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II

Im ersten Stockwerk des Ottenschen Hauses waren seit Beginn der Dämmerung die Rouleaus herabgelassen. Die rotbeschienenen Säume verrieten, daß in der Wohnung frühzeitig die Lichter angezündet worden waren. Hin und wieder zeichnete sich hinter den Vorhängen der Schattenriß einer Frau, der erst kürzer, dann länger verweilte und sich wieder verlor ...

Der alte Klaus hatte in der Haustür seine Pfeife ausgeraucht. Während er von dem langen, dünnen Tonstiel ein Stück abbrach, um ein frisches Mundstück zu bekommen, trat er auf die Gasse und blinzelte zu den Fenstern des Stockwerks hinauf. Kopfschüttelnd stopfte er mit dem Daumen den Pfeifenkopf, brachte den überflüssigen Tabak sorgsam wieder in der Hosentasche unter, knickte ein Bein, um an dem gespannten Schenkel ein Schwefelholz in Brand zu setzen, schmatzte den ersten Rauch aus dem Rohr, spuckte und ging kopfschüttelnd ins Haus hinein. Als sich die Haustür schloß, erschien hinter dem beleuchteten Vorhang hastig der Frauenschatten, verharrte einen Augenblick reglos und schwand.

Von den Türmen der Stadt schlug es halb acht Uhr. Die hohe Kastenuhr im Eßzimmer der Wohnung tat gleichzeitig einen dumpfen Schlag. Die Frau, die an der geschweiften Säule des breiten, flämischen Büffetts lehnte, hob einen Moment den Kopf, als ob noch etwas folgen müsse. Und schon pinkte hell aus dem Nebenzimmer eine Rokokouhr.

»Alles geht seinen geregelten Gang,« dachte sie und legte die Hände wie einen Reif um die Stirn, als sollten widerspenstige Gedanken zur Ruhe gebracht werden. Dann ließ sie müde die Arme sinken.

»Er kommt nicht,« sagte sie laut. »Nun könnte ich eigentlich die Lampen löschen.«

Ihr Kleid raschelte, als sie ein paar Schritte tat. Sie sah an ihm hinab. Es war ein weißer Brokat, der die kräftige Gestalt fest umschloß. Ohne einen Ausschnitt zu zeigen, ließ er den Hals frei. Eine Kette großer, blaßroter Korallen hing über der Brust. Nur dieser eine, erlesene Schmuck.

Sie strich mit der Hand über den Stoff.

»Wie lang' ist das her,« kam ihr in den Sinn, »daß ich dies Kleid zum erstenmal trug. Er wollte mich in keinem anderen sehen. Jedesmal sollte ich es tragen, wenn er heimkehrte, jedesmal wie eine Braut ... Das Kleid ist wie neu geblieben. Ich hab' es also nicht oft zu tragen' gehabt.« –

»Ach, nicht so!« wies sie sich selbst zurecht. »Ich hab's gewußt. Und ich freu' mich doch, daß es so ist, wie's auch ist.«

Sie ging in ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen durch das Zimmer. Ihre Augen hatten den Hausfrauenblick zurückgewonnen, und ihre Hände suchten Beschäftigung, rückten an den blumengefüllten Kristallvasen, dem schönen Tafelporzellan, und ruhten nicht, bis eine neue Harmonie die festliche Anordnung schmückte. Von der Balkendecke herab streckte der massive Leuchter sechs lampenbewehrte Arme ins Zimmer. Alle Lichter brannten. Der ganze Raum war voll Erwartung.

Als die Frau den Blick hob, ging ein Lächeln über ihr Gesicht. An der Wand hing ein Bild, das Bild eines Mannes in Havelock und Schlapphut. Aus lachenden Augen schaute er in die Welt.

Sie trat näher heran. Sie betrachtete es, als wäre es ihr ein Neues.

