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XVIII

Der Tauwind hatte sich stärker erhoben. Kurze, gellende Pfiffe stieß er zwischen den Pappeln aus, und über die platten Kronen der Weidenkrüppel fuhr er in zornigem Summen. Die Luft war voll eifernder Stimmen, und wie von Jägerrufen angefeuert, hetzten sich die Wolken, fraßen den Mond, spieen ihn aus und verschlangen ihn aufs neue. Und im jähen Wechsel des auf- und untertauchenden Lichtes wuchsen die Schatten aus den schneenassen Rheinwiesen ins Ungeheure, bekämpften sich, quirlten durcheinander und verschwanden spurlos im Nichts, um an anderer Stelle aufzutauchen, lautlos zu ringen und wieder zu verschwinden.

»Maria!« rief Otten. Und das Lachen des Windes flog ihm um die Ohren.

Hier, dort, überall glaubte er sie zu sehen. Die Schatten äfften ihn. Weiter, weiter! Und geradeaus nahm er den Weg zum Rhein. »Ich muß Posten fassen,« sagte er sich, »ich muß eine Übersicht gewinnen.«

Der Strom war erreicht. Um ihn her war ein Lärmen wie in einer brausenden Volksversammlung. So weit der Blick reichte, zog sich das festlagernde Packeis das ganze Ufer entlang und lastete in vieler Meter Breite in den Strom hinaus. In der gewaltigen Mittelrinne aber herrschte chaotisches Leben, Zuruf, Kampfgeschrei und das Krachen und Stöhnen, als waren Tausende von Streitwagen mit Rädern und Achsen splitternd ineinander gefahren. Wenn der Mond aus den Wolken hervorjagte und einen grellen Fackelschein hinunterwarf, leuchteten die Ränder der sich hebenden und bäumenden Eisschollen wie Riesensaphire und Opale, verwirrten den Blick und setzten die Gedanken in Tumult.

Otten stand am Ufer, in den Havelock eingehüllt, den breitrandigen Hut im Nacken. Mit aller Gewalt brachte er den Aufruhr in sich zum Schweigen; was an Leben in ihm war, konzentrierte er ins Auge und, den Oberkörper vorgestreckt, spähte er wie ein großer, dunkler Raubvogel die Eisfläche ab.

Wieder behauptete sich der Mond. Otten griff an den Hut. Ein Windstoß wollte ihn packen. Und im selben Augenblick warf er sich gegen ihn, eilte, glitt, stolperte über das Eis, mit verschlagenem Atem und arbeitender Brust, seine Kräfte zum Stoß zusammenfassend, vorwärts, fünfzig Meter noch, vielleicht die Hälfte, vielleicht das Doppelte. Vor ihm ging eine Frau über das Eis, der Stromrinne zu.

Schreien konnte er nicht, der Wind jagte ihm den Ton in die Kehle zurück. Weshalb auch das? Er konnte seinen Atem besser verwenden. Nun kam er dem Stromrand zu nahe. Das Eis klang unter ihm. Und wo er soeben noch den Fuß aufgesetzt hatte, lief es wie ein Kichern im Kreis, und wie Kichern rannte es hinter ihm her. »Wo sie geht, wird es nicht anders sein,« dachte er blitzschnell, und plötzlich schossen ihm krause Gedanken durch den Kopf, Wundertaten Gottes, wie die Wasser sich stauten im Roten Meer und der Pfad trocken lag, wie die Sonne stillstand zu Gibeon und der Mond im Tal Ajalon. »Was soll das jetzt? Was soll das nur?« Eine Eisscholle hob sich vor ihm aus der Rinne und kroch wie eine Schildkröte vor seine Füße. Er sprang hinüber, sah die Frauengestalt auf Armes Länge vor sich und riß sie zurück.

»Still, Maria, sei ganz still, Maria ...«

Er hielt sie an seiner Brust und wagte nicht, sich zu bewegen. Sein Atem ging stoßweise über sie hin, seine weitgeöffneten Augen blickten ins Leere. Ist es mein Herz oder ist es das ihre, das so wahnwitzig schlägt, dachte er, und Nebel tanzten vor ihm her. Dann zog er die Luft tiefer in die Lungen. Das beruhigte ihn.

