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Wenn der Rheindampfer die grünen Höhen des Siebengebirges passiert hat, und in Bonn und Köln die letzten Rheinfahrer gelandet sind, bleibt ihm meist nur noch die Güterladung zu Tal. Selten, daß ein paar Menschlein an Bord zurückbleiben, die da wissen, daß die Romantik des Stromes weiter reicht als seine rebenbekränzte Bergstraße, daß sie in der niederrheinischen Tiefebene noch einmal einen Triumph feiert, und der köstlichsten einen. Unberührt vom Zuge der Zeit, abseits selbst von den Eisenschienen, die Städte und Dörfer verbinden, hebt sich aus den Rheinwiesen zwischen den römischen Städtegründungen Köln und Neuß eine kleine, burgartige Stadt wie ein vergessenes Märchen: Zons.
Zwei Jahrtausende fast zurück reicht seine Geschichte. Sie ist alt wie die Geschichte Kölns. Ein Dezennium vor Christi Geburt legte Drusus zum Schutz der befestigten Lager Köln und Neuß Kastelle an, und Zons war unter ihnen. Die Franken herrschten hier, und der heilige Kunibert, der erste Erzbischof von Köln, erhielt es vom Frankenkönig zum Geschenk. Eine kurkölnische Feste wurde es, wild von der Kriegsfurie umtobt, und zu Ende des vierzehnten Jahrhunderts in ein Wunder mittelalterlicher Befestigungskunst verwandelt, das sich durch alle Kriegsstürme hindurch in unsere Tage hinübergerettet hat wie eine Frage der Romantik, an der der Mensch achtlos vorübergegangen ist.
Von gewaltigen Mauern umgürtet, zinnengekrönt, von ragenden Trutztürmen und starken, steinernen Torgängen flankiert, schaut das gotische Städtlein verwundert auf den Rhein, der es nicht minder vergessen zu haben scheint. Uneinnehmbar war es einst, und »Virgo« nannten es die Geschichtschreiber. Jungfräulich sollte es bleiben. Weder die Schiffahrt noch die Eisenbahn hatte hier einen Halteplatz.
Ein Kleinod liegt am Niederrhein, und wenige, viel zu wenige wissen darum. Staub fällt auf Mauerkrone und Turmkappen. Wer auf dem Rheine vorübersegelt, staunt hinüber wie auf eine phantastische Erscheinung, ein auferstandenes Vineta ...
Klaus Gülichs Haus lehnte sich an die Stadtmauer. Von seinem oberen Stockwerk aus schweifte der Blick über die Rheinwiesen, auf denen die kurzen, knorrigen Weiden aufmarschiert standen wie Regimenter stummer Soldaten. Und hinter den Rheinwiesen lag der breite, glitzernde Streifen des langsam ziehenden Stromes. Holländische Ruhe atmete das Land ringsum, das sich meilenweit dem Blicke öffnete. Ein Kranz von Windmühlen säumte den Horizont.
Das Haus war ein sauberer Fachwerkbau, weiß getüncht, mit grünen Fensterläden und einem schwarzen, schuppigen Pfannendach. Der alte Klaus hatte seine Ehre darein gesetzt, es so schmuck herauszuputzen, als wäre es ein Schiff wie das, das er einstmals im Auftrage der Firma Otten von Köln nach Holland führte, Jahrzehnte hindurch, immer dieselbe Strecke. Von der Station Dormagen her rollte ein Wagen über die Chaussee. Jetzt fuhr er in die stille Stadt ein, die in sommerlicher Mittagsruhe lag, bog an der Mauer ab und hielt vor einem der letzten Häuser. Der alte Klaus stand auf der Schwelle, untersetzt, im gestrickten braunen Wollkamisol, das achtzigjährige verwitterte Schiffergesicht von weißem Stoppelbart bekränzt, und rauchte seine Tonpfeife.
»Tringche,« rief er über die Schulter der handfesten Wirtschafterin zu, »is die Zupp parat? Die Häre komme.« Dann befestigte er den Pfeifenstiel im Mundwinkel, rückte an der Schiffermütze und bot den Aussteigenden die breite Hand. »Sid ihr all do? Guten Dag ooch. Jungens, ihr seht schlääch us!«
»Guten Tag, Klaus. Mensch wie das ewige Leben! Wir wollen es uns auch verdienen.«
»Tat scheint mir ooch langsam Zick zu sinn. Oder ihr mößt noch ens op die Welt komme. Na – also – herzlich willkommen, säht mer woll.«
Heute saßen sie zusammen um den schweren Eichentisch der Diele und schöpften aus derselben Schüssel. In den nächsten Tagen sollte ein Mobiliar für die beiden Herren ankommen, das Otten in Köln bestellt hatte. Tringche würde die Mieter alsdann separat zu bedienen haben.
