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Was ich nun noch zu erzählen habe, denn man wird mich ja danach gleichfalls fragen, ist sehr ernst, und ich will es ganz still, sehr kurz und sehr schmucklos erzählen. Ich liebe nicht traurige Geschichten. Früher, als ich jung war und heiterer denn heute, da meinte ich, daß es richtig und stark wäre, das Leben so mitleidlos zu schildern, dieser schönen Bestie, die uns zerfleischt, die Maske herunterzureißen und auf ihr bluttriefendes Maul zu weisen. Heute, da ich weniger heiter bin und diese Bestie nun wirklich kenne, da setze ich nur zu gern ihr die Maske wieder vors Gesicht, und ich bemühe mich, sie noch rosig und zart zu schminken, nur um das bluttriefende Maul zu vergessen.

Aber nehmen wir die Dinge nicht zu ernst, nehmen wir Gewesenes und Seiendes immer nur für das, was es ist: schmerzvoll oder schön, ernst oder heiter, immer nur als ein Spiel, dessen Sinn wir nicht kennen.

Ja, die schönen Kommoden Tante Minchens mit den bronzenen Beschlägen und den eingelegten Blumensträußen, die schweren, vergoldeten Betten und die goldenen Stühle, das alte Porzellan, sofern es Jason nicht haben wollte – all das schöne alte Zeug, es kam für wenig Geld auf den Trödel. Denn diese Zeit war hart und mitleidlos gegen das Alte. Aber wer sollte es auch nehmen? Jeder hatte ja sein eigenes Haus voll von eigenen Sachen. Und Jettchen, die vielleicht gern irgendein Stück aus Anhänglichkeit behalten hätte, bekam ja nun auch bald ihre eigenen Möbel zurück. Denn die Angelegenheit mit ihrer Scheidung war inzwischen ruhig ihren Weg gegangen, und gleich nach den Gerichtsferien sollte sie zum Austrag kommen. Ja, Jettchen hatte sogar einmal in Gegenwart Jasons bei dem Notar ein Zusammentreffen mit ihrem Mann gehabt, der im wortwörtlichen Sinne niemals ihr Mann gewesen war. Sie hatte sich vor dieser Zusammenkunft gefürchtet, weil sie glaubte, daß es für sie mit viel Aufregung verbunden sein würde. Und nun stand sie einem ganz fremden Menschen gegenüber, der sich bemühte, etwas mehr Umgangsformen zu zeigen denn ehedem, und an dem das Jahr Berlin äußerlich wirklich nicht ohne Spuren vorübergegangen war. Jettchen glaubte erst, sie würde noch etwas von jenem eingewurzelten Abscheu empfinden, der sie ehedem vor diesem kleinen Menschen zittern machte, aber sie fühlte nur eine tiefe und dumpfe Gleichgültigkeit, die ebensoweit von jedem freundlichen wie von jedem unfreundlichen Gefühl entfernt war.

Das erstemal in ihrem Leben begriff Jettchen die Wandelbarkeit unserer Gefühle, wie sehr doch Liebe und Haß in einem Jahr sich modeln und abschwächen, sie fühlte, wie alles an dem Menschen vorübergeht und wie das, von dem wir glauben, daß es unser Wesen bis in die tiefsten Tiefen aufreißt, nur eine dünne Ackerfurche zieht, die Wind und Regen und Schnee schon in einem Jahr verflachen, verwaschen, vertreiben und kaum noch bemerkbar sein lassen. Nur eine einzige tiefe Furche war durch ihr Leben gezogen worden – und die war unverwischbar.

Und da Jettchens Zimmer in Potsdam immer noch auf sie warteten, und da Jettchen durch alles Vorangegangene schwer ermüdet und körperlich und geistig matt geworden war, und da Jettchen draußen bei Tante Hannchen in Charlottenburg doch nur neue Aufregungen fürchtete, so fuhr sie an einem schönen Augusttage – aber er trug doch schon in seiner Morgenfrühe so den ersten Hauch des Herbstes in sich – hinaus nach Potsdam. Sie sehnte sich nach Ruhe, und die fand sie hier.

