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XII

Der Morgen dämmerte herauf, als die Gäste die Villa verließen, um den Frühzug nach Köln zu erreichen. Und die volle Sonne strich golden durch die Fenstergardinen, bevor Otten in seinem Zimmer erwachte. Sein Kopf war frei. Die nächtliche Sitzung hatte ihm nichts anhaben können. Die Erlebnisse des letzten Tages standen klar vor ihm.

»Sie ist eine geübte Schachspielerin,« sagte er sich und dachte an Frau Amely. »Erst konstruierte sie das kleine Briefgeheimnis und band mir damit ganz nebenbei die Hände. Und folgerichtig entstand aus dem kleinen Geheimnis ein größeres. Frauen sind die geborenen Vertreter des Schneeballsystems. Ein Nichts wächst unter ihrer Hand zur Lawine. Und wir geraten in Schuld aus purem Kavalierbewußtsein. Jetzt wasch' ich mir die Augen klar und nehme die Zügel. Auf, Joseph!«

Auf der Terrasse wurde er mit Neckereien bewillkommnet. Frau Amely saß in einer luftigen Batistmatinee am Frühstückstisch. »Wir sind hier auf dem Lande, Herr Doktor, da haben die ländlichen Gewohnheiten Geltungsrecht. Im übrigen betrachte ich Sie als bereits zum Inventar gehörig. Nehmen Sie Tee?«

»Ich rate dir vorher zu einem Kognak,« meinte Lüttgen und rieb sich die Stirn. »Meine Großmutter pflegte zu sagen: Das Hündchen, das uns in der Nacht gebissen hat, muß uns auch zuerst am Morgen beißen.«

»Trank denn auch deine Großmutter schon?« fragte Frau Amely gelassen.

»Entschuldigung. Das war nur so eine Sentenz.«

Otten nahm ein Glas Tee. »Man kann doch nur gebissen werden, wenn man wirklich getrunken hat. Aber das war doch nur ein verschämtes Nippen diese Nacht.«

»Dann bekommt das Verschämte eben meiner Natur nicht.«

»Umgekehrt. Deine Natur ist so zart besaitet, daß sie gegen die geringste Verletzung der Ästhetik demonstriert.«

»Gott, meine zarte Natur!« klagte Lüttgen und schlug sich auf die breite Brust.

Frau Amely blickte unter niederfallenden Augenwimpern prüfend von einem zum anderen. »Ich schlage einen Kompromiß vor,« meinte sie und dehnte sich. »Wir nehmen das Segelboot, kreuzen auf dem Rhein bis Nonnenwert, landen später in Königswinter und steigen zum Drachenfels hinauf. Wer frische Luft braucht, kommt auf seine Kosten, und wer alte Träume und Rheinmärchen zu jungem Leben erwecken will, dürfte auch nicht zu kurz kommen. Ich bitte um Abstimmung.«

»Mit Freuden angenommen,« rief Otten, und sie nickte ihm zu.

»Die Kreuzfahrt auf dem Rhein unterschreibe ich unbesehen,« gestand der Hausherr zu, »auch das Landen in Königswinter. Aber der Aufstieg – ? Man könnte auch reiten oder fahren.«

»Romantiker,« lachte Otten.

»Kompromiß gegen Kompromiß. Ihr holt mich, wenn ihr euren romantischen Gefühlen genuggetan habt, ganz einfach in Königswinter ab. Ich habe in kühler Laube inzwischen Zeit, sorglich das Programm des Abends zu entwerfen. Denn diese Glut, mit der der Mai eingesetzt hat, muß bekämpft werden.«

»In einer Viertelstunde reisefertig,« entschied Frau Amely, erhob sich und reichte Otten die Hand.

»Ich möchte Sie mitnehmen, wie Sie sind,« sagte er. »Die Schiffer im kleinen Schiffe würden an den Ufern verkünden, wir hätten eine Nixe gefangen.«

»Noch sind Sie auf dem Festlande, Herr Doktor,« rief sie ihm, schon in der Türe, zu. »Nur im Wasser sieht man den Fischschwanz nicht.«

Er blickte auf ihre schlanken Füße und die federnde Fessel. »In der Tat, Lüttgen, der Mai ist verzaubert. Das ist Juliglut.«

»Und dabei trage ich noch ein Öfchen im Kopf. Wie gut, daß ich nicht cavaliere servente bin.«

Nach einer Viertelstunde trafen sie auf der Terrasse zusammen. Frau Amely im Sportkostüm, die Mütze ins Haar gesteckt. Otten im leichten Anzug und Kalabreser. Nur Lüttgen erschien, wie er gewesen war.