»Man kann das Bild nicht ansehen, ohne froh zu werden ...«

»Liebster – –«

Dann wandte sie sich zum Tisch zurück, hob die Arme und drehte die Gashähnchen der Lampen ab. Bei der letzten zögerte sie, und der Arm blieb gereckt. Leise knisterte an ihrem Leib die Seide.

»Vielleicht kommt er doch noch. Dann soll es wenigstens nicht ganz dunkel sein in seinem Haus.«

Und noch einen Blick über die Tafel werfend, ging sie mit ihrem ruhigen Schritt ins Nebenzimmer, setzte sich an ihr Arbeitstischchen und nahm ein Kinderkleidchen in den Schoß, das der Ausbesserung bedurfte.

Acht schlug es von den Türmen, und dumpf und hell befleißigten sich die Uhren in der Wohnung, nicht hinter den beamteten Kameraden zurückzubleiben.

»Jetzt hat er die ersten Lieder gesungen,« sagte die Frau und ließ die Arbeit sinken. »Nun wird er gefeiert ...« – »Gott im Himmel,« unterbrach sie sich, »acht Uhr! Und Carmen ist noch nicht im Hause. Wie konnt' ich nur über den Vater das Kind vergessen.«

Sie öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Die Rheingasse lag still. Sie horchte angestrengt in das Dunkel, aber nur das Rauschen des Rheinwassers, das gegen das Bollwerk schwankte, fing sie auf.

»So lang' ist sie doch noch nie ausgeblieben,« murmelte sie. »Und gerade heute ... Wär' doch das Kind hier.«

Noch ein paar Minuten blieb sie. Dann schloß sie das Fenster. Sie schauerte in den Schultern und wußte nicht, ob es von der Winterluft oder einem Angstgefühl kam. »Gerade heute ... Ich hätte es daheim halten sollen. Wenn er nun gekommen wär'!« Dabei fiel ihr der alte Klaus ein, und sie atmete erleichtert. »Er wird das Kind bei sich haben. Nun wird's aber Zeit, daß ich es hol' – –«

Der alte Klaus Gülich saß in seinem Stübchen zu ebener Erde, das ihm als Hausmannswohnung angewiesen war, spießte mit dem Taschenmesser das letzte Stückchen eines Käses auf und schaute dabei verlorenen Blickes in sein Schoppenglas Wein. Irgend etwas suchte er in seinen Erinnerungen, und das forderte Zeit, denn er hatte auf ein langes Leben zurückzuschauen und war ein gutgerechneter Siebziger.

»Ja,« nickte er vor sich hin, »die hätt' ming Frau werde müsse, dat wor ene leckere Puht. On lew hat die mich gehatt, esu lew wie keen Minsch op der Welt. Wenn ich mich doch, Düwel noch ens, op ehre Name besinne künnt'!«

Es klopfte. Und gleich ein zweites Mal.

»Angtreh!« rief er ärgerlich und streckte das Kinn vor.

»Guten Abend, Klaus. Ist das Kind bei Ihnen?«

»Uns' Carmche?«

»Also auch hier nicht. Und es ist acht Uhr vorbei. Es wird ihm doch nichts zugestoßen sein? Klaus, was meinen Sie?«

»Ich meine, et Carmche is augenblicks lebendiger als sing Mutter.«

»Wissen Sie das bestimmt?« Sie legte dem Alten die Hand auf die Schulter, und der Alte spürte durch das gestrickte Kamisol, wie diese lange, schlanke Frauenhand zitterte.

»No, no, no,« beschwichtigte er und erhob sich so schnell, wie es ihm die müden Füße erlaubten. »Wat sinn denn dat för Sache? Jung' Frau, jung' Frau! Dat wor doch früher uns' Art nit? Nerve! Setzen Se sich ens en der Sessel. Su, ganz gemütlich – –«

Sie ließ es sich gefallen, daß er sie in den Sessel drückte. In ihrem weißen Kleide saß sie und bot ein seltsames Bild zu der schlichten Umgebung.