Jettchens beide Zimmer, die ganz für sich lagen, waren peinlich sauber, mit ihren weißen Mullgardinen, mit dem Trumeau, von dicken Säulen flankiert, mit dem birkenen Sekretär und mit dem alten Ledersofa, über dem an einer langbepuschelten Quaste ein goldgerahmter, ovaler Spiegel hing. Jetzt aber hatte man ihn – um ihn vor den Fliegen zu schützen – mit einem leichten Kleid von Mull verhängt. Denn Fliegen gab es hier draußen in Potsdam, kleine und große; Bassisten, Altisten und Tenoristen der Stimme nach; und sie schwebten fortgesetzt um die blaue Glaskrone, immer wieder dahin zurückkehrend, als ob sie mit unsichtbaren, elastischen Fäden daran befestigt wären. Aber wenn sie auch in der Glaskrone ihr Hauptquartier hatten – die Fliegen, sie waren im übrigen für irgendwelche Exkursionen nun durchaus nicht allein auf den Spiegel angewiesen, sondern der Spiegel in seinem Mullrock, er war fürder umgeben von einer ganzen Schar von ungeschützten schwarzen und buntfarbigen Steindrucken und Stichen. Hier hing der alte Invalide Koch, der in seinem hundersten Jahr zu seinem eigenen Besten mit acht Silbergroschen verkauft wurde, knickebeinig, mit einer Pfeife im Mund; und neben ihm, als Pendant, ein Porträt der Königin Luise, nach Kannegießer, auf dem ohne Zweifel der Perlenschmuck das einzig Ähnliche war. Hier war eine Ansicht von Sanssouci und dort eine Vedute des Platzes vor dem Brandenburger Tor. Aber das schönste war doch eine große Silhouette, die Sommerguth einmal mit kunstfertigen Händen geschnitten hatte, damals, als seine heute so bequeme Frau noch jünger und schlanker und eben noch nicht seine Frau war. Auf blauem Glanzpapier sah man da aus schwarzem Karton in feinstem Scherenschnitt einen Blumentisch, unter dem ein Hündchen saß. Auf dem Gitter des Blumentisches aber, rechts und links, tirillierten zwei Vögel. Der Tisch selbst trug eine große Vase mit der Inschrift »Zum Andenken« und dem ganz fein ausgesparten Bildnis eben jener einst so holden, nun so üppigen Frau Sommerguth, während – nicht genug damit – als Bekrönung des Ganzen aus der Vase ein großer Blumenstrauß hervorsproß mit Rosen, Tulpen, Nelken, die ja bekanntlich schneller als die Freundschaft verwelken sollen. Das war Sommerguths Meisterstück, der Stolz des Hauses und der Stolz der Familie. Wenn man die groben Hände sah, so glaubte man gar nicht, daß sie je so feine Arbeit gemacht hätten.

Gewiß, Sommerguths waren ganz einfache Leute, aber in ihrer ganzen Art lag eine bescheidene Zurückhaltung, die fast an Vornehmheit grenzte. Trotzdem sie Jettchen ja von Kind an kannten, fielen sie ihr in all der Zeit nie lästig, drängten sich ihr nicht auf und sprachen nur mit ihr, wenn Jettchen ihre Gesellschaft suchte. Der Mann war grau, groß, dürr und hager, und all seine Bewegungen hatten seitliche Richtung angenommen, wie das bei einem Menschen, der sein Lebtag am Webstuhl steht und Hunderttausende von Malen das Webeschiff hin und her wirft, wohl geschehen kann. Frau Sommerguth hingegen war in ihrem Häubchen aus schwarz und weiß gemischten Spitzen immer noch die Hübscheste von ihren Töchtern, und sie war es – trotzdem sie jetzt schon den Eindruck eines guten alten Ecksofas machte, eines molligen und brauchbaren Möbels, das nie im Weg steht und angenehm für so eine müde, schon etwas verbrauchte Menschenseele ist, wenn sie sich einmal ausruhen will.