Und nun sah er auf die Frau nieder, die er im Arme hielt.

Ihr Kopf lag auf seiner Schulter, die Glieder waren schlaff. Die Augenlider hatten die Kraft nicht mehr, sich zu heben, nur ein Streifen Weiß schimmerte unter ihnen hervor. Das verstärkte den Eindruck des Abgestorbenen, und der Mann erschrak vor der starren Apathie. Ganz behutsam rief er sie an: »Maria – – –!«

Ihr Kopf bewegte sich. Mühsam hoben sich die Augenlider ein wenig höher. Aber ihr Blick blieb ohne Ausdruck an ihm hängen, und die Starrheit der Züge änderte sich nicht.

Sacht strich er über ihr Gesicht. »Hast du es wirklich tun wollen, Maria? Hast du das wirklich gewollt?«

Sie schloß die Augen fest zu, und ein Schauer lief durch ihre Schultern.

»Und du glaubst wirklich, ich hätte es dich allein tun lassen? Wenn einer auf der Welt überflüssig ist, so bin ich es doch. Wie wenig ich nütze bin, das wolltest du mir doch soeben zeigen.«

Kurz hintereinander prallten zornige Windstöße gegen den Eisstrom. Die Schollen bäumten sich gegen das Ufereis, krachend brach der Rand und verschwand in der Tiefe. »Joseph!« schrie Frau Maria auf und zog ihn mit wilder Bewegung zur Seite.

»Hast du Angst um mein Leben?«

»Komm – komm fort,« murmelte sie, und Frost und Erregung schüttelten sie.

Den Arm um sie gelegt, führte er sie ein paar Schritte dem Ufer zu. »Das geht nicht,« sagte er und blieb stehen, »dein Mantel liegt dir wie ein nasses Tuch an. Du kannst dich ja kaum auf den Füßen halten.« Und er zog ihr den Mantel ab und hüllte sie dicht in seinen Havelock, den er schnell von der Schulter genommen hatte. »Ist dir jetzt wohler? Spürst du etwas mehr Wärme? Warte, wir sind bald daheim.«

Er legte ihre Arme um seinen Nacken und trug sie mehr, als er sie führte, über die glatte Fläche dem Ufer zu. Dann machte er eine kurze Pause. Langsam wandte er den Kopf dem aufkreischenden Eisgang zu, und eine Sekunde loderte die alte Siegerfreude in seinen Augen auf.

Auch Frau Maria blickte zurück. »Jetzt – wäre es schon vorüber,« sagte sie tonlos. Und plötzlich gaben ihre Nerven nach, alle Anspannung versagte, ein krampfhaftes Aufschluchzen rüttelte ihren Körper, und ein leidenschaftliches Weinen schüttelte sie.

Joseph Otten stand vor ihr und preßte ihre Hände. Preßte sie fester und fester, daß sie seine Nähe spüren sollte, selber erschüttert bis ins Mark. Es war das erste Mal, daß er seine Frau weinen sah.

»Du wirst nie mehr weinen, Maria. Ich werde nur noch darauf achtgeben.«

Vorsichtig löste er sie von dem Bilde los. »Jetzt gehen wir nach Hause. Der alte Klaus ist auch da. Alles wie früher, Maria, du sollst dich nur immer wundern können.«

Sie kamen aus den Rheinwiesen auf die Straße, die in die Stadt führte. Die Lichter aus Klaus Gülichs Haus wiesen den Weg. »Nun sind wir beide in Sicherheit,« sagte Joseph Otten, und sie traten über die Schwelle in die erleuchtete Diele.

»Marjedeies!« rief der alte Klaus und erhob sich bolzengerad von seinem Sitz. »Die Frau!« – –

»Guten Abend, Klaus,« sagte sie leise und versuchte zu lächeln.