»Du hast dich nicht umgezogen?« fragte die Hausfrau erstaunt.

»Pech!« stieß der Fabrikant kurz hervor. »Das heißt – es kann auch Glück sein. Es handelt sich um einen bedeutenden Abschluß. Soeben telephoniert mich die Fabrik an. Ich muß schleunigst hin.«

»O – –,« bedauerte Otten, »damit wäre die Fahrt ins Wasser gefallen.«

»Kannst du nicht mit der Abreise bis zum Abend warten?« fragte sie rasch.

»Unmöglich. Es ist ein englisches Lieferungsgeschäft. Unser Vertreter in London kommt allein nicht damit zu Rande.«

»Der Herr Doktor könnte am Abend mit dir nach Köln fahren.« Das klang so selbstverständlich, daß Otten überrascht aufsah. »Natürlich fahre ich mit,« erklärte er ohne Besinnen, »auch auf der Stelle, wenn du schon den Mittagszug benutzen willst. Ist es mir möglich und der verehrten Hausfrau angenehm, kehre ich morgen oder übermorgen mit dir zurück.«

»Das wäre noch schöner,« polterte der Fabrikant. »Wir sind doch keine Babies. Ihr macht ruhig euren Ausflug, und in ein paar Tagen bin ich wieder mit von der Partie.«

»Ob Herrn Doktor Otten mit dieser Verbannung gedient ist? Du verfügst nur so über ihn.«

»Wenn ich ihn jetzt aus den Fingern lasse, bekomme ich ihn in Jahr und Tag nicht wieder zu sehen. Abgemacht, Joseph, du bleibst. Hier draußen in dieser Abgeschiedenheit kümmert sich kein Teufel um den anderen, und deiner Frau will ich gern Grüße die Hülle und Fülle bestellen. Es wird Zeit. Das Boot müßt ihr selbst losmachen. Johann ist mit der Tasche auf den Bahnhof und löst mein Billett. Adieu einstweilen. Glückt das Geschäftchen mit den englischen Vettern, so wollen wir ein Festchen feiern, das sich gewaschen hat.« Er reichte seiner Frau die Hand und schüttelte die des Freundes kräftig. »Jupp, wenn du dein Gesicht sehen könntest! Na, adieu. Auf Wiedersehen!« Er schob den Hut in den Nacken und ging schweren Schrittes durch die Gartenpforte. Sein mächtiger Körper verschwand bei der nächsten Wegbiegung.

»Kommen Sie,« sagte Frau Amely und lief dem Gast voraus durch Garten und Park bis zum stillen Rheinufer. Otten folgte ihr langsam. Als er ankam, hatte sie bereits das Seil losgeworfen und stand, die Segelleine in der Hand, im Kahn. Ohne ein Wort zu sprechen, stieg Otten nach, nahm ihr die Segelleine aus der Hand und wies sie ans Steuer. Das Schifflein glitt leicht durch die plaudernden Wellen. In grünsprossendem Flaum lag die Landschaft, von weißen Kirschblüten, rosigen Apfelblüten weit hinaus bestreut. Kein Laut nah und fern. Und bei einer jähen Krümmung des Stromes hob sich das baumbestandene Eiland Nonnenwert wie eine Insel der Vergessenheit aus den grünen Wassern.

»Du – –,« kam es leise von der Steuerbank.

Otten zog die Leine durch den Ring. Es wehte nur ein geringer Wind. Dann kehrte er sich seiner Begleiterin zu.

»Bitte?« sagte er nur.