Natürlich, solch eine Gartenwelt wie draußen in Charlottenburg bei Frau Könnecke, das gab es nun hier bei Sommerguths nicht. Aber trotzdem Jettchen hier in der Stadt wohnte – oben irgendwo in der Schockstraße –, sie sah doch von ihren Fenstern in ein kleines Stückchen Vorgarten; und der war jetzt im Herbst ganz von Goldknöpfen, Fingerhut und Krauseminze erfüllt. In dichten, bunten Büschen drängten sie um die beiden verschnittenen Taxuskegel ... um diese beiden Taxuskegel, die, immer wieder verkürzt, immer wieder oben an der Spitze neue Zweige trieben und die – nun schon lange nicht mehr verschnitten – jetzt wie die wirren und rebellischen Haare eines dunklen Krauskopfes emporstanden. Von der Vogelwelt aber, die einst in Charlottenburg bis in Jettchens Träume das bunte Gewirr ihrer Stimmen geschickt hatte, war hier nur so eine ganze Reihe von piependen Spatzen geblieben, die allmorgendlich und allabendlich vor Jettchens Fenster in den Stäben des Zauns saßen und sich über die letzten Tagesneuigkeiten unterhielten – der eine mit dem Kopf immer hü und der andere mit dem Kopf immer hott.

Und wenn auch der Vorgarten nicht so schön war wie der in Charlottenburg – oh, was waren doch die Straßen hier schön in Potsdam! Die ganze Mythologie, die Welt von Hellas und Rom, Heidentum und Christentum zogen in lockeren Reigen dahin, und all das war wieder umflattert und geleitet von einer endlosen Schar von leichtsinnigen Putten, die über diese Häuser und Giebel, über diese Fenster und Nischen, über diese Türen und Pilaster mit graziöser Hand ausgestreut waren. Da zerbrach Simson die Säule, und Theseus zerriß den Baumstamm. Der Gott des Winters blies sich in die eisigen Finger, und das Antlitz der Venus lächelte süß, umgeben von einem Gefolge von Amoretten, irgendwo von der Platte eines Stuckreliefs herab. Überall hatte der Stein Leben, und eine ruhige Freudigkeit zeigte sich in allen Formen. Und zudem war es noch, als ob niemand diese verzauberten Straßen stören dürfe. Jettchen konnte sich nicht erinnern, solange wie sie draußen in Potsdam war, daß sie je einen Menschen hätte schnell gehen sehen. Selbst die Offiziere, die Morgen für Morgen an Jettchens Fenster vorüberritten, sie ritten – solange sie in Sehweite waren – nur ganz gemächlich und fein still im Schritt.

Und dann – was fragte man endlich nach der Stadt? Da waren drüben doch gleich die Gärten, diese weiten, schönen, gepflegten Gärten, und die ganze Stadt schien mit ihnen in eins zusammenzugehen. All das war ja Tag für Tag noch so samtgrün und ruhig und träumte dahin in der wunschlosen, herbstlichen Stille einer weißen Sonne. Nicht einmal der Sonntag brachte mehr die Mengen der lärmenden Berliner heraus, die in Charlottenburg von früh bis abends in nie endenden Ketten an Jettchen Haus vorübergezogen waren. Aber vielleicht war das nur in dieser Zeit so, denn es war ja schon recht spät im Jahr. Doch in den Gärten ... in den Gärten natürlich, da merkte man nichts vom Herbst ... ebenso wie eine Frau, die sich pflegt, länger jung und schön bleibt als eine andere, die schwer zu arbeiten hat. Herbst war erst draußen – ringsum in den Wäldern, über den Wasserbahnen, im Ackerland und in den weiten Niederungen. Nur wenn Jettchen einmal an die Havel kam oder über das Land sah, so blickte sie schon fort über die rauhen Stoppelfelder und sah von weit her die letzten vergilbten Kornfelder in der Sonne leuchten, als wären sie aus altem und verbrauchtem Gold. Und Jettchen sah dann auch, wenn die Schwalben sich in Scharen über den tiefgründigen Wiesen sammelten und zwischen den Buschketten und Weidenwegen ihre jungen Flugkünste übten. An alldem spürte sie, daß die rauhe und kalte Zeit sich wieder ankündigte.