»Heiß,« sagte der alte Klaus und ließ es dahingestellt, ob er die Suppe oder das Wetter meine. Man sprach nicht viel während der Mahlzeit. Die Wirtschafterin holte das Fleisch- und Gemüsegericht, Messer und Gabel klapperten, und ein paar aufgestörte große Fliegen summten und surrten an der Fensterscheibe. Als man sich vom Tisch erhob, äußerte Otten ein Lob über die ausgezeichnete Küche.
»Na ja –« sagte der alte Klaus verschämt, als sei er der Kochkünstler gewesen. –
In ihrer Wohnung standen die Freunde am Fenster. Die Arme auf dem Rücken. Dicht nebeneinander. Schwermütig lag das Land, schwermütig die Stadt. Kein Ruf drang herüber.
»Hier gefällt's mir,« sagte Otten.
»Mit geschärften Augen können wir die Türme des Kölner Domes sehen, Joseph.«
»Wir sind doch keine Toggenburger.«
»Nein. Aber es ist gut, die Heimat in erreichbarer Nähe zu wissen.«
»Ich für meine Person habe nichts mehr dort zu suchen. Ich will Ruhe, Heinrich.«
»Ich meinte auch nur, daß man dich einmal nötig haben könnte.«
»Das ist noch nicht dagewesen. Ich habe keine glückliche Hand in Familienangelegenheiten, überflüssige Sorge, Heinrich, so überflüssig wie ich selber. Wir wollen es uns hier gemütlich machen.«
Heinrich Koch legte ihm den Arm um die Schulter. Und sie blickten auf den Rhein hinaus, auf dem das schlappe Segel eines Lastkahnes erschien, der verschlafen vorüberglitt.
Die Woche darauf waren sie eingerichtet. Sie hatten sich in die vier Stübchen geteilt, daß jeder sein Wohn- und sein Schlafzimmer erhielt. Auch ein Klavier war gekommen. Und die Bücherregale standen vollgepfropft von Bänden. Heinrich Koch ging schmunzelnd durch die Räume. Seine Gelehrtennatur war erwacht. »Was tun wir nun?«
»Nichts.«
»Nichts – ?« wiederholte er lachend.
»Wenigstens vorläufig nicht. Ihr armen Arbeitstiere glaubt, des Daseins Wonne bestände nur in der sichtbaren Beschäftigung. Tausend Dinge greifen wir an und formen sie um. Nur an uns selbst gehen wir nicht heran. Es gibt auch eine innerliche Beschäftigung. Wir wollen uns des Brachlandes annehmen.«
»Ich bin's zufrieden. Und wenn wir es kultiviert haben?«
»Dann kommt erst die Freude. Und die will auch ihre Zeit haben. Schau dich einmal um in der Menschheit, Heinrich. Wer weiß denn heute überhaupt noch, was Genießen ist? So recht ausgenießen? Die alten Deutschen wußten es, wenn sie aus dem Streit kamen oder von der Jagd und sich auf die Bärenhaut warfen. Die genossen ein jedes Ding doppelt, wenn nicht dreifach und vierfach. Zuerst in der Wirklichkeit, dann im Austausch der Erlebnisse, nachher in der Erinnerung oder gar im Liede des Sängers. Aber wir? Was du gestern erlebt hast, weißt du heute schon nicht mehr. Du stürmst weiter, rastlos aus dem einen Tag in den anderen, und das heutige Erlebnis frißt das gestrige ratzenkahl und wird morgen wieder gefressen.«
»Du sprichst von dir, nicht von mir. Ich lebe und zehre lediglich von meinen paar Jugendjahren.«
»Nun ja – von mir. Vielleicht, wenn ich auf die Schattenjagd gehe, tun mir einige den Gefallen und nehmen Farbe an. So kann ich mir langsam einen Ritter- und Fräuleinhof gründen, in dem ich herumturniere.«
»Werde ich zugelassen? Als Junge war ich Zaungast, und später genierte es mich, durch die Bretter zu spähen.«
»So oft du kommst, du sollst willkommen sein.«
Die Stadt kannten sie bald bis in den letzten Winkel. Von den Bewohnern wurden sie für ein paar alte vornehme Sonderlinge gehalten, Maler oder Architekten, die das niederrheinische Rothenburg ins Herz geschlossen hatten. Man gewöhnte sich bald an sie und schaute sich kaum nach ihnen um, wenn sie straffen Ganges die Straße kamen oder Luginsland und Warttürmchen, Mauern, Trutztürme und Tore untersuchten, um den alten genialen Befestigungsplan festzustellen. Die wenigen Einwohner von Zons hatten mit sich selbst zu tun.
