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Und alles kam, wie es kommen mußte. Man freute sich auf Frost und klare Tage, aber das Wetter hielt nicht an. Am nächsten Morgen war schon wieder der Himmel umzogen, und der weiße Reif auf den Dächern der Remisen, auf dem hölzernen Gartenzaun am Lagerhaus, in dem Winkel unter der Königsbrücke, dort, wo im Frühjahr die paar Veilchen standen und wo jetzt der Wind das welke Laub zusammengetrieben hatte – der weiße Reif mit seinen kleinen, weißen, blitzenden Zinken und Zacken, der verging, gerade als wäre er zu fein und zu stolz dazu, sich allen Blicken preiszugeben. Nur ein paar Jungen, die Milch trugen, nur ein paar Bauernwagen, die von draußen zum Gänsemarkt kamen, nur der Barbier, der mit fliegenden Rockschößen beim ersten Morgengrauen von Tür zu Tür lief, der durfte ihn sehen, und er durfte die Nachricht von Ort zu Ort tragen, daß es draußen wirklich Winter würde. Aber bloß bei den ersten Kunden kam er dazu, hiervon zu sprechen. Nachher gab es Wichtigeres für ihn mitzuteilen. Und die Jungen mit den Milchkannen, die durften sogar mit den Stiefelhacken noch versuchen, ob das Eis auf den Pfützen, das mit seinen langen, blanken Kristallnadeln so schön glatt aussah, etwa schon zu einer Schlitterbahn hergäbe. Doch ehe sie es recht bedauern konnten, daß es das nicht tat, ehe sie noch von ihren Stulpenstiefeln die letzten Spuren ihrer vergeblichen Versuche getilgt hatten, da war an Reif und Eis und Winter gar nicht mehr zu denken. Wie ein grauer Rauch zog es von den niederen Dächern, Zäunen und stillen Winkeln und überzog dafür alles mit einer glitschigen Nässe. Und nicht ein Bröckelchen Eis duldete es mehr auf den Pfützen, sondern es sorgte dafür, daß sie ihren zähen Schlamm bis an den Bürgersteig schoben und daß die Kopfsteine und Platten, die sich so schmal dahinzogen, ganz wie in klebriger Feuchtigkeit gebadet waren. Und aus dem Nebel wurde ein Triefen und Sprühen; und aus dem Triefen und Sprühen wurde langsam ein zäher, gleichmäßiger Regen, der aus dem grauen Rauch herabsank und alles überzog mit seiner blanken Feuchtigkeit; der bis in die Häuser und Nischen und Torbogen drang und auf den alten Höfen nicht einmal die Ecken vergaß, an denen, nach Möglichkeit geschützt, die leeren Geschäftskisten zu Pyramiden aufgeschichtet standen.

Aber dieser Regen und die Unfreundlichkeit des Tages machten es gerade heute doch nicht, daß die Straßen deswegen weniger belebt waren. Die Postwagen natürlich, die mußten kommen mit ihren ganz bespritzten Ledern und über und über grau vom Schmutz der Landstraßen, und die Lastwagen, die hinausgingen nach Frankfurt an der Oder, hochbepackt und von schweren, dampfenden Gäulen mit klirrenden Geschirren gezogen, für die gab es gleichfalls kein schlechtes Wetter, und wenn der Schnee zehn Zoll hoch gelegen hätte. Aber warum dieser oder jener und mehr noch diese oder jene, die gewiß kein Geschäft auf dieser Welt hatten, nichts versäumten und ruhig auf angenehmere und stillere Tage warten konnten, auf der Straße sein mußten und Besuche machen mußten, bei denen man den Leuten doch nur die gebohnten Stuben vertrat – das, ja, das konnte einen schon in Staunen setzen! Soviel Kunden hatte der Tischler Löwenberg noch nie gesehen. Und das Haus, in dem das alte Fräulein mit den Pudellöckchen wohnte, in der Poststraße – es war beinahe so klein und schief wie sie selbst –, das wurde rein zur Wallfahrtskapelle. Betagte Damen in großen gestickten Umschlagtüchern, die jahrelang nicht mehr aus der Tür gegangen waren, erkannten plötzlich, daß sie schon lange sehr ungezogen wären und die Frau Minchen Gebert auf dem Hohen Steinweg nicht einmal besucht hätten; und sie meinten, daß Tag und Stunde gerade günstig wären, um das nachzuholen. Und alte Herren, die sich wegen des Reißens vor jedem Windzug und vor jedem Regentropfen hüteten und vormittags nie weitergingen als bis zur nächsten Tabagie, zeigten plötzlich hippologisches Interesse und wandelten bedächtig unter ihren großen Regenschirmen die Königstraße hinauf und hinab und betrachteten aufmerksam die ostpreußischen Wallache vor den Prenzlauer Wagen, als müßte diese Anteilnahme den alten Elias Gebert herbeilocken. Vielleicht konnte man von dem etwas erfahren.