Aber drinnen im Park, da war eben noch nichts vom Herbst zu fühlen, und durch die Bäume hindurch sah man den blauen Himmel oft so tief und glühend herniederwinken wie von alten Glasbildern. Ganz warme und sonnige Tage kamen noch, solche, an denen man nicht von der Welt Abschied nehmen möchte, solche, von denen man nicht begreifen kann, daß Menschen über die Erde gegangen sind, die sie nun nicht mehr sehen; ebensowenig, wie man es verstehen kann, daß es einmal wiederum gleiche Tage geben wird, wenn wir unsere Augen geschlossen haben.

An solchen Tagen schritt Jettchen durch die weiten Gärten dahin, ganz verliebt in diese Scheinarchitektur: in die Säulengänge und Säulenreihen; in die offenen Tempelchen, die kaum vor der Sonne Schutz gewährten; in die Lusthäuschen und die Pagoden; in jene kleinen Lauben aus Eisengitterwerk mit der vergoldeten Sonne über der Kuppel und mit den Masken und Instrumenten, die die Wände und Türpfosten in lockerem Gefälle überzogen. All diese hundert Einfälle, einen Garten schön und lieblich zu machen, sie fesselten gerade an solchen Tagen Jettchen immer wieder. Sie liebte dann die verschnittenen Hainbuchen, die sich vollkommen zu grünen Dächern von hüben und drüben ineinander verstrickt hatten und in deren Nischen und Fenstern – den niederen Steinbänken gegenüber – Putten ihre kleinen, koketten Steingruppen von Frühling, Sommer, Herbst und Winter, von Musik, Dichtkunst und Malerei bildeten. Sie war dann entzückt von diesen kleinen Gartenhäuschen, Villen und Tempelchen, deren weiße und goldene Wände durch lange Lindenwege blinkten – lange Lindenwege, über die nun schon Jahrzehnte nicht mehr die Schere des Gärtners gekommen war. Ganz knollig waren sie unten am Stamm geworden, die Linden, und breit mit Schößlingen und jungen Wildsprossen überdeckt, zwischen denen sich die zwitschernden Finken tummelten. Aber mehr als all das liebte Jettchen doch jene vier Orangenbäume in den Kübeln, die eine kleine Fontäne umstanden, ein Wasserbecken, dessen schwarze Fläche von den roten Rücken der Goldfische belebt war. An solchen warmen Mittagen genoß sie diesen Anblick, wenn die Sonne wie Silber und Stahl hoch vom Südwesten her über die blaugrüne Laubwand der Bäume das kleine Becken überflutete und sich das ganze Bild in dem halbrunden Ausschnitt eines hohen Laubganges wie in einem dunklen Rahmen bot.

Langsam an den kuglig geschnittenen Buchsbäumen ging Jettchen dann vorüber, betrachtete die zierlichen Nadelfuchsien und atmete den Duft der alten Heliotropstämme, die am Wege standen – nur um immer wieder zu jenem kleinen Wasserbecken mit seinen Orangenbäumen zurückzukehren. Ein kurzes, träumendes Hinundwiderschreiten war das in dämmernden Laubgängen, deren Boden grün und golden durchwebt war – ein kurzes, träumendes Schreiten, bis Jettchen von neuem hinaustrat in die volle, weiße, schon herbstliche Sonne.