»Das ist eine göttliche Langeweile,« sagte Otten. »Von Tag zu Tag spüre ich mehr, wie ich ruhiger werde.«
»Wir sehen aus wie Landjunker.«
»Das ist der einzig wahre Beruf. Auf seiner Scholle sitzen und jeden Tag auf seinen Gehalt prüfen. Das schafft das richtige Distancegefühl. Ach, unsere Junker wissen, was gut ist.«
»Bald wirst auch du die Distance zu deinem Leben haben.«
»Ich hoffe es. Hier ist Gelegenheit. Sieh dir mal den Rhein an. Einen Pfeilschuß weit ist er entfernt, und früher floß er dicht unter den Südmauern der Stadt. Mehr und mehr zog er sich zurück. Er respektierte die göttliche Langeweile und gab Fersengeld. Nun ist es ganz still.« In der ersten Zeit sprachen sie viel von der Geschichte der Stadt. Unter den silbernen Weiden auf der Rheinwiese gelagert, blickten sie auf das wunderbare Stück Mittelalter, das vor ihnen aufwuchs.
»Da liegen wir müde gewordenen Söhne unserer Zeit und schauen der Kraft und dem Trutz unserer Vorfahren ins festgebliebene Mark. Und wo wir liegen, lag der Ubier und schaute in sein Gehöft, lag der Römer und schaute in sein Kastell, lag der Franke und schaute in sein Königsschloß, lagen die Erzbischöflichen, wenn sie nicht hinter den Wällen lagen, in lachender Verteidigung gegen die Stadtkölner, die bergischen Grafen, die Heerhaufen und Räuberbanden im truchsessischen Krieg und die marodierenden Schweden unter ihrem famosen Oberst Rabenhaupt. Ein Mordskerl, dieser Rabenhaupt. Kein Mensch im Dreißigjährigen Krieg soll es ihm im Fluchen haben gleichtun können. Wenn er keine Kugeln mehr über die Mauern zu werfen hatte, schrie er seine Flüche in die belagerte Stadt. Und sein schauerliches Fluchen soll den frommen Zonsern lästiger gewesen sein als seine Kugeln. Wen haben wir sonst noch zu begrüßen? Im Kriege Ludwigs des Vierzehnten den Mordbrenner Turenne, im spanischen Erbfolgekrieg Marlborough, der die Franzosen zum Teufel jagte. Und später den großen Napoleon, der auf der Chaussee von Dormagen Gnaden austeilte. Das ist eine Fülle von Namen und Geschehnissen, von denen ein Drittel genügen würde, anderen Städten ewiges Ansehen zu gewähren. Von Zons sind sie abgeglitten ins Meer der Vergessenheit, wie das Städtchen selbst. Und das macht mir das alte Nest so reizvoll, so beneidenswert. Die göttliche Langeweile ringsum hat es fertig gebracht, daß es selbst seine große Vergangenheit vergaß.«
»Das ist wohl Ironie, Joseph?«
»Mit steinernem Gesicht in die große Nirwana hinübergleiten können, das ist – ein Ziel.« –
Wenn ein Monat vergangen war, sagten sie es sich. »Hast du es bemerkt?« Und sie schüttelten lächelnd die Köpfe.
An Regentagen saßen sie auf der Diele am Eichentisch des alten Klaus und disputierten über Leben und Sterben. Die Herren rauchten ihre Zigarre, der weißköpfige Hausherr seine langgestielte Tonpfeife. »Dat is ene Onsinn,« belehrte sie der Alte, spuckte aus, brach ein Stückchen des Tonstieles ab, um sich ein frisches Mundstück zu schaffen, und qualmte weiter. »Dat is ene Onsinn, öwer et Sterwen zu sinniere. Wenn mer esu alt geworde is wie ich, glöwt mer gar nit mieh an et Sterwen. Un dat is schön esu. Sons wär dat eja im Alter ene Landplag.«
Vor dieser einfachen Weisheit schwiegen die Freunde eine Weile.
»Ich glaube,« meinte Heinrich Koch endlich, »Klaus hat den Nagel auf den Kopf getroffen.«
»Geschmackssache,« murmelte Otten.