»Nun sagen Sie, wo Sie Carmen gesehen haben.«

»Se is mit Terbroichs Laurenz op der Heumarkt gelaufe. Auch möglich, zum Gürzenich. Un weil ich den vörwetzige Rotzjung, den Terbroichs Laurenz, nit leide mag, hann ich den Lachners Moritz hingerhärgeschickt. Dä paßt op.« Und mit väterlicher Fürsorge fuhr er fort: »Sie dürfe sich beruhige, Frau Otten. Et passiert nix.«

»Ich schäm' mich,« sagte sie plötzlich. »Ich darf doch nicht die Ruhe verlieren.«

Der Alte sah sie respektvoll an.

»Un do meint manch eine, dat wör alle Dag Zuckerlecke, Danze un Kirmeß.«

»Es ist viel mehr, Klaus.«

»Sie hann ooch nix öwermäßig zo lache.«

»O doch, das wißt ihr andern nur nicht.«

»Jung' Frau,« meinte der Alte ruhig, »wenn ich dodrop et heilige Sakrament nehme künnt', säßen Sie jetz nit beim ahle Klaus em Stübche.«

Einen Augenblick blieb es still zwischen ihnen. Dann sagte die Frau mit dem Versuch eines scherzenden Lächelns: »Sie haben mich vorhin wohl belauscht? Klaus, das war die Vorfreude.«

»Der Herr Joseph is äwwer nit gekumme,« beharrte der Alte.

»Er hat nicht gekonnt, Klaus. Gestern hat er in Frankfurt gesungen und bis vor wenigen Tagen in München. Ich hab' doch einen Brief bekommen, in dem er mir alles schrieb.«

»Der Herr Doktor is zwei Johr von Kölle fort gewese. Da is et mit enem Breef nit gedonn.«

»Ach, Klaus, er wollte ja auch vor dem Konzert noch herkommen, wenn er den richtigen Zug bekäm'. Aber die Menschen hängen sich ja alle so an ihn und wollen ihn feiern. Das seh' ich ein.«

»Ich nit, ich weiß Gott nit. Een Stündche hätt' hä sich schon abspleiße könne.«

»Für so kurze Zeit will er den Haushalt nicht beunruhigen.«

»Un die Haus frau? Die duht er auf die Weis' weniger beunruhige.«

»Ach, Klaus, die Hausfrau – –«

Der Alte stutzte. Er blinzelte ein paarmal mit den Augen und blickte in die Stubenecke.

»Ich bin seine Cousine. Daß ich ebenfalls Otten heiße, macht die Sache nicht anders.«

»Ihr seid sing Frau. Cousine kennt der Joseph Otten nit.«

»Nein,« sagte sie, und es flog ein Schimmer über ihre Augen, »die kennt er nicht.«

Der Alte sah verblüfft auf. Dann kratzte er sich hinter den Ohren. »Ich hann woll jet Dommes gesagt?«

»Nein, nein. Es war schon recht so. Seine Frau bin ich, und ich hab' ihn und die Carmen. Das ist ein glückliches Gefühl, Klaus, und ich hab's immer und immer, auch wenn er jahrelang fort ist. Gerade deshalb. Da hab' ich für ihn mitzusorgen, denn ohne Sorge kann ich doch nicht sein. Er ist ein Wandervogel, Klaus, er muß in alle Welt schweifen und singen, singen und weiter schweifen, aber wenn er heimkommt, bringt er auch das Glück der ganzen Welt ins Haus. Welche Frau kann das sagen ...?«

»Sie haben ihn arg lieb, den Jupp,« sagte der alte Klaus. Er hatte hochdeutsch sprechen müssen.

Sie lehnte sich zurück, damit er ihr Gesicht nicht sähe. Die Seide spannte sich. Es war Kraft in dem Frauenkörper.