»Bin ich plötzlich so verabscheuungswürdig?«

»Darf ich mir die Frage gestatten, weshalb Sie Ihrem Manne die Unwahrheit sagten?«

»Das habe ich nicht getan.«

»Indirekt. Indem Sie ihn durch die Aufforderung, mich mit nach Köln zu nehmen, zu der Meinung veranlaßten, es läge Ihnen nichts an meiner Gesellschaft.«

»Tut es das denn?«

»Wegscherzen läßt sich meine Frage nicht.«

»Nun gut denn. Habe ich so Schlimmes verbrochen? Oder sollte ich eigens darauf hindeuten, daß ich mich auf das Alleinsein mit Ihnen freute? Er hätte Sie mir bestimmt nicht gegönnt, Sie mitgenommen, und ich könnte mir, statt endlich eine Stimme aus meiner Welt zu hören, von Johann oder der Köchin den Klatsch von Godesberg erzählen lassen.«

»Wir geraten immer tiefer in die Heimlichkeiten, Frau Amely, und ohne allen Grund.«

»Nicht philosophieren und nicht moralisieren. Das Boot ist zu leicht, der Rhein zu grün, der Himmel zu blau und die Sonne – ach, diese Sonne! Ich kann nicht genug davon bekommen. Baden möcht' ich in ihr! Und Ihnen geht es nicht anders.«

Sie hatten Nonnenwert umkreist, und das Boot glitt rheinab, frischen Wind in den Segeln auf Königswinter zu. Sie richtete das Steuer fest, stieg über das Brett und setzte sich zu ihm auf die Segelbank. Ihre Schulter schmiegte sich an die seine, bis sie den Stützpunkt gefunden hatte. Die Hände im Schoß saß sie und rührte sich nicht.

Ein leiser Teergeruch strich aus dem Wasser über sie hin. Aber der feine Fliederduft behauptete sich. Und Otten wandte den Kopf und sah langsam an ihrer Gestalt hinab. Keine Linie, die ihm entging. Von dem schmalen, oft seltsam zuckenden Gesichtchen bis zu den Füßen, die sich unter dem kurzen Rock hervorstreckten und sich spielerisch kreuzten.

»Nixe,« sagte er. »So feingegliedert müssen Nixen sein. Schade, daß Sie so klug sind.«

»Nicht, nicht. In der Sonne und in der Wassereinsamkeit gibt es nicht klug noch töricht – –« An seine Schulter gelehnt, schlug sie die ruhigen, grauen Augen zu ihm auf. Aber die Wimpern zitterten leise ...

»Piratenrecht,« sagte er, umfaßte ihr Kinn und küßte sie auf den Mund.

Sie hob die Arme, schlang sie um seinen Hals und blieb mit geschlossenen Augen an seiner Brust liegen. Er fühlte die leichte Last ihres Körpers, als ob der gleiche Blutstrom sie beide durchränne. Mit den Fingerspitzen streichelte er ihr bleiches Gesicht.

»Liebe Freundin – –«

»Du – –! Daß du gekommen bist ... Sonst wäre ich gekommen.«

»So ungezähmt?«

»Ja!«

»Ich werde viel mit dir zu schaffen haben.«

»Kampf hält jung! Nur nicht alt werden vor der Zeit. Und wär's in einer Engelehe.«

»Nur nicht!«

»Hui – Grünspan, Schimmel und Motten. Dafür zum Lohn über dem Bett der gestickte Haussegen.«

»Wie – hast – du – ge-schla-fen – mein lie-ber – Jo-seph.«

»Du – soll-test – dei-ne – Tropf-en – neh-men.«

»Wie – auf-merk-sam.«

Und mit einem Male zog sie seinen Kopf zu sich herab und drängte ihre Lippen gegen die seinen. »Das sind meine Tropfen,« murmelte sie.

»Achtung – Königswinter.«

Sie sprang im Boot auf wie ein junges Mädchen, juchheite und schwenkte die Mütze. Und Otten stand neben ihr, hielt sie umfaßt, schwenkte den Kalabreser und juchheite mit. Menschen aus Stahl und Nerven. –

Sie brachten das Boot in Obhut und stiegen nach kurzer Rast durch die Weingärten den Berg hinan, zur Ruinenwand des Drachenfels. So rüstig schritten sie vorwärts, daß die Unterhaltung stockte und vereinzelte Ausrufe den Inhalt ganzer Sätze zusammenfaßten. Dann strafften sich die Leiber, und die Augen blitzten auf. Ein Aneinanderstreifen der Hände – und weiter ging's. Oben in der Wirtschaft fanden sie ein paar Wandergesellschaften vor. Der weißbärtige Barde des Drachenfels saß auf einem der Tische, zupfte die Gitarrensaiten und schmetterte mit ausgesungener Stimme seine Rheinwarnungen unter die Pokulierenden, die begeistert Warnung für Antrieb nahmen: »Mein Sohn, mein Sohn, geh nicht an den Rhein, mein Sohn, ich rate dir gut – –«

Otten und Frau Amely schauten von hoher Warte ins Land. Da lagen sie alle zu ihren Füßen, die Städtchen und Orte altberühmten Namens, von der Sage geweiht oder der Dichtung rhein- und weinfroher Sänger, heilige Namen, die man ausspricht mit einer Erregung im Blut. Die Wasserbahn des Rheins glänzte herauf, fern winkten die Inseln. Und im Norden, scharf gezeichnet am Horizont, die steinernen Schwurfinger, die Türme des Domes: Köln.