»Weißt du Besseres als den Tod ignorieren?«
»Ihm in die Zähne lachen, würde mir mehr noch gefallen.«
»Ich halte das für weniger bedeutend.«
»Aber es steckt eine männliche Geste darin. Sterben, wie man gelebt hat! Wenn ich als Junge die Geschichte der französischen Revolution las, kriegte ich einen roten Zornkopf über das Regiment des Mobs. Und ich jubelte erst wieder auf, wenn ich las, wie die Mehrzahl der Edelleute in den Tod ging. Ich bin kein Byzantiner. Nichts auf der Welt, was mir verhaßter wäre. Aber ich schwärme für die Aristokraten der Gesinnung, für alle Menschen ohne Sklavenblut. Himmel, wenn so ein Mann vom Karren sprang und auf die Guillotine stieg, auf der sein Kopf fallen sollte. Ein Wort noch war ihm frei. Und von der Guillotine herunter spie er aus Leibeskräften in die tobende Menge. Das besagte: ›Bande, hätt' ich euch hier oben, ohne Barmherzigkeit legt' ich euch unter das Messer.‹«
Am Tische dachten sie nach. Draußen rieselte unaufhaltsam der graue Regen. Und Heinrich Koch legte dem Freunde die Hand auf den Arm und meinte gelassen: »Das nennst du nun ein harmloses Plauderstündchen.«
»Kein besserer Beweis als dieser, daß ich der Ruhe bedarf.«
»Altes Sturmherz du.«
»Eine gnädige Woge hat mich fern auf den Strand geschlagen. Mehr wünsche ich nicht, als fernab liegen zu bleiben.« – – –
»Wieder ein Monat,« sagte eines Tages Heinrich Koch.
»Schon wieder. Schau! Ein Monat geht uns hin wie eine Minute. Nun kommen wir doch in der Zeitrechnung annähernd der der Götter gleich. Ich möchte meine Taschenuhr nicht mehr aufziehen.«
»Den Göttern gleich zu sein, ist edler Wunsch.«
»Ja. Da quälen wir uns mit unseren großen und kleinen Gedanken, halten uns für überaus wertvolle Objekte und die Erde beinahe für grenzenlos. Und doch ist sie nur ein Ameisenhaufen im Universum, und wir winzige, krabbelnde Ameisen, die ihren Dünkel emsig hin und her schleppen. Es ist zum Lachen! Wir dünken uns die Herren, weil unsere Sinnesfunktionen nicht weiter reichen, und die Ameise tut dasselbe. Und ohne daß wir es wittern, schreitet vielleicht ein anderes, ungeheuerliches Geschlecht über uns hinweg wie über Ameisen, schreitet wie Götter von Stern zu Stern, unsichtbar für uns, die wir ihnen in unserer Körper- und Gedankenkleinheit verächtlich erscheinen.«
»Wünsch' ihnen gute Reise, Joseph. Dies bißchen Erdenpilgrimschaft gibt unserem Gewissen schon zur Genüge Arbeit.«
Otten lachte. »Müssen diese Kerle ein Gewissen haben!« –
Der Herbst zog herauf. Auf dem jenseitigen Rheinufer, in den Urdenbacher Baumwiesen, begann die Obsternte. Der Schleppverkehr auf dem Rheine wurde stärker, und hochbordige Dampfer fuhren zu Tal, um über die See England zu erreichen. Auch die Zonser Fähre hatte Arbeit vollauf. Junge, lebenslustige Akademiker von der nahen Düsseldorfer Kunstschule kamen, mit ihrem Malgerät behangen, über Benrath und Urdenbach herangezogen, jodelten die Fähre an und ließen sich in die Dornröschenstadt entführen. Vor Türmen und Mauern schlugen sie ihre Schlachten auf der Leinwand ihrer Feldstaffeleien, und aus den Wirtshäusern scholl Abends Sang und Klang.
Die kalten Herbstwinde machten dem fröhlichen Treiben den Garaus. Der letzte Maler zog ab und versprach, seine Rechnung von Düsseldorf aus zu begleichen, und die Fähre lag wieder halbe Tage, ohne bemüht zu werden.
Joseph Otten ging wieder aus. Die kleine Lebenswallung, die das Städtchen gezeigt hatte, war ihm schon zuviel gewesen, und er hatte sich vor ihr verschlossen gehalten. Nun nahm er wieder Besitz von seinen Lieblingsplätzen, und von seinem Gesicht las man die Genugtuung ab, daß er allein den Platz behauptete. Aber er war noch schweigsamer geworden.
Heinrich Koch beobachtete ihn scharf durch die Brille. »Es liegt am Wetter,« äußerte er zum alten Klaus, »die ›Saison‹ naht heran, und er spürt es im Blut. Man zieht nicht ungestraft ein Menschenalter durch die Welt.«
»Im Winter gehört sich der Minsch an den Ofen,« sagte der alte Klaus.