»Und Sie – Klaus?«

»Ich hann ihn doch schon zu de Nönncher gedrage, als ha noch en Dotz wor un et Stillsitze lerne sollt.«

»Er hat es nicht gelernt, Klaus.«

»Enä. Un öwer et Paternosterbete is hä auch nit herausgekomme.«

»Manchen schadet das nicht, Klaus. Es gibt Menschen, die können tun, was sie wollen, und es ist, als trügen sie ein heimlich Gebet in sich. Da wird schön, was bei anderen häßlich wäre.«

»Mr nennt dat: eine Schutzengel. Äwwer de Schutzengel sinn Sie.«

Sie schüttelte nur den Kopf.

»Das steckt im Menschen selbst drin. Das ist das Geheimnis unseres Herrgotts, weshalb. Wir sollen nicht fragen und doch glauben. Glaube macht selig. Ich bin's.«

»Nä, nä,« sagte der Alte zweifelnd, »ich würd' doch lewer ens beim Jupp op der Busch kloppe. Hä wor fröher schon ene Dorchgänger.«

»Und doch haben Sie ihn gern gehabt.«

»No ja, hä wor ooch keene gewöhnliche Dorchgänger, hä wor su ene staatse Dorchgänger. Ohne Fisimatente. Hä däht niemals die Unwohrheit sage, ooch als Jung nit. Wenn se ihn attrapierte, sagt hä geradheraus: Geweß, so is dat gewese. Un dann lachten hä, und et blew nix anders öwrig, mer moßt mitlache.«

Die Frau im Sessel hatte seltsam strahlende Augen bekommen. Sie sah einen wilden Jungen vor sich.

»Als er zu uns nach Koblenz kam, Klaus, war er schon der berühmte Doktor Otten, von dem alle Zeitungen schrieben. Nicht immer gutes. Aber daraus machte er sich nichts. Dickköpfen muß man eine Sache hundertmal sagen, bevor sie dahinterkommen, meinte er, wenn es Angriffe regnete. Man muß die Menschen zu ihrem Glück zwingen. – Mich hat er nicht zu zwingen brauchen. Als er es einmal sagte, glaubte ich es.«

»Su ne Hanak!« lobte der Alte den jungen Freund. »Mr konnt ihm nix affschlage.«

»Sie haben die ganze Jugend mit ihm verlebt, Klaus.«

»Ich wor zuerst beim ahle Otten Knecht op enem Kohlenschiff. Später word ich von der Firma als Schiffer angestellt. Och, jung' Frau, un wenn ich dann mit mingem Schiff im Hafen lag, am Bayeturm, dat wor en Gedöhns. Dann kamen der Jupp mit singer Freundschaft, un ich moßt Harmonika spille un ihne Schabau zu drinke gewe un allerhand Stückelcher un lustige Krätzcher verzälle, un zum Schluß dähte se et ganze Schiff op der Kopp stellen. Wenn ich se denn flöck beim Schlafittche nehme wollt, sprung der Jupp – ich kreeg als immer ene Schlaganfall – in Hos und Kamisol pardautz in et Wasser, un singe beste Kamerad, der Drickes, der Kochs Heinrich, der heut geistlicher Här un Professor is, pardautz hinger ihm drein, im Lewen un im Sterwen, un wuppdich krabbelten se in der Nache, dä am Schiff hing, sägten mit ihre Taschenmetz dat Tau dörch, packten de Ruderstang un gingen heidi. Dazu dähten sie dat Räuwerlied singe: ›Ein freies Leben führen wir!‹ Nor der Dritte von dem Kleeblatt, der Medardus Terbroich, der seinen Här von der Ringstraß, dä esu fromm is un su ville Milliöncher us singe Arbeiter rusquetscht, dat wor als früher ene heimtückische Grielächer. Meist wor er der Anführer, wenn et galt, mr ene Schabernack zu spille, un wenn hä dat Kreppchen glücklich eingerührt hatt' und der Jupp un der Drickes woren als im Wasser, wofor die Bangbüx en Scheu hatt', un ich kamen herangelaufen, ihn zu versolle, maacht der Medardus esu e spitz Gesicht und unschullige Äugelcher und säht seelenruhig: ›Sieh, Klaus, dort flüchtet das böse Gewissen. Ich hann et nit gedonn. Ich gönn fott.‹ Wupp, wor he weg.«

Die Frau im Sessel lächelte. Sie hatte nur die Hälfte von der Erzählung gehört. Sie sah den wilden Jungen vor sich und horchte auf seine Stimme.