Ottens Blick haftete lange daran. »Köln – –« sagte er.

Frau Amely folgte seinem Blick. »Bis hierher reicht seine Bannmeile nicht. Dort ist die Finsternis, hier die Freiheit.« Aber als sie schon am Tische saßen und ihr Mahl einnahmen, sahen sie die Schwurfinger noch vor sich.

»Ich weiß einen besseren Platz für uns, lieber Freund. Einen Platz, der unsere Gedanken wie ein Echo zurückgibt. So still ist er, so weltverloren.«

»Kloster Heisterbach.«

»Ja, Kloster Heisterbach. Sie kennen doch die Legende des Heisterbacher Zisterziensermönches, der es an sich selbst erleben mußte, daß tausend Jahre nur ein Tag sind. Ich möchte auch einmal tausend Jahre in einem Tag genießen.«

Die raunenden Buchenwälder nahmen sie auf. Ein verlorener Wind spielte mit der Sonne gemeinsam in dem zarten Blättergrün. Und es ging durch die Einsamkeit wie tiefe, tiefe Atemzüge.

Frau Amely legte ihre Hand in Ottens Arm. »Ich wollte,« sagte sie, »ich könnte mich fürchten und bei Ihnen Schutz suchen. Aber es ist zu schön dazu.«

»Tun wir also, was der Situation entsprechender ist: freuen wir uns!«

»O – ich tu's ja schon lange.«

»Hier herum hat Jung-Siegfried das Schwert geschmiedet, um den Lindwurm auf dem Drachenfels zu erlegen.«

»Und mir ist, als ob hier herum noch ein anderer Siegfried durch den Wald schritt, um sein Erlösungswerk fortzusetzen.«

» Jung-Siegfried?«

»Siegfried kann nicht altern. Tausend Jahre sind ihm wie ein Tag.«

»Und wenn der Tag zu Ende ist?«

»Sind wir um eine Schönheit reicher, die uns hoch über die Zeitgenossen erhebt. Denn es wandeln nicht viele auf der Erde, deren Hirn die erneute Botschaft zu fassen vermag: Tausend Jahre wie ein Tag gelebt, und wir kommen der Ewigkeit auf die Spur.«

»So will ich der erste sein, der bei der Ewigkeit eine Anleihe macht ...«

Sie ließ es geschehen. »Ich will mich demselben Gläubiger verpflichten.« Und sie küßte ihn wieder.

»Du bist wie ein wilder Junge.«

»Ich weiß mit meiner Kraft nicht aus noch ein. Und wir leben auf Kosten der Ewigkeit.«

»Wir! Wir!«

»Wir, wir, Joseph! Einer muß im andern untergehen und auferstehen.«

»Geh unter,« lachte er und beugte sich über sie.

»Ich will – auferstehen ...«

Der Wind schwieg. Die Sonne lag glänzend auf dem Boden. Und die Atemzüge des Waldes gingen unter in den Atemzügen der beiden Menschen.

Nahe der Klosterruine lagerten sie in einem Buchentälchen. Um sie her war das Zirpen und Tirilieren der Waldvögel, die hier ihr Königreich hatten und der Menschenfremdlinge nicht achteten. Frühlingsblumen sonnten sich im Moos. Warme Wellen küßten sich in der Luft.

»Wie lieb du bist ... Nun geht dein Blut so sanft und ruhig. Und doch kann es in diesem zarten Körper branden wie eine Sündflut.«

»Weil ich das Glück will.«

»Das wollen wir alle. Glücklich machen ist auch Glück. Versuch es.«

»Bei dir?«

»Wenn wir ein besonderes Glück für uns schaffen, müssen wir zunächst alle anderen berechtigten Ansprüche befriedigt haben. Tun wir das nicht, so sind wir keine Ausnahmenaturen, sondern bloße Auskneifer. Verstehst du, was ich meine?«

Sie setzte sich aufrecht, umschlang ihre Knie und sah geradeaus in den sonnigen Wald. Ihre Brauen schoben sich zusammen.