»Ich bin das Stillsitzen gewöhnt, Klaus. Aber auf den gemütlichen deutschen Ofen freu' ich mich wie auf eine Weihnachtsüberraschung. Man muß ein freier Mann sein, um das würdigen zu können.«
Als die ersten schweren Stürme über die Tiefebene brausten, die Weidenbäume kahl fegten und das Gras entfärbten, wurde Otten unruhiger. In der Frühe schon ging er den Rhein entlang, lief auf den Chausseen gegen den Sturm, vergaß die Mittagsmahlzeit und kehrte erst Abends müde und durchnäßt heim. Wenn ihn Koch überredet hatte, die Kleider zu wechseln und dem Abendbrot seine Ehre anzutun, klappte er das Klavier auf und saß grübelnd über den Tasten, bis seine Finger zuckten und aus suchenden Anschlägen Melodien heraussprangen, die er endlos variierte. Dann saßen Koch und der alte Klaus horchend in ihren Stühlen, benommen von der Macht, die aus der Seele des Mannes in die Töne, aus den Tönen in ihre so wenig verwöhnten Seelen glitt, und sie bettelten, wenn er aufhören wollte, so lange, bis er langsam den Kopf drehte, ihre glänzenden Augen sah und sich mit einem fernen, seltsamen Lächeln wieder dem Spiel zuwandte.
Nun war Schnee gefallen, und der einsetzende Frost ließ ihn nicht verwehen. Abgeschnitten vom Verkehr lag das Städtchen, kein Wanderer verirrte sich über die Chaussee, und der Rhein setzte an den Uferrändern dünnes Eis an. An der entlegenen Mauerecke, an die sich Klaus Gülichs Häuschen stützte, war es am einsamsten. Kaum, daß einen Bürger der Weg hier vorüberführte.
In den Zimmern brannten lustige Feuer in den Öfen. Heinrich Koch hatte sich die Erlaubnis erbeten, sie allesamt schüren zu dürfen, und er faßte sein Amt auf wie ein Lebenskünstler. Bevor er sich in einem Zimmer dem Ofen zuwandte, stellte er sich ans Fenster und ließ die lang' entwöhnte Winterlandschaft auf sich wirken. Die kahlen, weißen Flächen verursachten ihm ein angenehmes Gruseln. »Ich bin geborgen,« murmelte er, rieb sich die Hände und begann mit Schaufel und Eisen am Rost zu hantieren, daß alle Öfen rote Bäckchen erhielten. Und auf jede Ofenplatte legte er einen Apfel. Im ganzen Hause brodelte, zischte und duftete es, und der alte Junggeselle hatte seine Freude daran.
»Nun bilde ich mir ein, die Tür ging auf, und die Mutter käm herein.«
»Oder sons en lecker Mädche,« schmunzelte der alte Klaus.
»Und wir wären noch leckere Jungens.«
»Sind wir noch,« sagte der Hausherr und rieb sich den weißen Stoppelbart.
Dann gingen sie ihrer Arbeit nach. Der alte Klaus setzte sich auf der Diele in seinen Lehnstuhl, dicht neben den Ofen, und vertiefte sich in die sonderbare Historie seines großen Ahns, des Rebellen und Manufakturwarenhändlers Nikolaus Gülich zu Köln am Rhein, und Koch gewann Otten für seinen Plan, eine Spezialgeschichte der Römerzeit am Niederrhein zu schreiben.
»Das ist etwas für dich, Joseph. Und auch für mich. Wir müssen in die Heidenzeit hinein, Tatenmänner ausmarschieren lassen, ihren Schöpfungen nachgehen und doch dabei das Gefühl haben, daß der liebe Gott auch damals schon wohlwollend auf seine Kinder sah.«
Otten fing Feuer. Seine historische Schulung, seine Universitätsstudien kamen ihm zu Hilfe. Bücher und Pläne wurden verschrieben, Vergleiche angestellt, die Marschrouten und Lagersiedlungen der Legionen und ihrer germanischen Hilfstruppen festgelegt, und bald konnten sie dazu übergehen, Sonderkarten der einzelnen Bezirke zu entwerfen, die sie im kommenden Frühling gemeinsam durchforschen wollten. Unter der Hand wuchs die Aufgabe, von der Form drangen sie zum Inhalt, von den Siedlungen zu den Siedlern, Zeit und Gewohnheiten schraubten sich zurück, und das stille Land bevölkerte sich mit römischen Kriegern und ubischen Jägern, dunkeläugigen Hauptmannsfrauen und blonden Germanenmädchen. Mitten unter ihnen lustwandelten im grauen Haar Joseph Otten und Heinrich Koch, übten sich in den Gebräuchen, tauschten Grüße aus, ritten zur Jagd oder zum Streit, lasen die Dichter oder saßen mit Römern und Germanen zum Mahle nieder.