»Haben Sie ihn denn nie verprügelt, den Joseph?«

Der Alte lachte in sich hinein. »Ach Frau, de Jupp kannt' ming schwache Seit'. Ich heißen doch Klaus Gülich. Un de Gülichs waren als kleine Leut' bereits vor ville hundert Johr in Kölle. Un et is als arg lang her, do hät ein Nikolaus Gülich, ein Manufakturwarenhändler, Rebelljon in Kölle gemach' un die vornehme Häuser plündere un Ratsherre verhafte und köppe lassen. Bis et Blättche sich gewandt hat un der Nikolaus Gülich sich attrapiere ließ. Op enem freie Platz, der danach der Gülichsplatz genannt worde is, is dann der große Verbrecher sälwer geköppt worde. AÄwwer weil hä esu 'ne Berühmtheit gewesen is, hann die Kölner ihm en Säul' op der Gülichsplatz gesetzt, obe dropp der affgeschlagene Kopp in Bronce. Un ich hann als noch en ahl Buch, dat is mr heilig wie die Bibel, denn dadrin steht et zu lesen: ›eine Säule zu des Ächters ewiger Schande mit einer Aufzählung der Untaten und Verbrechen desselben allda errichtet.‹ Dat Buch hann ich geerwt, un dat is e Glöck, denn als die Franzose nach Kölle kumme sin, die gerad ihre König geköppt hatte, wollten sie dat mit de Säul' nit un hann se ömgestürzt, un de schöne Broncekopp, dä doch von rechtswege in der Familig hätt' bleiwe müsse, is nach Paris gekumme. Un op den ahl Nikolaus Gülich bin ich arg stolz gewesen, un der Jupp hat dat gewoß', un nach jedem schläächte Uz is der Jupp gekumme und hat mich beim Händche genomme un gesagt: ›Flöck, Klaus, jetzt gönn mr op der Gülichsplatz. Da mußte mr von dingem Ahnherr verzälle. Ich kann et als garnich erwarte.‹ – Dä Nixnotz!« – »Und dann hat er in Bonn und Leipzig studiert,« nahm die Frau nach einer Weile das Gespräch auf, »Geschichte und deutsche Literatur, und ist der Doktor Joseph Otten geworden.«

»Ja, ja ... Phantasie hät hä gehatt.«

»Und überall in Deutschland hat er Vorträge gehalten, und überall war ein Aufsehen, weil er die Seele der Gedichte lebendig machen wollte über die Form.«

»Dat verstonn ich nit.«

»Vom Gedichte-Rezitieren kam er zum Lieder-Gesang. Den alten Singsang reformieren wollte er, die Töne wieder mit Gedanken füllen. Da hat er aufs neue studiert und studiert, bei den großen Meistern in Frankfurt und in Mailand, denn er mußte alles kennen lernen und ließ nicht ab, bis er alles kannte. Zehnmal soviel hat er gearbeitet als die anderen, und als es ihm gelungen war, nannten es die Trägen und die Gedankenlosen – Glück!«

»Un wenn et so wör! Stolz is hä nit geworde, de Jupp, ene echte Köllsche Jung mit dem Härz op dem rechte Fleck is hä gebliwwe. Wie der ahl Otten gestorwe is un die Firma is opgelöst worde, da hat hä zuerst an mich gedacht. ›So, Klaus,‹ säht der Herr Doktor, ›jetz bis du minge Hausverwalter. Un wenn du nix zu donn häs, kannste de Fremden op dem Rhein erömgondeln. Den Nachen kannste behalten.‹ Nee, nee, nix op minge Jupp Otten.«

Die Frau im Sessel beugte sich vor. Sie zählte die Glockenschläge. »Neun Uhr, Klaus. Jetzt halt' ich's nicht mehr aus.«

Der Alte nahm seine Schiffermütze vom Riegel. »Bong. Ich gonn ens zum Lachner in de Obenmarspforten, nachkucke.« Da wurde heftig an der Hausschelle gezogen. Der alte Klaus hängte seine Mütze wieder an den Riegel. Die Frau war schon auf dem Hausflur.