»Wo kütt Ihr her? Et regent doch nit Engelcher?«

»Ich war schon gegen Abend hier, traf aber nur Herrn Professor Koch. Dann bin ich am Rhein spazieren gegangen.«

»Davon hätt mr de Spitzbow, Hochwürden Herr Professor, nix verzällt. Äwwer dat is doch kein Wetter, öm am Rhein spaziere zu gonn? Sie bibbern ja wie esu en Magnetnädelche, un kein Faden is trocken. Tringche!« herrschte er die verwunderte Wirtschafterin an, »flöck, hol ding Sonntagstrümp un dinge Kirchgangsrock. Vergeß nit die dicke Filzpantoffel. Un denn ene Grog, äwwer eine, wo der Löffel drin steche bliwt.«

Professor Koch war um den Tisch herumgekommen, hatte Frau Marias Hand ergriffen und sie an seine Lippen gezogen.

»Ich werde sie auf mein Zimmer bringen,« sagte ihm Otten, »du schickst mir wohl unsere Haushälterin.«

Frau Maria gab den Männern die Hand und ließ sich willenlos auf Ottens Zimmer führen. Im Ofen flackerte ein tüchtiges Feuer. Man spürte Heinrich Kochs sorgende Hand. Die Wirtschafterin folgte ihnen auf dem Fuß, und Otten ließ die Frauen eine Weile allein. Als er ins Zimmer zurückkehrte, saß Frau Maria in trockenen Kleidern, Füße und Knie sorgsam eingehüllt, in der Sofaecke und nahm auf Zureden von Tringche den heißen Trank zu sich. »Es geht mir schon wieder gut, Joseph.«

Otten zog einen Stuhl neben das Sofa, setzte sich und nahm ihre Hand. Die Wirtschafterin fragte, ob sie zu essen bringen solle. »Ich kann nicht,« sagte Frau Maria, und auch Otten schüttelte den Kopf. Dann ging die Frau mit zutraulichem Gruß, und sie waren allein. Beide sahen sie vor sich nieder.

Draußen rüttelte der Wind an den Fensterläden und fuhr in ohnmächtiger Wut um das Haus, in das ihm seine Beute entschlüpft war. Sie hörten ihn beide, und hörten dumpf in der Ferne den Eisgang.

»Weshalb wolltest du das tun, Maria?«

»Du hattest mich nicht mehr nötig.«

»Ich durfte dich nicht mehr nötig haben, Maria. Du hast doch immer so gut in mir zu lesen verstanden.«

»Aber ich hatte dich nötig, dich! Wäre ich sonst gekommen, wenn ich noch ein und aus gemußt hatte? Du lasest doch auch in mir, für dich war ich doch nie ein Rätsel, und ich wurde abgewiesen.«

»Es geschah in der ersten Überraschung. Ich war so unvorbereitet, daß ich den Kopf verlor.«

»Sieh, Joseph, es war das erste Mal, daß der Glaube an dich ins Wanken geriet. Was du auch im Leben zuviel getan und zuviel unterlassen haben mochtest, ich habe immer den ritterlichen Mann in dir gesehen. Selbst damals, als das Unglück kam. Ich war Frau genug, um das alles zu verstehen, und vor allem – ich war doch deine Frau. Nur einen großen Fehler habe ich begangen: ich hätte mich dir aufzwingen müssen. Vielleicht wärst du schneller gesundet, vielleicht wären wir beide vor der Zeit miteinander alt und still geworden. Aber wir wären doch beieinander gewesen.«

Er streichelte wortlos ihre Hand.

»Was sollte ich aber jetzt noch im Leben, Joseph? Ich hätte ja nicht einmal mehr den Beruf gehabt, an dich zu denken.«

»Du hast Carmen vergessen, Maria?«

»Carmen – –,« wiederholte sie langsam. »Deshalb wollte ich ja zu dir.«

»Macht sie dir Sorgen?«

»Sie möchte mich auch der Sorgen entheben.« Frau Maria starrte in den Schoß. »Sie will den Weg für sich frei haben, und sie will nicht sehen, wohin der Weg führt. Joseph,« brach es aus ihr hervor, »du mußt helfen! Gib mir den Glauben an dich wieder! Es geht um das Kind!«

Sie war ganz erschöpft, und Otten nahm sie fest in den Arm. »Beruhige dich doch,« sagte er, »jetzt bist du bei mir, und ich bin wieder der alte. Hat mein Wort noch Wert für dich?« Da schlang sie die Arme um seinen Hals und suchte seinen Mund. Und er küßte ihre blassen Lippen und ihre heißen Augen. »Meine du – – meine du – –!«

Eine Weile lag sie still und atmete ruhig. »Ich möchte jetzt erzählen,« sagte sie dann.