In dieser Zeit begann Otten zuerst wieder von seinen Erlebnissen zu sprechen.
Es war Abends, wenn die drei Männer um den Eichentisch der Diele saßen, die große, grünbeschirmte Petroleumlampe brannte, das Feuer im Ofen rumorte und Tringche, die gutmütige Wirtschafterin, nachdem sie den Grogkessel vom Feuer gerückt hatte, lautlos in ihrer Schlafkammer verschwunden war.
»Das war noch ein Frauenmaterial, damals,« begann er und winkte Koch zu. »Mark in den Knochen und das Herz auf dem rechten Fleck. Mütter und Kameraden in eins. Daher waren sie auch heilig.«
»Das ist heute nicht anders geworden, Joseph.«
»Heute? Dann halten sie mit ihren Talenten stark hinter dem Berg.«
»Das wohl nicht, aber die Zeit sieht diese Talente nicht mehr als Talente an. Sie werden von Glücksritterinnen überwuchert, man liebt die stärkeren Sensationen.«
»Ja, die Sensationen – –. Das liegt an Amerika. Amerika ist tonangebend geworden für das alte Europa, und sklavisch, wie wir in der Mehrzahl sind, äffen wir den Yankee-Doodle nach, ganz egal, ob es uns auf den Leib paßt oder nur den Amerikanern. Die Frauen marschieren darin voran. Was die Amerikanerin tut, wie sie sich benimmt, was sie anzieht, es ist ladylike. Meinetwegen! Aber unsere Frauen sind ein anderer Schlag und sollten sich daher ihre geistige und körperliche Toilette selber zurechtlegen. Diese ganze Freiheitspassion nach amerikanischem Muster ist für Deutschland ein Humbug. Wo sind unsere anbetungswürdigen Hausfrauen geblieben, die immer noch Zeit für unsere kleinen Sorgen fanden? Donnerwetter. Einer muß sie doch haben, die Zeit.«
Heinrich Koch blickte den Freund durch die Brillengläser forschend an. Otten fühlte den Blick und sah zur Seite. »Ich weiß schon, du meinst, wir wollen sie gar nicht anders haben, weil – nun weil's mal so Mode ist und man sich lieber einen alten Esel als einen rückständigen Zeitgenossen schelten läßt. Du, Heinrich, und was waren in unserer Jugend die Mädels so süß.«
»Ich hatte als Primaner eine Flamme, der ich das Heiraten versprechen mußte, bevor sie sich küssen ließ. So heilig war ihr der Kuß.«
»Und doch hast du sie sitzen lassen? Mir graut's vor dir, Heinrich.«
»Ich sagte: Wenn eine – dann dich! Und es wurde keine ...«
»Und sie nahm den Schleier –«
»Den Brautschleier. Sie heiratete einen Bäcker aus der Schildergasse und schenkte ihm fünf Söhne. Zu einem stand ich Pate, denn sie war mein Beichtkind geworden aus alter Anhänglichkeit.«
»Um des Kusses willen ... Ich zählte auch schon sechzehn volle Jahre, als mir das Geheimnis aufging. Sie war ein hübsches, blondes Mädchen, so alt wie ich, also reifer, und ich rannte getreu auf ihrer Spur. Nun, du kanntest sie ja, die Tochter des Ehrenfelder Grubendirektors. Wir liebten uns unsäglich, sagten es uns aber nicht und küßten uns deshalb auch nicht. Aber zuweilen tippten wir uns heimlich mit der Fingerspitze an. Das war ein merkwürdig elektrisierendes Gefühl. Bis ich eines Sonntags zum Besuch dort war, in einer größeren jungen Gesellschaft. Wie deutlich das vor mir steht. Sie trug ein blau und weiß gestreiftes Kleid mit einem breiten Matrosenkragen. Natürlich spielten wir Pfänder, und ich mußte mit ihr ›polnisch betteln‹ gehen. Für meinen Mann ein Stück Brot, für meine Frau einen Kuß. Für meinen Mann einen Kuß, für meine Frau ein Stück Brot. Und zum Schlüsse küßt sich auch das polnische Bettlerpaar. Es waren ganz weiche Lippen, die ich spürte, und von einer Süße, wie ich so etwas nicht für möglich gehalten hätte. Ich stand wie benebelt und wurde von der ausgelassenen Gesellschaft ausgelacht. Nur sie lachte nicht. Sie sah mir in die Augen, als ob sie weinen wollte. Ja – –. Und ich habe sie auch später zum Weinen gebracht, als ich sie vergaß.«
»Wenn ich mich doch, Düwel noch ens ...« begann der alte Klaus und brach kopfschüttelnd ab.