»Kind – – Kind – –,« brachte sie nur hervor, nahm das Mädchen bei der Hand und lief mit ihm die Treppe hinauf.

»Mutter! Hör doch! Ich hab' den Vater gesehen!«

»Komm, komm – –!«

Oben in ihrem Zimmer kniete sie vor der Kleinen nieder und nestelte ihr das Mäntelchen aus. »Mir solch eine Angst zu machen. Wegzubleiben. Ohne Erlaubnis ...«

»Aber ich hab' doch den Vater gesehen!«

»Das konntest du doch gar nicht wissen, als du fortliefst. Ich hab' dir doch nichts gesagt.«

»Ja, weshalb hast du mir denn nichts gesagt?«

»Weil der Vater dich überraschen wollte. Weil er sehen wollte, wie artig du seist. Ganz erfrorene Hände hast du und dazu die heißen Backen. Wo bist du denn nur gewesen?«

»Am Gürzenich, den Vater sehen,« beharrte sie.

»Aber doch nicht bis jetzt, Kind. Das ist doch schon so lange her.«

»Dann sind der Laurenz Terbroich und ich auf der Hohestraße gewesen. Der Laurenz wollt' mir die schönen Läden zeigen mit den Weihnachtsausstellungen.«

»Herrgott, in dem Gewühl!« Und plötzlich schlang die Frau die Arme um die feingliedrige Kindergestalt.

»Hast du denn gar nicht an deine Mutter gedacht, Carmen; gar nicht an deine Mutter?«

»Du hatt'st ja den ganzen Tag keine Zeit für mich gehabt.«

»Das ist meine Strafe,« murmelte die Frau, strich sich mit der Hand über die Augen und erhob sich.

»Carmen,« sagte sie ruhig, »du wirst das nie wieder tun. Nie mir wieder Sorgen machen. Du bist doch mein großes, vernünftiges Mädchen und weißt, daß die Mutter dann allein ist. Ich will dir heute die Strafe erlassen. Aber nie wieder etwas tun, ohne daß die Mutter davon weiß. Ich hätte doppelt darunter zu leiden. Und nun schnell deinen Kakao. Und dann ins Bett.«

Als die Mutter nach einer Weile mit der dampfenden Tasse aus der Küche hereinkam, saß die Kleine, die Arme aufgestemmt, am Tisch und baumelte mit den Beinen.

»Du, Mutter, ich stand ganz vorn, als der Vater am Gürzenich vorfuhr. Er hat mich erkannt.«

Die Tasse zitterte und klirrte ein wenig, als sie hingesetzt wurde. »Woher willst du das wissen ...?«

»Er hat mir zugenickt und gelacht.«

»Und – gelacht – –?«

»Weil er sich so gefreut hat, mich zu sehen.«

»Und – und gesprochen hat er nicht mit dir?«

»Du, Mutter, er kam ja schon zu spät. Alle Leute waren schon drin im Saal. Hundert Wagen sind vorgefahren. Und die Leute waren so fein wie bei 'ner Hochzeit.«

»Er kam zu spät,« wiederholte die Frau und atmete tief. »Ich wußte ja, daß er keine Zeit mehr gehabt hatte.«

»Und so viele Leute standen vor dem Gürzenich, Mutter. Nur um den Vater zu sehen. Und als er hineinging, riefen sie alle: ›Guten Abend, Herr Doktor Otten!‹ Und da hat er wieder gelacht.«

»Hat er wieder gelacht? So fröhlich war der Vater?«

»›Guten Abend, Herr Doktor Otten,‹ riefen sie alle.«

»Da warst du wohl stolz – –?«

»Er war aber auch der schönste,« und sie aß das letzte Stück Zwieback.