»Wird es dich heute nicht zu sehr aufregen?«

»Ich hab' ja in dir den Helfer wieder. Was soll mir da noch schwer werden.«

»Ist es mit Laurenz Terbroich? Du weißt, daß Lachner bei mir war, aber ich glaubte keine Rechte zu besitzen.«

»Ja – – mit Laurenz Terbroich. Und Carmen ist mündig. Ihr Studium hat sie noch mündiger gemacht. Darüber wollte ich nicht klagen, wenn sie ihr Selbstbestimmungsrecht zielsicher ausübte. Aber sie tut es nur dort, wo es ihr paßt, sie fürchtet, vom Leben zu verlieren, wenn sie an einer festlichen Stunde vorüberginge, und wenn sie die meisten Stunden als festliche auffaßt und ich den Finger ins Mal lege, beruft sie sich stolz auf ihr Blut und auf –«

»Sag es nur.«

»Und auf das Beispiel ihres Vaters, der für sie immer das Vorbild war.«

»Es ist meine Tochter,« sagte Otten und preßte die Lippen aufeinander.

»Dann kam Laurenz Terbroich heim. Er hatte sich in London und Paris zu einem hübschen Menschen ausgewachsen, und er wußte, daß er auffiel. Wäre er von den jungen Mädchen nicht so sehr hofiert worden, ich glaube nicht, daß Carmen sich um ihn gekümmert hätte. So aber freute es sie, daß er für sie alle scheinbar keine Blicke hatte und nur diensteifrig ihre Gunst suchte. Es gibt Menschen, die wie schleichendes Gift wirken. Laurenz Terbroich gehört zu ihnen. Ich selber ließ mich täuschen. Ich hielt bis vor wenigen Tagen für vorübergehende Eitelkeit, was kälteste Berechnung war. Er ist eine einzige Lüge.«

»Liebt er Carmen?«

»Wer sollte sie nicht lieben? Du hast sie zu lange nicht gesehen.«

»Und – liebt sie ihn wieder?«

»Er baut Luftschlösser vor ihr auf, bis sie berauscht ist. Dann geht ihre Phantasie mit dem Erzähler durch.«

»Und du glaubst, er denkt nicht daran, sie zu heiraten?«

»Er denkt nicht einmal daran, ihr treu zu sein.«

Otten stand auf. Einigemale ging er mit zusammengezogener Stirn im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor ihr stehen. »Nicht treu? Aus dem Wort läßt sich zu viel herauslesen. Hat er ihr ein Versprechen gegeben? Belügt er sie? Unternimmt er Dinge, die sie beleidigen müssen? Untreu sein heißt ein anderer sein, als man vorgibt.«

»Das ist es, Joseph, und hier trifft es zu.«

»Das ist schlimm für Carmen – –.«

Sie forschte gespannt in seinem verfinsterten Gesicht, »Du wirst helfen ...«

Er atmete tief. »Ich möchte. Wenn ich kann. Aber ich weiß noch keinen Grund.«

Da sprach sie hastig weiter. »Ich war wohl zu stolz auf meine Erziehungskunst. Und wenn ich in all den Jahren, in denen du nicht kamst, nur immer an dich denken konnte, so übertrug ich alles, was ich dir hätte geben mögen, mit auf das Kind und achtete jede Stunde auf seinen Körper und auf seinen Geist. Dadurch habe ich vielleicht zuviel getan. Carmen sah sich zu früh als Mittelpunkt, als besonderes Geschöpf, und ihre lebhafte Einbildungskraft hob sie noch höher. Sie hat die künstlerische Ader von dir und die heftige Begeisterung für Schönheit, Heiterkeit und Lebensausschmückung. Laurenz Terbroich kam ihr darin entgegen, und sie nahm seine leichtsinnige Ader für eine künstlerische, seine Begierden für einen Schönheitsrausch. Der ewige Irrtum. Und Carmen gewahrte ihn nicht. Sie sah nur das in ihm, was er ihr vortäuschte, den großzügigen Weltmann. Und dabei stand die Fabrik durch sein verschwenderisches Leben in Paris, das er in Köln fortsetzte, vor ernsten Zahlungsschwierigkeiten.«