»Will meine Freundin nicht antworten?«

»O ja,« sagte sie, »sie will. Sie will um so mehr, als ihr diese Anrede mißfällt, die ja auch ›mein Freund‹ lauten würde, wenn statt meiner Herr Karl Lüttgen hier säße.«

»Das würde sie, und es würde die Wahrheit sein.«

»Sie haben eine sonderbare Art, Ihre Logik zu betätigen.«

»Frau Amely,« sagte er, »keine Kreuz- und Quersprünge. Selbst wenn ich Sie in den Arm ziehen und diese ärgerlichen Lippen auf die sonderbare Art meiner Logik verschließen würde, wären Sie in besserer Hut als in der Ihrer eigenen Gedanken. So sehr haben Sie das begriffen, daß diese Lippen ärgerlich wurden.«

»Männereinbildung.«

»Nein,« fuhr er fort, »nicht diesen überlegenen Ton, der den Ärger über mich schlecht maskiert. Ja, was glauben Sie denn? Glauben Sie denn wirklich, ich, Joseph Otten, würde hier liegen und sehnsuchtsvoll in den Frühlingshimmel starren, während auf Armesweite der Frühling leibhaftig kauert? Würde nicht mit einer einzigen Bewegung diesen Frühling an mich ziehen und ihn nicht eher freigeben, als bis sein Lebensgeheimnis das meine geworden? Meinen Sie denn, ich hatte keine Augen im Kopfe, um dieses kapriziöse Menschenwunder vor mir zu sehen? Und keinen wilden Herzschlag in der Brust, der danach verlangte, sich auszupochen? Was ich nie getan habe, tue ich heute. Ich respektiere den Mann, der dahinter steht. Weil er mein Freund ist, gewiß. Aber viel mehr noch, weil er ein armer Mensch ist, der sich von vornherein in seinen Hoffnungen betrogen sah. Hoffnungen auf dich könnte ich ihm also nicht nehmen. Aber wenn ich dich küssen würde, so wie ich dich küssen möchte, müßte ich – ihn fallen lassen. Und das hat er nicht verdient. Man stiehlt keinem Bettler seinen Notgroschen.«

Frau Amely saß unbeweglich und blickte in den Wald. Dann sagte sie langsam: »Dennoch – käme es darauf an, festzustellen, wer der Bedürftigere wäre.«

»Er ist es. Das ist keine Frage.«

»Hör zu ... Du behauptest, er leidet unter mir, weil ich keinen Hehl daraus mache, daß ich von seiner Existenz nur die notwendigste Notiz nehme. Ich gebe mir keine Mühe zu einer Annäherung. Mehr noch, ich wünsche die seine nicht. Ich aber behaupte: ich leide unter ihm! Ich habe ihn geheiratet, weil er der große Fabrikherr war. Ich bin viel zu stolz, das Motiv in Abrede zu stellen. Ich wollte auf die sorgenlose Höhe, auf die ich gehörte. Das aber ist in dieser Angelegenheit der einzige Vorwurf, der gegen mich erhoben werden könnte. Ich wollte nicht länger mehr warten, und ich beging den vorschnellen Fehler. Was war's, was ich eingetauscht hatte? Lassen wir das. Du kennst ihn. Aber ich gebe dir die Versicherung, ich habe zuerst getan, was ich konnte, seinen Geist und seine Liebhabereien umzubilden, sie den meinen anzupassen, denn darauf hatte ich ein Recht, weil ich ohne Phrase und Überhebung die stärkere Individualität von uns beiden war. Einer mußte nachgeben. Er bedauerte, er sei zu alt dazu und könne sich nicht mehr ändern. Und ich bedauerte, ich sei noch zu jung dazu und könnte es noch nicht. Die Liebe hätte darüber hinweghelfen können. Aber sie war ja gar nicht vorhanden gewesen. Nein, nein, auch nicht auf seiner Seite. Das war rheinisches Protzentum. Die Freude, ein apartes Sächelchen zu haben, das die anderen anstaunen würden: ›Der Lüttgen – der kann sich's leisten. Doch ein großartiger Kerl!‹ Ich hätte eine andere sein müssen, nicht eine Frau, die das weibliche Sklaventum als lächerliche Farce empfindet, nicht eine Frau, die sich für ein Dutzend Ringe und Halsketten nicht die Seele morden läßt von einem Händler, der Seele für Luxus hält und sie in seinem Materialismus höchst störend empfindet. Um aber mit mir spielen zu lassen, nur spielen, dazu will ich, daß der Partner mir ebenbürtig ist. Oder wir sind nicht unter uns, und die Scham bleibt, und die Demütigung beginnt. Er hat mich nur demütigen können. Er, er! Nicht ich ihn! Und wenn ich mich endlich freimachte, so frei, wie ich heute bin, so nahm ich mir endlich mein altes Recht zurück, mein unveräußerliches Menschenrecht.«