»Du eitler Narr,« sagte die Frau und fuhr dem Kind durch die schwarze Lockenfülle. Ihre Augen sahen in die Weite und trugen wieder den seltsamen Schimmer. – –

»Mutter,« begann die Kleine aufs neue, »das ist aber doch nicht wahr?«

»Was soll nicht wahr sein, Kind ...?«

»Was der Laurenz gesagt hat.«

»Und was hat der Laurenz gesagt?«

»Er hat gefragt, und der Moritz war dabei: ›Ist denn der Herr Doktor Otten überhaupt dein Vater?‹«

Die Frau fuhr zusammen. Ihre Gesichtszüge strafften sich. Sie tat sich Gewalt an, den furchtbaren Schrecken zu bemeistern. »Was – ist das? – Was führt ihr – für Gespräche?«

»Der Laurenz hat gesagt: Künstler hätten nie richtige Frauen und daher auch keine richtigen Kinder.«

»Und da – hast du mit dem ungezogenen Jungen noch gespielt – und bist mit ihm auf die Hohestraße gelaufen?«

»Das war doch nachher. Vorher hab' ich ihn gekratzt und ihn in die Haare gerissen.«

»Und der Moritz – ?«

»Der hat mir geholfen.«

»Da siehst du es,« sagte die Frau und zwang den erregten Atem. »Da siehst du es. Der Moritz ist älter und vernünftiger. Der hat seinen Vater lieb. Und wer seinen Vater lieb hat, der weiß überhaupt gar nichts anderes. Der würde sich schämen, auch nur im Scherz über seinen Vater zu sprechen. Und gar über deinen Vater ...«

»Mutter,« rief die Kleine erschrocken, »ich hab's ja auch gar nicht getan! Und der Laurenz hat sich nur geärgert, weil ich gesagt hab', mein Vater wär' mehr als der seine. Gelt, Mutter, das ist er auch?«

»Ach, du!« stieß die Frau hervor, griff mit beiden Händen den Kopf des Kindes und preßte ihn gegen ihre Brust.

Die Kleine lag ganz ruhig. Sie fühlte sich wohl an der weichen, schwellenden Mutterbrust, in der es so geheimnisvoll klopfte und pochte. Und der kühle Seidenstoff schmeichelte ihrer Wange.

»Wie schön bist du, Mutter. Weshalb hast du dich so schön gemacht?«

»Weil der Vater kommt.«

»Dann mußt du mich aber auch schön machen.«

»O, du liebe Eitelkeit, ich bring' dich jetzt ins Bett.«

»Wird der Vater denn an mein Bett kommen?«

»Gewiß, gewiß, er wird an dein Bett kommen.«

»Dann mußt du mir aber ein frisches Nachtkleid anziehen. Und die rote Schleife ins Haar!«

»Willst du dann aber auch einschlafen?«

»Wenn ich kann – –.«

»Ich hol' es dir herunter. Lauf in die Küche und zieh dich aus. Dort ist es wärmer. Ich werde dich schnell noch waschen. Aber ganz schnell, damit der Vater uns nicht überrascht.«

»Ich muß ihr heute den Willen tun,« beruhigte sie sich, als sie in der Giebelstube das neue Nachtkleidchen hervorholte, und eine feine Röte kam und ging auf ihrem Gesicht. »Ich mach' es ja selbst nicht besser ...«

Carmen stand bereits ausgezogen vor einer kleinen Blechwanne, die sie voll Wasser gefüllt hatte. Die Tropfen spritzten um ihre schlanken, gelenkigen Glieder. »Du brauchst mir nicht zu helfen, Mutter, ich bin schon fertig.«

»Ich reib' dich ab. Du bist ein Leichtsinn.«

Sie hüllte den schauernden Kinderkörper in ein Badetuch, hob ihr Kleid, als sie auf einem Vorlegeteppich niederkniete, und rieb die Kleine trocken. Durch das Tuch spürte sie bald die Wärme der Glieder. Da warf sie das Tuch beiseite, zog mit einer heftigen Bewegung das zappelnde Kind an sich und bedeckte es mit Küssen.