»Weißt du das sicher?«

»Er verstand es so ausgezeichnet, den Leuten Sand in die Augen zu streuen, daß auch ich blind blieb. Erst Moritz Lachner brachte meine Sicherheit ins Schwanken.«

»Ein verschmähter Liebhaber ist kein klassischer Zeuge.«

»Du tust ihm unrecht. Er liebt nicht nur Carmen, er liebt die Ottens mit einer tiefgegründeten Schwärmerei. Er sieht zu dir mit derselben Begeisterung auf, mit der er Carmen liebt.«

»Mißliche Vermögensverhältnisse würden nicht ausreichen, Gewalt anzuwenden. Auch werden dem alten Terbroich, wie ich ihn kenne, trotz seiner blinden Bewunderung für seinen Sohn die Augen aufgehen, sobald er das Messer an der Kehle spürt.«

»Sie sind ihm aufgegangen. Gestern erfuhr ich es.« Otten streckte sich. »Was?«

»Ich habe meine Natur unterdrückt und habe geforscht, wo es nur zu forschen gab. Du brauchst nicht zu fragen, ob es mir sauer wurde. Und ich erfuhr, daß es eine arge Szene zwischen Vater und Sohn gegeben habe.«

»Und Laurenz ließ sich beschwatzen?«

»Er war es selbst, der den Vorschlag machte. Die Verlobung mit der Tochter eines reichen Geschäftsfreundes.«

»Ah – –. Und Carmen ist orientiert?«

»Sie lachte mich aus. Es kommt ihr gar nicht in den Sinn, daß ein Mensch von ihr ablassen könnte.«

»Und du?«

»Ich ging zu Laurenz Terbroich. Verzeih, Joseph, daß deine Frau den Schritt unternahm. Aber ich wollte Klarheit um jeden Preis, und es war sonst keiner da, der sie mir hätte beschaffen können.«

»Arme Frau,« sagte Joseph Otten und sah sie lange an.

»Er hat seine eigene Wohnung. Du kennst das Haus in der Komödienstraße, es gehört Terbroich. Ich traf Laurenz und fragte ihn: Was habt ihr vor? Und er ging mir mit seiner glattesten Liebenswürdigkeit aus dem Wege. ›Üerlassen Sie das nur ruhig uns, Frau Doktor, wir sind ja noch so jung, weshalb uns jetzt schon binden und unter unsere Jugend einen Strich machen!‹ Da befragte ich ihn wegen des Verlobungsprojektes. Er war zuerst bestürzt, dann wich er aus. ›Vielleicht ein kaufmännischer Schachzug meines Vaters. Die Zeiten sind etwas schwierig. Aber Carmen und ich lassen uns selbst durch solche Projekte nicht irritieren.‹ Ich ging, wie ich gekommen war, nur beschämter, beschämt, kein Mann zu sein. Ich konnte ihn nicht bezwingen.«

Ottens Gesicht war dunkelrot geworden. »Der Bursche – –! Ich erkenne seinen Vater in ihm!«

»Joseph – –«

»Sie sind zu vorsichtig, sich eine Blöße zu geben. Danken wir Gott, wenn Carmen von der Gesellschaft befreit ist.«

»Und wenn sie – zu spät davon frei wird? Das ist ja meine jagende Angst. Ob es nicht schon – zu spät ist?«