Aber ihr ganzes Herz gehörte doch endlich jener Brunnengruppe – Neptun und Galatea, von Meerpferden gezogen, mit Tritonen vor sich und Tritonen an der Seite –, die sich aufbaute in einem kleinen, schmalen Teich, und der war jetzt im Herbst ganz von Entengrütze zugesponnen, ganz von den braunen Garben des Wasserampfers besetzt und an allen Ecken und Enden von den spitzigen Weidenruten überwuchert. Breites Kraut, Fenchel und Schilf hielten die morsche, hohe Sandsteingruppe halbverdeckt, und zwischen den Tritonen und den Meerpferden kletterte das grüne Leben empor; und es machte nicht einmal halt vor dem Beherrscher der Fluten, der unfähig schien, sein altes »Quos ego« zu rufen. Aber immer thronte sie da oben, sie, die schöne Meerfrau, ganz ruhig und steif, in lächelnder, kühler Schönheit, und überließ der milden Herbstsonne die steinernen Formen ihrer wilden und unbekümmerten Nacktheit – auch in den Sommergluten noch eine kühle Herrscherin.

Jettchen war es manchmal, als müßte sie diese kühle Nymphe da oben beneiden, der alles zu Füßen lag, die jedem etwas gab und die doch für jeden nur das gleiche unberührte Lächeln hatte. Jettchen war jetzt müde. Der Kampf hatte für sie aufgehört, und in dieser schönen Ruhe waren langsam ihre Wünsche und ihr Wille entschlafen. Sie verstand sich manchmal selbst nicht mehr. Sie fühlte, daß ihre Briefe an Kößling so arm und nüchtern wurden, so ganz anders, als sie ehedem waren. Und wenn er von neuen kleinen Erfolgen schrieb oder wenn er von ihrer Zukunft sprach – denn jetzt, da alles ruhig und langsam seinen Gang ging, durfte Kößling ja wohl an eine gemeinsame Zukunft denken –, dann hatte sie das vordem warm vor innerer und freudiger Erregung gemacht. Jetzt las sie darüber fort, kniffte den Brief zusammen, tat ihn in ihren Sekretär zu den anderen und ging wieder hinaus, ihre weiten, einsamen Wege durch die Gärten und vor die Stadt; oder sie saß über den Büchern, die ihr Jason mitgegeben hatte. Und wenn sie sich des Abends hinsetzte, um Kößling zu antworten, so mußte sie den Brief erst wieder hervornehmen, denn sie wußte kaum noch, was darin stand. Sie fühlte, daß sie von Kößling geliebt wurde, und diese Empfindung tat ihr wohl. Denn es gibt ja keine Frau, die, ob gewährend oder versagend, nicht gern hörte, daß man ihr gut wäre und daß man ihre Schönheit anbete. Aber sie selbst war an alldem unbeteiligt, und in ihren stillen Stunden kamen ihr nie die Vorstellungen an eine gemeinsame Zukunft und an ein Glück eines für den anderen. Jettchen selbst sagte sich hundertmal, daß es vielleicht nur durch alles Schwere käme, das sie jetzt durchgemacht hätte, durch all die Aufregungen eines langen Jahres, die bewirkt hätten, daß sie nun so stumpf geworden wäre. Sie wollte sich immer von neuem überreden, daß ja in Zukunft wieder alle Quellen, von denen sie oft in verzweifelten Stunden glaubte, daß sie ganz versiegt wären – daß sie ja alle in ihrem Innern wieder emporsprudeln müßten.

Endlich war es ja doch so ein Stück warmen Lebens, das da draußen an die Tür pochte, und endlich, wie hatte sie sich früher nach seinen Küssen gebangt. Gewiß, manchmal, wenn sie in Onkel Jasons Musenalmanach Verse las wie diese:

»Mit meinem Kuß will ich ihn tränken,
nach dem er sonst so durstig war,
und ihm zum Spielwerk will ich schenken
mein aufgelöstes schwarzes Haar« –

gewiß, dann erwachte wohl auch jetzt für kurze Augenblicke unter der Macht der Vorstellung eine heiße Sehnsucht nach Kößling. Aber Tage und Tage wieder gingen hin, ohne daß sie seiner gedachte.