»Auch die Studentenlieben waren noch süß,« fuhr Otten fort, »und die übermütigen Kameradinnen auf dem Konservatorium.«
»Ich glaub's, ich glaub's. Die gemeinsame Begeisterung, das Pfeifen aufs tief unten liegende Philistertum. Ach Gott!«
»Und dann die ersten Streifen durch Italien. Jetzt noch geht mir das Herz auf.«
»Laß uns hineinschauen.«
»Was sie trieb, weiß ich nicht. Sie trug Kleider, wie man sie in den Campagna-Nestern trug, damals noch. – 328 –
Ich glaube, sie sammelte Campagnablumen und band Sträuße daraus, die sie frühmorgens in Rom in die Häuser trug. Mein Vater hielt mich knapp, aber ich abonnierte doch auf den täglichen Morgengruß. Und ich habe es nicht bereut ...«
»Und was wurde daraus?«
»Ich mußte weiter.«
»Schade.«
»Schade – –. Wie oft hat man fortgemußt und gedacht: du kommst ja wieder, die Welt läuft dir ja nicht weg. Und man lief vor sich selber weg und merkte erst, wenn man sich nach Jahren suchend umblickte, daß es das Schönste, das Keuscheste, das Seligste gewesen ist. Und nur eine Episode – –.«
»Alle die Attribute, lieber Joseph, treffen ja nur zu, weil es nur eine Episode blieb.«
»Aber die Episoden, welche folgten, waren doch auch nur Episoden und hielten dennoch den Vergleich nicht aus.«
»Weil du dich schon an die Episoden gewöhnt hattest und sie steigern wolltest. Vielleicht deshalb.«
»Ich will nicht darüber grübeln. Um die Wahrheit zu ergründen, müßte man seine Unbefangenheit wieder haben.«
»Das ist es.«
»Aber die Unbefangenheit schwindet mehr und mehr aus der Welt. Es mag ja seinen Vorzug haben, seine Töchter frühzeitig aufzuklären, obwohl es der Menschennatur wenig hilft und lediglich die Poesie zum Teufel jagt. Was glaubt ihr, wie sich die jungen Dinger um einen Künstler, eine Berühmtheit drängen? Und die Aufgeklärtesten am meisten, denn sie meinen, ihre Aufgeklärtheit imponierte und käme dem freien Künstlersinn auf halbem Wege entgegen. Daraus entwickeln sich dann nachher unsere modernen Damen.«
»Ähnliches sagte ich dir schon in Rom. Damals warst du noch ein Ungläubiger.«
»Eine Klasse nur nehme ich aus: die arbeitenden Frauen, die wirklich arbeitenden, die sich tapfer mit Gott und der Welt herumschlagen, um den Kopf hoch zu halten. Bewundernswerte Geschöpfe. Aber sie haben die Eigentümlichkeit, daß sie nicht von sich reden machen. Sie haben auch gar keine Zeit dazu. Die das große Wort führen, haben Zeit, und wer Zeit hat, arbeitet nicht. Arbeitsamateurinnen. Sie ziehen einen Kittel an, um bequemer zu faulenzen, und sprechen von Gleichberechtigung, um sich bequemer wegzuwerfen. Was habe ich in dieser Beziehung alles erlebt!«
»Sind die deutschen die Schlimmsten?«
»Nur die Ungraziösesten, weil sie die anderen nachahmen wollen.«
»Willst du nicht eingehender von den liebenswerten Frauen berichten?«
»Ich bin zu Ende für heute. Erzähle du.«
Heinrich Koch nahm seine Brille herab und putzte sie. »Ich bin persönlich über die spätere Bäckersgattin nicht hinausgekommen,« sagte er, während er die Brille umständlich wieder hinter den Ohren befestigte.
»Dann ist Klaus an der Reihe.«
Der Alte brummelte schon seit einiger Zeit vor sich hin. »Ich hann nor ein einzige gekannt, die for mich gepaßt hätt'. Dat wor ene leckere Puht, on lew hät die mich gehat wie nie en Minsch op der Welt.« – 330 –
»Wer war das?«
»Wenn ich mich doch,« sagte der alte Klaus, »wenn ich mich doch, Düwel noch ens, op ehre Name besinne künnt' ...?« Und ärgerlich vor sich hinbrummelnd, erhob er sich mit steifgewordenen Gliedern und holte sich aus dem Kessel ein frisches Glas Grog. –
Heinrich Koch hatte zu Weihnachten eine buntgefiederte Tonpfeife von Klaus zum Geschenk bekommen, die er, neben dem Hausherrn auf der Türschwelle stehend, in der kalten Winterluft anrauchte. Die beiden alten Junggesellen verstanden sich trotz des Unterschiedes der Jahre und der Lebensführung ausgezeichnet. Sie waren zufrieden mit dem Schicksal, wie es sich gestaltet hatte, und hielten jeden Tag für schöner als den voraufgegangenen.