Aus Ottens Gesicht wich die Farbe. »Sag das nicht, Maria. Das nicht.«

»Ich muß es. Ich kann nicht mehr warten. Es geht ja nicht nur um Carmen, es geht ja auch um dich. Deine Tochter, Joseph! Deine Tochter: ein Spielzeug! Darüber – nein, darüber kämst du nie hinweg. Und wenn andere Frauen, klügere, zeitgemäßere Frauen tausend schöne Worte dafür finden – hier handelt es sich nicht um andere Frauen, nicht um klügere und freiere, nicht um alle Frauen der Welt, hier handelt es sich um deine Tochter. Du: deine Tochter! Wo ist der Vater? Ich bin todmüde ...«

Mit jäher Bewegung umfaßte Otten seine Frau. Sein Gesicht war starr wie eine Maske geworden. Kein Laut war zwischen ihnen als ihr schweres Atmen. Und dann wiederholte Otten mechanisch: »Sei still, Maria, sei ganz still ...«

»Jetzt bin ich es.« Sie saßen nebeneinander, einer in des anderen Arm. Keiner sprach mehr, denn ihre Gedanken waren eins geworden. Bis Frau Maria zusammenschauerte.

»Was hast du, Maria?«

»Ich friere, und doch bin ich heiß.«

»Du mußt zu Bett gehen. Es wird eine Erkältung sein.«

Sie versuchte sich zu erheben, und die Glieder versagten. Mit einem müden Lächeln ließ sie davon ab. »Nun bürde ich dir schon die zweite Last auf. Wie Blei liegt es in mir. Wenn ich jetzt nur nicht krank werde.«

Otten beugte sich über sie. Seine Hände betasteten ihre Schläfe und ihren Puls. »Um Gottes willen, Maria.«

»Komm, ich will mich auf dich stützen. Vielleicht ist es nur die Freude, mich bei dir ausruhen zu dürfen. Gib acht, es ist so. Wenn ich morgen aufwache, ist alles gut.«

Er legte den Arm um ihren Leib und führte sie. Schritt für Schritt, in seine Kammer. Dort blieb er bei ihr, bis sie sich niedergelegt hatte. Ihre Zähne schlugen vor Frost aufeinander. Und doch fand sie Worte der Sorge für ihn.

»Wo wirst du die Nacht über bleiben? Ich habe dich vertrieben.«

»Ich kampiere auf dem Sofa nebenan. Das geht sehr gut. Wir lassen die Türe auf, und du brauchst nur zu rufen, wenn du irgend etwas wünschest.«

»Laß dir von der Wirtschafterin Decken geben. Es wird dir kalt werden.« Ihre Schultern bebten.

»Mach dir doch keine Gedanken um mich. Liebste.«

»Liebste – –,« murmelte sie.

»Ich besorge dir noch schnell einen heißen Tee,« sagte er aufgeregt. »Wir werden die Erkältung schon aus dem Felde schlagen. Du hast nun genug gelitten.«

Sie sah ihm mit glänzenden Augen nach, als er das Zimmer verließ. Unten traf er den alten Klaus, Heinrich Koch und die Wirtschafterin. Er verständigte sie mit wenigen Worten und setzte sich schweigsam neben den Herd, um auf den Tee zu warten. Als er wieder hinaufstieg, kam Koch ihm nach. »Kann ich dir behilflich sein?«

»Ich danke dir. Ich hoffe, sie wird bald einschlafen.«

»Du, Joseph, ich warte hier unten.«

»Willst du nicht auch zu Bett? Es ist spät.«

»Ich habe so das Gefühl, als ob du heute gern einen Menschen um dich wüßtest.«

»So warte.« Und er stieg eilig hinauf.

Frau Marias Augen waren nicht von der Tür gewichen. Und wieder glänzten sie auf, als er eintrat. Er gewahrte diesen Blick und errötete. »Ist dir wärmer geworden?« fragte er.

»Du sollst dich nicht ängstigen, Joseph. Sonst muß ich aufstehen und erst für dich sorgen.«

Er stützte ihren Rücken und reichte ihr den Tee. »Trink. Er ist glühend heiß. Aber die Wirtschafterin schwört auf ihn.«

Sie schlürfte ihn langsam ein, und wenn sie absetzte, lehnte sie den Kopf gegen seinen Arm. Den Blick ließ sie nicht mehr von ihm.