»Ist das – alles wahr?« fragte Otten und dehnte die Worte.

Sie wandte sich blitzschnell nach ihm um. »Würde ich sonst im stande sein, solche Empfindungen – vor einem – dritten – auszusprechen?«

»Sie formt die Worte nach einer Augenblickslaune,« dachte Otten, und laut sagte er: »Es gehört eine große Verlassenheit oder ein großer – Haß dazu.«

»Haßt er mich nicht?«

»Es ist wahr,« dachte Otten, »er haßt sie nicht minder. Irgendwo brennt es, und irgendwo ist der Widerschein.«

Sie las ihm seine Gedanken ab. »Ich weiß, daß er herumgeht und Menschen, denen ich näher treten könnte, gegen mich einzunehmen versucht. Er wird bei dir keine Ausnahme gemacht haben. Nun, gib Antwort: wer verleiht dem Haß Gestalt? Wer ist der leidende Teil? Wer hat nötig, einen Freund ganz für sich zu beschlagnahmen, ganz für sich, damit das Leben wieder neuen Aufschwung nimmt? Du kennst mich jetzt zur Genüge, um selber urteilen zu können. Bin ich so abschreckend?«

»Du bist eine Hexe.«

»Bleib ernst. Du bist viel zu ritterlich, um nicht zu entscheiden, wo das Recht steht. Und wo das Recht steht, da stehst du. Da steht deine Freundschaft ungeteilt.«

»Und doch wiesest du die Anrede ›Freundin‹ zurück?«

»Dann nicht mehr. Denn dann hat das Wort die Skala der Töne, und ich suche mir meinen Ton.«

»Liebe, arme Freundin,« sagte er zärtlich.

»Nein – reiche!« ... Sie legte ihre Hand auf seine Augen und ihre Lippen fest auf seinen Mund. Und es war ein Zauber im Walde wie vor verwehten Jahrhunderten, da der Mönch von Heisterbach grübelnd durch den Wald schritt, den Sinn des Wortes zu ergründen: Tausend Jahre wie ein Tag – – –. Schulter an Schulter wanderten sie schweigend den Weg entlang, und das Staunen des Waldes lief hinter ihnen her. Frau Amely ging mit heimlich glänzenden Augen und hoch erhobenem Haupt, und auf Ottens kühnem Gesicht lag die Sonne des Frühlings, den er aus dem Walde heimtrug. Es dämmerte, als sie Königswinter erreichten. Sie banden das Boot los und kreuzten über den Rhein, dem Ufer von Godesberg zu. Aber sie mochten nicht landen. Immer stiller wurde es auf dem Wasser, immer stiller das Gestade auf und ab. Der frühe Mond stieg feuriggelb über die Ruine des Drachenfels hinaus, und sein Licht gab Himmel, Strom und Gelände einen mystischen Glanz. Die Spur, die der Nachen zog, war wie rieselndes Silber. Wenn sie die Hände ins Wasser tauchten, die sich gleich zueinander fanden, lag auf der Haut ein silbernes Scheinen. Und wenn sie sich zueinander beugten, sahen sie das silberne Glänzen tief in ihren Augen. Bis Frau Amely unter einem mahnenden Nachthauch erschauerte. Da drehte er das Steuer, ließ die Segel beifallen und glitt an den Strand, der den Parkrand der Villen bespülte.

Sie sprang aus dem Boot, stand einen Augenblick, als ob sie sich besänne, und dehnte dann mit einer weit umfassenden Bewegung die Arme gegen den bestirnten Himmel. »Ah – –,« sagte sie, »schön – – ...!« Und ihre Stimme hatte einen dunklen, vibrierenden Ton.