Aber sei es, daß der alte Onkel Eli wirklich sein Reißen in der Schulter hatte, sei es, daß ihm ausnahmsweise das Wetter zu schlecht war – die alten Grauköpfe mochten straßauf, straßab gehen –, Onkel Eli war nicht anzutreffen. Und ebensowenig kamen die betagten Damen bei Tante Minchen auf ihre Rechnung, denn wenn Minchens Minna auch ein bißchen taub war, soviel verstand sie doch, daß die alten Herrschaften gerade heute keinen Besuch wünschten.

Hannchen hingegen fühlte sich geehrt durch die Leute, die zu ihr kamen – es war doch ein Zeichen von Teilnahme, daß sie in diesen schweren Tagen an sie dachten; und Tante Hannchen hatte deshalb, gerade wie zu einem Trauerfall, ein schwarzes Taftkleid angezogen; in dem saß sie nun breit in der Mitte vom Sofa, eine Fußbank unter den gestickten Morgenschuhen und ein Kissen im Rücken. Und in einer Stunde sprach sie mehr, als sie in einer Woche verantworten konnte. Wenn Ferdinand dagewesen wäre, so hätte er das wohl nicht geduldet. Aber Ferdinand war nicht da.

Doch während sonst Tante Hannchen klüglich von den Gängen ihres Mannes schwieg und dem Besuch stets sagte, daß ihr Mann in den Remisen oder in der Lackiererei beschäftigt wäre, nahm sie heute kein Blatt vor den Mund, wo er hingegangen war. Ganz früh – sie sei noch gar nicht aufgewesen – habe schon der Lakai vom Prinzen Karl bestellt, ihr Mann möchte um zehn Uhr ins Palais kommen und Muster vorlegen. Und es sei gut gewesen, daß ihr Mann gerade in dieser Woche die Neuheiten aus Paris bekommen hätte: göttliche Wagen, von einer Eleganz und einem Pli, wie sie das hier gar nicht machen könnten.

Aber trotz Tante Hannchens Beredsamkeit erfuhr doch keiner etwas Rechtes und Befriedigendes über den Fall. Immer wieder hörte man die paar Dinge, die man schon längst wußte. Gar keine pikanten Einzelheiten waren in Erfahrung zu bringen. Wie das nun zusammenhing, wie es sich eigentlich ereignet hatte, darüber bekam keiner Klarheit. Nichts Derartiges war vorher von Jettchen geäußert worden, keine Silbe; keiner hatte etwas Ähnliches erwartet, alles war beim Schönsten und Besten – und plötzlich hieß es, die junge Frau sei fort. Herrgott, gab das einen Schrecken! Daß der alte Junggeselle, Jason Gebert, dem überhaupt nicht recht zu trauen war, dabei seine Hand im Spiele hatte und sicherlich in ganz anderer Weise, als er es darstellte, das sähe jedes Kind.

Und die, die ganz kühn waren und zu Salomon Gebert ins Geschäft gingen, um ihn an irgendwelche Lieferungen zu erinnern oder um ihm mitzuteilen, daß das offerierte Packpapier um einen Dreier billiger zu beschaffen sei, und die dabei so nebenher und linksherum etwas zu hören hofften, die erfuhren nun schon gar nichts. Denn der Chef, hieß es, wäre nicht da; und der alte Demcke nahm zwar von der Notierung des Packpapiers freudig Kenntnis, knurrte aber, daß ihn die andere Sache nichts anginge und er nichts davon wisse.