»Wie hübsch das ist. Zwei alte Leute ...«

»Ja, Maria, viel Staat wirft du nicht mehr mit mir machen können. Meine Eitelkeit ist der Zeit unterlegen. Kein Haar auf dem Kopfe, das nicht tributpflichtig geworden wäre. Grau, grau, grau.«

»Und ich bin weiß.«

»Wie dich das Weiß kleidet. Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß du je anders gewesen bist. So friedlich und so mütterlich macht es dich. Ich bin nur verwittert.«

»In jedem Zug bist du wie früher. Wenn man älter wird, hat man andere Schönheitsbegriffe, und das ist gut.«

»So,« befahl er, »und jetzt keine weiteren Schmeicheleien.« Er ließ ihren Kopf in die Kissen sinken und wickelte sie fest in die Decken. »Wenn du mich liebhast, schläfst du auf der Stelle ein.«

»Ich will erst sehen, daß die Wirtschafterin dir dein Sofabett richtet.«

»Unverbesserliche du. Ich werde sie also rufen.«

Tringche kam mit Decken und Kissen, bereitete das Lager, sah nach der Frau, klopfte an ihren Betten herum und verschwand mit vielen guten Wünschen.

»Gute Nacht, Joseph.«

»Gute Nacht, du liebe Frau.«

Sie schloß einen Moment die Augen, öffnete sie groß, hob die Arme und zog schnell seinen Kopf an ihre Brust. »Du! – – – Nun sind wir alte Leute ... Gute Nacht.«

Er saß auf dem Bettrand, bis sie eingeschlafen war. »Nun sind wir alte Leute,« wiederholte er sich. Und er schüttelte den Kopf. »Man muß den Kreis nur etwas enger ziehen, und man bleibt jung. Der alte Klaus fühlt sich wie ein Jüngling.«

Er erhob sich leise und ging aus dem Zimmer. Dabei fiel ihm ein, daß Heinrich Koch auf ihn wartete. »Ich werde mich noch ein Stündchen zu ihm auf die Diele setzen. Wir haben als Knaben zusammen begonnen und schließen als Grauköpfe den Kreis. Was darin ist, bedeutet nun für uns die Jugend.«

Heinrich Koch saß am Eichentisch und träumte. Das Lampenlicht beschien sein ernstes, faltiges Gesicht. Als er Ottens Schritt vernahm, sprang er auf und ging dem Freund entgegen. Stumm streckte er ihm die Hand hin. Es wurde ein kräftiger Druck.

»Was bedeutet das, Heinrich?«

»Das bedeutet einen Glückwunsch.«

»Bist du auf deine alten Tage Gedankenleser geworden?«

»Dazu bedarf es bei dir keiner Kunst. Du bist gottlob keine komplizierte Natur, und deine Augen blicken wie ein Paar Seemannsaugen, die nach langem bösen Wetter endlich wieder Land erblicken. Land, Joseph!«

»Ich danke dir für deinen Glückwunsch. Du hast dich nicht geirrt. Heinrich, ich spür' wieder mein Blut kreisen.«

»Der Mensch muß eine Aufgabe haben. Du bist ein glücklicher Mann.«

Sie saßen sich gegenüber wie so oft und betrachteten sich wie nach einer langen Trennung. »Der alte Klaus ist zu Bett,« sagte Heinrich Koch, »wir sind, glaube ich, die einzigen Nachtschwärmer in ganz Zons.«

»Maria fieberte. Aber sie ist leicht eingeschlafen.«

»Nur sorgenfreie Menschen schlafen leicht ein. Gibt dir das nicht zu denken, Joseph?«

»Ich sehe alle die Nächte vor mir, in denen sie schwer einschlief. Ihr Leben darf nicht kurz sein, wenn das Versäumte eingebracht werden soll. Und doch ging es um Sekunden.«

»Dort?« Heinrich Koch wies still nach dem Fenster.