»Komm hinein. Die Abendkühle ist nicht für dich.«

»Für uns beide nicht.«

Und sie gingen durch den Park und den Garten der Terrasse zu. Die Halle war erleuchtet. Der Diener kam und fragte nach den Befehlen.

»Wir haben schon zur Nacht gespeist. Es ist gut. Keine Briefe?«

»Eine Depesche, gnädige Frau.«

Sie nahm sie und wartete, bis der Diener gegangen war. Dann öffnete sie, las und reichte das Papier an Otten. Ihre großen, grauen Augen hingen an seinen Mienen. Er ließ das Papier sinken. »Was nun?«

»Was nun?« wiederholte sie. »Im Text steht es deutlich geschrieben: ›Bleibe ein paar Tage länger. Fahre nur über den Kanal und wieder zurück. Das Geschäft will es. Erwartet mich in Godesberg. Lüttgen.‹ Wir werden ihn also erwarten.«

»Das geht unmöglich.«

»Fürchtest du dich?«

»Ja, ich fürchte – mich.«

»Freilich – wir tragen die Verantwortung, wenn wir aus der Rolle fallen.« Sie zuckte mit den Augenbrauen und schritt an ihm vorüber. »Wie schwül es hier ist ...« Und sie öffnete weit die Tür zur Terrasse und lehnte sich an den geschnitzten Pfosten. »Das war ein kurzer Tag.«

»Es gibt Tage, die man nicht mit der Elle mißt, sondern mit dem Senkblei.«

»Hast du schon Grund? Wenn ich so geringe Tiefen habe, lohnt es wirklich nicht, und du hast recht.«

Er sah zu ihr hinüber und lächelte. Und während er lächelte, sah er, wie schön sie war. »Deine Melancholie ist ein Fallstrick, und dein Zorn ist es auch. Jetzt wirst du noch an meine Ritterlichkeit appellieren.«

»Ich appelliere nicht.«

Er ging durch das Zimmer und nahm vom Flügel eine Mandoline. Leise strich er mit dem Finger darüber, horchte auf und stimmte wieder. Es war ganz still.

»Ich möchte gern eine Stimme hören, und wenn es die meine wäre.«

Von der Tür kam keine Antwort.

»Damit wir wissen, daß wir nicht gestorben sind.«

Sie rührte sich nicht.

Er zog einen Stuhl heran, setzte sich rittlings darauf und legte die Arme über die Lehne. »Es war in Neapel. Ich saß am Meer, vor einem Hotel der Via Partenope. Das Herz pochte und stellte tausend Fragen, die ein Mann allein gar nicht beantworten kann. Da sang ein junges Frauenzimmer ein Bänkelliedchen ...«

Er präludierte und sang mit halblauter, werbender Stimme:

» Tre volte voi ho visto e sono perdutto,
E mille volte a voi ho pensato.
Tre volte vostra mano ho stretto,
E mille volte la mia ho vasato ...
Signora, dite: ›Si‹,
A voi non costa niente,
Una occhiata solamente,
Capisco io che vol dire.
«

Schritt für Schritt war sie ins Zimmer gekommen. Jetzt lehnte sie an seinem Stuhl. »Was sagt das Liedchen?«

»Das Liedchen? Der Sänger! Er sagt und klagt: ›Dreimal habe ich Euch gesehen und bin verloren, und tausendmal hab' ich an Euch gedacht. Dreimal habe ich Eure Hand gedrückt und tausendmal die meinige gesegnet. Signora, sagt doch ja! Euch kostet es nichts. Einen Blick nur – und ich verstehe, was er sagen soll.‹« Durch die offene Tür strömte der deutsche Frühlingsabend.

»Ich möchte von dir Italienisch lernen,« sagte sie leise. »Italien ist für unsere Art die einzige Heimat.«

Er strich über die Saiten, daß sie silbern klangen.

Signora, dite: ›Si‹ ...«

Sie nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände. »Geh nicht fort.«

Er wiederholte den Refrain, mit geschlossenen Augen, und ein glückliches Lachen um den Mund. Seine Seele schweifte am blauen Mittelmeer und weckte Träume auf.

»Geh nicht fort – –.«

Er schüttelte übermütig den Kopf, sang und spielte. In der Ferne verlor sich das Raunen des Rheines, aus dem Garten zog der Blumenduft zu ihnen herein, und die Nacht war weich wie ein verschleierter Frauenblick.

»Jetzt sind wir ganz allein auf der Welt,« sagte Frau Amely ...



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