Und wenn sie sich auf ihren Spaziergängen in geheimen Selbstgesprächen befand – denn wir reden ja immer mit Leuten, die weit fort von uns sind –, so war das stets ein anderer, mit dem sie sprach, war das immer Onkel Jason, dem sie all ihre innersten Gedanken anvertraute. Wie sie zu ihm stand, wußte sie ja selbst nicht, sie wußte nur, daß sie ihm so nahegekommen war wie keinem Menschen in ihrem Leben. Und hundertmal las Jettchen wieder in dem Buch von Charlotte Stieglitz, und nie nahm sie es zur Hand, ohne sich jene Verszeilen von neuem einzuprägen, die ihr Jason in das Buch geschrieben hatte, und über ihren Sinn zu grübeln – weswegen es nur käme, daß er sie von sich stieße.

Wochen und Wochen gingen so dahin in einem friedsamen Leben, das nur unterbrochen wurde, wenn vielleicht einmal Ferdinand an einem Sonntag früh auf einem Ritt herauskam und einen Augenblick bei ihr vorsprach, gerade so lange, wie das Pferd brauchte, um sich zu erholen.

Von den weiten Wasserflächen ringsum trieb nun schon manchmal an den frühen Septemberabenden der Nebel in die Straßen hinein, und alles Grün, jeder Baum und jedes Kraut, gab seine letzte, schwere Üppigkeit, bevor sich die ersten Blätter gelb verfärbten. Überall in den Gärten standen die Herbstblumen, breit, grell und groß, und sie leuchteten mit einer wilden Pracht in die schon frühen Dämmerungen.

Salomon und Rikchen waren noch immer auf Reisen, und Jettchen erwartete von Tag zu Tag nun ihre Rückkunft, um wieder eine Stelle zu haben, wo sie einkriechen konnte. Denn wenn sie auch nicht mehr eine arme Waise wie ehedem war, sondern nun – noch von Onkel Eli und Tante Minchen her – so viel ihr eigen nannte, daß sie von der Summe und der Macht dieses Geldes eigentlich gar keine rechte Vorstellung besaß, so hatte sie doch bei alledem kein Heim und keine Stätte, keinen Flecken Erde, wo sie hingehörte. Und sie sehnte sich nach diesem Jahr des Umhergestoßenseins wieder nach ihrem alten Zimmer bei Onkel Salomon, in dem sie doch wenigstens ein Zuhause hatte.

Und alles kam, wie es kommen mußte.

Gerade als Jettchen an dem Nachmittage des ersten Oktober, zu einem Spaziergang gerüstet, an das Fenster trat, um – die Sonne hatte sich eben verschleiert, und der mattblaue Tag hatte sich verdunkelt – nach dem Wetter zu sehen, ob sie den Weg durch den Park wagen könnte, da erblickte Jettchen jemand, der draußen am Gartengitter stand, unschlüssig und erhitzt vom weiten Weg. Und sie schrak zusammen, freudig wie ehedem, ab sie an jenem Frühlingsnachmittag draußen in Charlottenburg am Fenster saß und an der Vorderwand des Handtäschchens stickte, ah der Schäferin mit dem gelben Kleid und dem blauen Schäfer, der sich zu ihr neigte.

Als aber Kößling Jettchens ansichtig wurde, da flog ihm die Freude wie ein Sonnenglanz über das Gesicht. Und auch Jettchen zitterte vor freudiger Erregung am ganzen Körper. Denn endlich zieht es doch Jugend zu Jugend mit magnetischer Gewalt. Und Jettchen war bei ihm, und sie hing sich an seinen Arm, und sie sprach auf ihn ein, daß sie sich so freue, daß er endlich einmal herauskäme, daß sie nun zusammengehen wollten und daß sie ihm alles hier zeigen würde. Er lachte nur und fand keine Worte und küßte ihr lachend und dankbar die Hände. Den ganzen Nachmittag schritten sie so nebeneinander dahin auf stillen und herbstlich verlassenen Wegen, stundenweit hinaus in die nimmer endenden Gärten. Der Himmel hatte sich wieder entwölkt, war nun ganz mattblau geworden; die schräge Sonne kam hoch über die Bäume fort durch einen zarten und flirrenden Dunst zu ihnen.