»Was ist das nur,« schoß es ihr durch den Sinn, »daß man sein Kind so lieb hat? Ist es das Kind selbst? Oder ist es der Vater –?«

»Abmarschiert,« sagte sie und schloß den Knopf des Nachtkleidchens.

»Noch die rote Schleife, Mutter.«

»Schön, auch noch die Schleife.«

»Der Klaus soll mich herauftragen.«

»Kind, jetzt gibst du Ruhe. Du mußt den Abend nicht so ausnutzen.«

»Aber wenn der Klaus mich heraufträgt, schlaf' ich auch schneller ein.«

»Versprichst du mir das?«

»Ja – – – er soll mir nur noch eine Geschichte erzählen.«

Sie ging zur Tür. »Nur damit der Joseph alles in Ordnung findet,« gestand sie sich. Und sie rief in den Hausflur hinab: »Klaus – Klaus, sind Sie noch auf?«

»Wat sall et sinn, jung' Frau?« scholl es herauf.

»Klaus, die Carmen will sich nur von Ihnen ins Bett bringen lassen.«

»Op der Stell' kommen ich.«

Der Alte kam steifbeinig die Treppe herauf: »Wo is dat Mamsellchen?«

»Hier!« rief die Kleine und stellte sich in Positur.

»Donnerlütsch,« wunderte sich der Alte und schlug die Hände zusammen, »dat is doch nit uns' Carmche, dat is doch e Engelche!«

»Gelt, Klaus? Schön?«

»Es ist ein unartiges Engelchen, Klaus, und quält seine Mutter. Bringen Sie sie schnell fort.«

»Na denn allong!«

»Huckepack!« befahl die Kleine, und der Alte bog schmunzelnd den steifen Nacken und ließ sie aufsitzen. Doch plötzlich warf sich das Mädchen so jäh herum, daß der Alte nur mit Mühe die Beine erwischen und an sich drücken konnte.

»Mutter! Gute Nacht, Mutter!« Sie umschlang sie und küßte sie stürmisch. Auf die Augen, auf den Mund, auf die Seide, die sich über ihrer Brust spannte. »Du! Liebe, Liebe, Liebe!« Und aufjauchzend ließ sie sich die Treppe hinauftragen.

»Erzählen!« befahl sie und streckte sich in ihrem Bettchen.

Und der alte Klaus setzte sich geduldig auf den Bettrand und begann: »Es waren einmal ein klein, nackig Engelchen –«

»Das ist doch eine Kleinkindergeschichte. Schäm dich doch, Klaus.«

»– und das klein, nackig Engelchen sagten zu einem alten Mann: Hä sall sich jet schamen. Als das aber der liebe Gott hörten, da sagten der liebe Gott: Pfui Deuwel!«

»Das ist nicht wahr. Der liebe Gott nimmt den Namen des Teufels nicht in den Mund.«

»För gewöhnlich maag dat sing Richtigkeit hann. Äwwer wenn der leewe Gott ens in Wut kütt wegen Ongezogenheiten von singe Menschekinder, dann säht hä dat Schläächteste, wat hä kennt, un dann säht hä: Pfui Deuwel!«

Die Kleine hatte sich den Schluß des pädagogischen Vortrags geschenkt. Sie war eingeschlafen.

Und unten in ihrem Zimmer stand die Hausfrau, erregt noch immer von den ungestümen Liebkosungen des Mädchens, erregter noch von dem, was es gesagt hatte.

»Sie wird es morgen vergessen haben,« murmelte sie. »In ihrem Alter verwischen sich Eindrücke schnell. Aber sie wächst heran – –«

Durch die geöffnete Tür sah sie in das geschmückte Speisezimmer, aus das unbekümmerte Männerbildnis.

Die brautweiße Seide an ihrem Körper knisterte, als sie den Kopf hob.

»Komm bald, Joseph – –« – –



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