»Ja. Dort.«

Sie horchten beide hinaus. Aus der Ferne dröhnte es dumpf zu ihnen herüber. Der feuchte Südwind jagte die Schollen rheinab und zerbrach das Ufereis. Wie ein Geisterkampf klang es durch die Nacht.

»Morgen,« sagte Heinrich Koch, »morgen oder in zwei Tagen wird der Strom frei sein von einem Ufer zum andern. Und er wird die kurze Strecke bis in die Niederlande wieder seine Pflicht erfüllen können.«

»Er – und ich, Heinrich. Die kurze Strecke bis in die Niederlande.«

»Aber besser münden als er. Nicht verzettelt in kleinen Kanälen. Stolz und kühn muß es ins Meer gehen.«

»So haben wir es uns erträumt, als wir jung waren.«

»Und wir wollen sorgen, daß wir uns vor unserer Jugend nicht zu schämen haben. Du vor allem, Joseph, du für mich mit. Das Abendrot soll so leuchtend sein wie das Morgenrot. Nur nicht klein werden.«

»Es sind fast dieselben Worte, die ich Maria sagte, als ich ihr zum erstenmal von meiner Liebe zu ihr sprach. Sie glaubte es mir. Damals! Und nun wird es Zeit, daß ich auch dies Versprechen mit manchen anderen einlöse. Damals – –! Ich bin inzwischen fünfundfünfzig Jahre alt geworden, aber es sind viele Kriegsjahre darunter, und die zählen doppelt. Damals glaubte ich, sie würden nur die Hälfte zählen, und weiß Gott, in der ersten Zeit war es so, und so blieb es noch lange, weil Maria mir alles um eine gute Hälfte erleichterte. Damals,« sagte er, und wieder »damals – damals –« und begann zu erzählen, als gälte es eine frohe Beichte, von Dingen, deren er niemals einem dritten gegenüber Erwähnung getan hatte, von Marias einsamer Jugend, ihrer ersten Begegnung in Koblenz, ihrer Kameradschaft und ihrer Liebe. Den ganzen Frühling ließ er lebendig werden und alle Frühlingshoffnungen und Erfüllungen, ihre gemeinsamen Reisen, das Mutterwerden Marias, seinen Vaterstolz, die Ehe, die sie ihm zu einem Hafen umgestaltet hatte, bis er die letzte, verhängnisvolle Ausfahrt getan.

Eine feine Röte stand auf des Professors Stirn. »Nun habe ich alles miterlebt,« sagte er, »ich danke dir, Joseph.«

»Mir ist fast,« meinte Joseph Otten, »als hätte ich in dieser Nacht das Rätsel meines Niedergangs gelöst.«

»Dann ist der Niedergang gebannt.«

»Willst du es wissen?«

»Ach, Alter, ich weiß es schon so lange. Aber man muß es selber empfinden, wenn es Wunder wirken soll.«

»Ja, Heinrich, ich hatte mir stets die Sorgen abnehmen lassen und nie welche übernommen. Das war es. Und ich stand grimmig beiseite und glaubte, meine Kräfte wären erschöpft, weil ich nicht wußte, was noch mit ihnen beginnen.« Heinrich Koch deutete mit einem Blick zur Decke. »Maria hat dir eine Aufgabe gebracht?«

Otten erhob sich. In seiner hageren Gestalt spannte sich jeder Nerv. »Das Kind ist in Gefahr,« sagte er, und es war, als ob ein Lachen in seinen Augen aufspränge, ein jäher Lebenshunger.

»Weissagte ich dir nicht, daß du ein glücklicher Mann seist?«

Die beiden Graugewordenen standen und sahen sich mit blitzenden Augen an. Draußen fegte der Nachtwind über Rheinwiesen und Strom. Das Grollen des Eisgangs brach nicht ab. »Er wütet, weil ich Sieger geblieben bin. Hörst du's?« Und sie lauschten hinaus und lachten kurz vor sich hin ...

»Ich muß nach Maria sehen. Laß es erst morgen werden. Ich lebe noch.«

Sie reichten sich die Hand, und Otten ging hinauf. Aufrecht und jung. Nie, so war ihm, hatte er sich glücklicher gefühlt als in dieser Stunde.



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