Sie gingen beide über das weite Längsrund zwischen den Kommuns und dem Neuen Palais. Und über die grünen Rasenflächen, aus den runden Beeten farbiger Herbstblumen zog der Duft des Heliotrop zu ihnen herüber. Eine Turmuhr spielte ein klingendes Glockenzeichen zu ihnen herab, und die Ablösung der Wache klirrte über die ziegelgepflasterten Gänge. Und über die Hunderte von Sandsteinhermen des Zauns, die ganz vergrünt in dem Halbdunkel des Laubdachs träumten, huschte so etwas wie ein Lächeln; die Figuren hüben und drüben an den Dächern, sie lächelten ebenfalls und reckten die Hälse. Ja, selbst die großen, pausbäckigen Engelsköpfe drüben über den Fenstern – sie, auch sie schienen plötzlich über diesen preußischen Drill zu lächeln.

Jettchen und Kößling blieben eine ganze Weile an dem letzten kleinen Seitenflügel des Schlosses stehen, und Kößling erklärte Jettchen die Sandsteinfiguren, die da oben in lustigen Posen ihre Glieder wiegten. Vielleicht waren es Frühling, Sommer, Herbst und Winter oder Jagd, Fischerei, Geographie, Zeichenkunst und Sternkunde. Er wies ihr all diese Allegorien, Anspielungen und Beziehungen, mit denen man einst das Leben umgürtete. Er zeigte ihr, wie Apollo herantänzelt, gefolgt von Musen und Charitinnen der Mark. Den Theseus zeigte er ihr und den Simson und den Herkules. Und er wies Jettchen auch Vertumnus und Pomona.

Wer das wäre, Vertumnus und Pomona, fragte Jettchen.

Und Kößling begann ihr die Geschichte von Vertumnus und Pomona zu erzählen. Ein schöner Jüngling, sagte er, hätte sich um die Pomona beworben, aber sie hätte ihn nicht gehört. Da hätte er sich in eine alte Frau verwandelt und hätte in dieser Gestalt ihre Liebe gewonnen. Jedenfalls, meinte Kößling, wäre das eine höchst seltsame und vieldeutige Sage – diese Allegorie von dem Alter, das um die Jugend wirbt.

Während dieser Worte aber hatte Jettchen plötzlich Kößlings Arm losgelassen und ging nun einige Schritte von ihm entfernt, den Kopf gesenkt und das Gesicht wie mit Blut übergossen. Aber unter allem, was sie nun sprach, zitterte immer wieder die Erinnerung an jene seltsame Sage von Vertumnus und Pomona, die sie plötzlich bis in ihr Innerstes erschreckt hatte.