»Nun ist der Jupp in der Gesundung, Klaus.«
»Inwiefern verstonn ich dat?«
»Er kann bereits aus seinem Leben erzählen, ohne plötzlich abzubrechen. Das ist ein Zeichen, daß er nicht mehr mit seinen grau gewordenen Haaren hadert. Wenn er nun noch des letzten, schweren Gedankens Herr geworden ist, wird er wie aus einer langen Betäubung erwachen.«
»Wat bedrückt ihn denn esu ärg? Kann mer nit helfe?«
»Es ist der Gedanke, sich zu wenig um Frau und Kind bekümmert zu haben. So wenig, daß er keinen Teil an ihnen hat. Von Rechts wegen keinen. Verstehen Sie?«
»Enä. Dat verstonn ich nit. Loß hä doch hingonn un et ihr sage. Dann is doch alles en der Reih'.« Heinrich Koch hustete. Der scharfe Tabakrauch der frischen Tonpfeife hatte ihm die Kehle gekitzelt. »Nee, nee, nee, Klaus. Ganz so einfach geht das doch wohl nicht. Es sind innerliche Menschen, und der Jupp besonders.«
»Ach watt. Innerlich oder äußerlich. Wenn sie sich bloß verdrage.« –
Es wurde immer kälter. Eisiger Wind fegte über das ungeschützte Land. Treibeis setzte sich am Rheinufer an, fror zusammen und bildete auf viele Meter in den Strom hinein eine feste, glatte Masse. Immer schmaler wurde das Strombett, immer schwerfälliger floß das Wasser, das sich mit grünlich schimmernden Eisschollen in das Bett teilte.
»Laß es da draußen Stein und Bein frieren,« meinte Otten und zog aus Karten und Büchern eifrig Notizen zusammen, »wir sind hier mit den ersten nachweisbaren Rheinbewohnern im Menschenfrühling. Hast du wieder Bratäpfel fabriziert, Heinrich? Ich würde an deiner Stelle auf die Jahrmärkte gehen, als Waffelbäcker oder dergleichen.«
»Du! Das ist ein Wort! Das Tringche soll uns Waffeln backen.«
»Ist er nicht ein großes Kind geblieben?« fragte Otten am Abend Klaus, als sie um den Eichentisch saßen und Koch sich die Waffeln zum Grog munden ließ. »Ich weiß nur nicht: ist er's geblieben, oder bereits wieder geworden?«
»Der Effekt ist derselbe: die Waffeln schmecken. Probier, Joseph. Wenn ich den Duft in die Nase bekomme, sehe ich mich immer als kleinen Jungen an der Hand des Vaters vor der Waffelbude stehen. Er besaß keine Reichtümer, aber Waffeln mußte er mir kaufen. Das waren Festtage.«
»Unsere heutigen Kinder sind über Kirmeßbuden erhaben.«
»Weil sie von ihren Eltern verwöhnt werden. Verwöhnen ist nämlich leichter als die rechte Liebe haben.«
»Die Menschen sind eben alle Egoisten. Kinder und Große. Nur wo der Vorteil winkt, ist Liebe.«
»Davon macht doch wohl die Elternliebe eine Ausnahme. Nie geht mir aus dem Gedächtnis, was ich einmal in Rom erlebte.«
Otten sah ihn an ...
»Ein Bandit hatte ein Mädchen getötet. Er wurde verurteilt. Der Vater des Mädchens, Schweißperlen auf der Stirn, ersucht die Richter und Geschworenen um eine Gunst. Man ließ den armen Teufel zu Wort kommen.
»Was wünschen Sie?
»Ich möchte ihn sterben sehen.
»Was wollen Sie?
»Dabei sein, wenn er stirbt! – – Das war ein Haß, so glühend, wie ihn nur Elternliebe zeugen kann.«
»War das Mädchen – minderjährig?« fragte Otten nach einer Pause.
»Ich sollte meinen, Joseph, Kinder bleiben für ihre Eltern immer minderjährig.«
An diesem Abend kam kein Gespräch mehr auf. Die Arme auf den Tisch gestützt, saßen die drei, horchten auf den schrillen Winterwind und hingen ihren Gedanken nach. – –