erregung die Tonpfeife und stampfte hinaus.

»Willst du nicht die Depesche öffnen?«

»Ach so.« Er riß den Streifen auseinander und las. Zuerst Moritz Lachners Unterschrift. Dann den Text. »Terbroich und Carmen wollen morgen früh nach dem Süden reisen. Meine Aufklärungen von Carmen als unglaubwürdig abgelehnt.« Joseph Otten las zweimal. Und wie er das zweite Mal las, lachte er hart vor sich hin. »Geduld ...«

»Nachrichten von Carmen, Joseph?«

»Sie wird morgen hier sein.«

»Gott sei Dank.«

Otten schritt über die Diele hin und her. »Übermorgen wollen wir sie beerdigen.« Und er blieb stehen und blickte nach der Decke. »Hier, damit wir sie in der Nähe haben, wenn wir sie brauchen. Tote binden stärker als Lebende. Du nimmst mir wohl die notwendigen Besorgungen ab, Heinrich.«

»Alles. Kümmere dich um nichts. Soll ich auch an Carmen telegraphieren?«

»Ich gehe selbst zur Station. Ich habe noch einen Spaziergang vor, einen Geschäftsweg, was weiß ich? Da ist ein Wille, ein Testament Marias, das vollzogen werden muß, damit ihr kleiner Schatz nicht gestohlen wird.«

»Kann ich dir den Weg nicht abnehmen?«

»Nein,« sagte Joseph Otten, »den Weg kann mir kein Mensch abnehmen.«

Er nahm nur ein Glas Wein. Etwas anderes zu genießen, ließ er sich nicht überreden. Oben in der Schlafkammer stand er in Hut und Havelock lange vor der Toten. Die Kirchenuhr schlug eine Nachmittagsstunde. Da riß er sich los.

»Ich geh' jetzt, Maria.«

Und er ging. Schweigend um die Stadt herum und schweigend über die lange, öde Chaussee, die vor drei Tagen seine Frau gegangen war. Das fiel ihm ein, als er einherschritt. »Sie hat ihren Auftrag ausgeführt. Ich darf nicht zurückbleiben.« Als die Station in Sicht kam, beeilte er sich.

»Ich hab' einen Auftrag. Ich hab' die Konsequenzen meines Lebens zu ziehen. Daran kommt keiner vorbei, und wenn er sich auf die einsamste Insel gerettet hätte. Eine vom Wind verschlagene Woge rollt heran und holt mich herunter. Und ob ich mir die Konsequenzen meines Lebens anders gedacht hätte, fröhlicher, leichtlebiger – danach wird nicht gefragt. Es handelt sich nicht mehr um dich, es handelt sich um die, die du nachlassest, Joseph Otten, Also bist du noch zu etwas nütze. Schlafe ruhig, Maria.«

Der Zug war des Fastnachtsdienstags wegen wenig besetzt. Er nahm einen Platz in einem Kupee erster Klasse und blieb allein. Gemächlich fuhr der Zug von einer Station zur andern. Er merkte es nicht. Er saß in seiner Ecke und grübelte.

»Es gibt einen Ausgleich. Weil ich an keiner Frau vorüber konnte, ohne sie schön zu finden, muß ich im Alter ausziehen, die Tochter zu schützen.«

»Vor solch' einem Burschen. Das ist das ärgste.«

Übermüdet schloß er die Augen. Und wie auf einer Pflichtwidrigkeit betroffen, schnellte er hoch.

»Bleib munter, Joseph, bleib munter. Nachher gibt's Zeit zum Schlafen die Menge.«

Da stand der Dom und reckte seine Schwurfinger. Und Otten reckte sich auch, verließ den Bahnhof und betrat seine Vaterstadt,

Er war in ein Tollhaus gekommen. Der Kehraus des Karnevals wirbelte durch Straßen und Gassen. Heute noch leben wir, morgen schon sterben wir. Genießt, genießt! Der Aschermittwoch wartet vor der Tür.

»Fastelowend kütt eran,
Spille mer op der Büsse.
Alle Mädcher kriegen 'ne Mann,
Ich un och min Söster!«

sang ihm eine wilde Schar Kostümierter, heiser von den Strapazen der Festtage, das alte Karnevalsliedchen in die Ohren, und eine andere Schar nahm gellend die Weise auf:

»Dä Fastelowend kütt eran,
Wat gitt dat Freud und Loß!
Jitz schaff mer sich 'ne Flaabes an.
Dann kömmt uns nit Verdroß!«

Otten schlug den Kragen seines Mantels hoch und zog den Hut in die Augen. Wie ihn das Treiben anekelte. Nur nicht erkannt werden. Die Luft war trunken von dem Lärm, und die Menschen trunken von der Luft. Nun, er war gekommen, um zur Ernüchterung zu verhelfen.

Der Menschenstrom drängte ihn vom Domplatz in die Komödienstraße. Die Straße war die rechte. Vor des jungen Terbroich Haus stemmte er sich gegen den Strom und wurde in die Haustür geschoben. Im Haus war es still. Die Parterrebewohner genossen den Fasching aus. Wer dachte heute an anderes!

Joseph Otten stieg zum ersten Stockwerk hinauf, das Laurenz Terbroich bewohnte. Er war ganz ruhig, als er die Klingel zog.

Nichts rührte sich in der Wohnung. Und Otten ließ das Läutewerk schriller ertönen.

»He, Johann!« rief drinnen eine Stimme. »Natürlich: zum Teufel! Alles verrückt.« Und ein Knurren, halb ärgerlich, halb lachend. Die Tür öffnete sich. Laurenz Terbroich, den schwarzen Domino über die Schultern gehängt, stand dem Besucher gegenüber.

»Sie wünschen?«

»Wenn es auf mich ankommt, nur zwei Worte.«

»Sie sehen, daß ich auf dem Sprunge bin, fortzugehen. Mit wem habe ich die Ehre?«

»Ich bin der Doktor Joseph Otten. Lassen Sie uns hineingehen.« – – –



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