Und sie gingen beide weiter und weiter, und Jettchen sah kaum hinauf, als ihr Kößling lächelnd Venus und Amor zeigte und Venus und Hymen, die die großen Laternen trugen und deren Formen weich geworden waren vom Wind und Wetter und aufgerauht durch die lange Reihe der Jahre. Ganz still ging Jettchen neben Kößling her; aber der verstand ihr Schweigen nicht und deutete als Glück, was doch nur Angst war. Sie sahen noch einmal zurück vom Drachenberg auf das Schloß und auf die Kommuns, die mit ihren Kuppeln und Dächern aus dem ununterbrochenen Mantel von Grün ragten; und sie betrachteten es, wie in der sinkenden Sonne die runden Fenster des Obergeschosses leuchteten, gerade als brenne und glühe eine Riesenesse hinter ihnen. Dann aber nahm die kleine alte Maulbeerpflanzung sie auf, mit den Gängen dazwischen, die ganz von Wein überrankt und von Kürbis umsponnen waren. Jettchen und Kößling gingen die schmalen Wege auf und nieder, die das umfriedete Baumland durchquerten, sie schritten hindurch durch dieses eine einzige riesige, von Gängen und Gassen durchschnittene Blumenbeet. Wegauf, wegab prangten da neben ihnen, wie aus eigenen Tiefen glühend, in ungezählten Mengen die Feuerwerkskörper der Sonnenblumen; und alle Farben der herbstlichen Blüten fanden sich zu immer neuen Mustern zusammen: Dahlien und Georginen, Astern und Phloxe. Der Amarant ließ seine roten, hängenden Wedel ordentlich über den Boden schleifen, und die weißen und roten Jalappen, die vor der Sonne die Blüten wie welk gesenkt hielten, sie hatten sich nunmehr erschlossen und strömten jetzt vor der beginnenden Dunkelheit ihren beißenden und grellen Duft in den herbstlichen Abend hinaus. Und große Schwärmer schossen pfeilschnell und summend heran, wie aus endlosen Fernen – nur um einen Augenblick wie graue Schatten unruhevoll über den Blüten zu stehen und dann, von einer heißen Sehnsucht getrieben, wieder weiterzuschießen, gleichsam als wäre es ihnen gegeben, den Raum mit Gedankenschnelle zu überbrücken.

Keinem Menschen begegneten die beiden mehr, und wenn sie nicht gesehen hätten, daß die Wege geharkt waren, sie würden nicht geglaubt haben, daß je Menschen in dieses verzauberte Blumenland kämen. Sie würden geglaubt haben, daß alles den Laubvögeln gehörte, die – bevor sie sich zur Ruhe begaben – unruhig von Krone zu Krone hinüber- und herüberflatterten, oder der Drossel, die an einer Ranke zerrte.

Und Kößling zog Jettchen in all dem fiebrigen Blühen dieses ersten Herbstabends an sich; und sie umschlangen sich beide mit einer fast wilden Wut; und Jettchen meinte besinnungslos werden zu müssen vor seinen Lippen und unter seinen Umarmungen. Dann aber standen sie, als der Himmel schon dunkelte und von feurigen Bändern durchschnitten war, oben auf der Terrasse von Sanssouci und sahen hernieder über die Senkung des Tals; und die Hügel drüben auf dem andern Havelufer verschleierten sich schon in der steigenden Dunkelheit des Abends. Wie die Kulissen eines gewaltigen Theaters standen unten um die Fontäne die zerflatterten, einzeln stehenden Baumkonturen. Und auch jetzt noch, in dem schwankenden, letzten Licht, sahen die beiden, wie unten neben den weißen Marmorfiguren das schwarze Rund der Fontäne von den großen Zügen der Goldfische deutlich rot und kupfrig gesprenkelt und getupft war.

Unten aber, in einer Nische auf einer Marmorbank, die schon von den ersten welken Blättern und den ersten abgefallenen roten Beeren überstreut war, lagen sie beide noch einmal Herz an Herz, bis daß Jettchen drängte, nach Hause zu kommen. Und aus dem Licht, das hier noch vom scheidenden Tag zwischen den Bäumen hing, tauchten sie in die engen, dämmrigen Straßen hinein.

An dem Zaun ihres kleinen Vorgartens reichte Jettchen Kößling wortlos die Hand, und sie ging dann schnell in das Haus, mit diesem schönen, stolzen Gang aller Geberts, ganz aufrecht und den Kopf im Genick. Der seidene Schal, den sie um die Schultern hatte, der blähte sich, wie sie so dahinschritt, über ihrem Rücken wie ein Segel im Wind.

Und vielleicht, wenn sich dieser seidene Schal nicht gebläht hätte und wenn seine schwebenden Enden nicht so schön und verlockend dahingeflattert wären, wäre Kößling still und traurig nach Hause geschlichen. So aber stürzte er Jettchen nach und ergriff noch einmal ihre Hand.

Und dann kam alles, wie es kommen mußte.

 


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