Salomon Gebert war wirklich nicht ins Geschäft gekommen, den ganzen lieben langen Tag nicht, trotzdem schon Weihnacht vor der Tür und man noch mit der Lieferung und mit dem Versand im Rückstand war. Solange das Geschäft bestand, war Salomon nie ohne Grund auch nur eine Stunde fortgeblieben. Ganz gleich, was gestern gewesen, ganz gleich, was heute war. Immer und allezeit war Salomon Gebert in seinem Geschäft der erste, der kam, und der letzte, der ging. Er war dabei, wenn der Hausdiener aufschloß, und er nahm die Schlüssel ihm beim Weggehen aus der Hand. Er hatte es so getan, als es nötig war; und er tat es noch jetzt, als es schon längst nicht mehr nötig war, gleichsam aus einer abergläubischen Gewöhnung – gerade, als ob daran das Geschick seines Hauses hinge. Und heute hatte er das erste Mal seit Jahrzehnten die Gewöhnung durchbrochen; aber hätte er es auch nicht getan, es hätte wohl keiner eine Antwort von ihm erhalten, und vielleicht hätte auch keiner, der ihn gesehen, ihn zu fragen gewagt.

So also war das Neuigkeitsbedürfnis aller näheren und weiteren Freunde und lieben Bekannten der Geberts – und wer zählte sich plötzlich nicht dazu! – keineswegs gestillt worden. Und als gut eine Stunde früher denn sonst der Tag verdämmerte und gut eine Stunde früher denn sonst in Salomons Kontor der Hausdiener Gustav die hohen Lichte auf den hohen Stehpulten anzündete, vor denen sich die Buchhalter auf den Füßen wiegten wie Pferde vor der Krippe – da, ja, da war zwar die Nachricht von dem Geschehnis wohl sechsmal um die Mauern der Stadt geflogen, hatte jedes Ohr gestreift, gestreift und wieder getroffen, man hatte die abenteuerlichsten Vermutungen ausgetauscht und für wahr ausgegeben; aber klüger war eigentlich niemand geworden. Niemand wußte mehr als gestern abend, da zuerst die Flageoletts und Pikkolos zwitscherten und die Tubenstöße der Frau Fama bis unter Himmelbetten und Mullvorhänge drangen und diese schwanken und flattern machten. Nun wartete man auf die Zeitungen, ob die etwas geben würden. Der »Beobachter« würde sich das sicher nicht entgehen lassen und Krauses »Berlin« wohl auch nicht ... oder Sommerfeld? Irgendwo würde man schon Sicheres erfahren.

Und während nun so das Geschehnis alle Welt erregte und immer weitere Wellen schlug – denn alle erinnerten sich mit einemmal, daß die Geberts doch eigentlich einst recht angesehen waren, und alle gönnten es ihnen und freuten sich innerlich, ihren Namen und ihren Ruf so recht durch den Mund zu ziehen, vor allem, da ja, wie sie meinten, die Sache eines lustigen Beigeschmacks nicht entbehrte –, währenddessen ... ja, währenddessen waren eigentlich die, die am nächsten betroffen wurden, ziemlich ruhig.

Nun, peinlich war es immerhin für Julius Jacoby gewesen, denn er hatte etwas anderes erwartet. Aber da sich für ihn ein gutes Gewissen mit manchem Glase guten Weins – vom Champagner ganz zu schweigen – und mit einem guten, neuen Bett vereinten, so konnte er doch am nächsten Morgen von sich sagen, daß er eigentlich nicht gerade schlecht geschlafen hatte. Und als er sich gar in der Frühe in seiner neuen Wohnung – warum hätte er etwa da nicht hingehen sollen, auch ohne Frau? – etwas umtat und sah, wie alles aus dem vollen geschöpft war und mit Liebe bereitet, gleich einem guten, hausbackenen Butterkuchen, da wurde ihm, bei aller pflichtschuldigen Bekümmernis – auch ohne Frau –, ganz warm ums Herz. Doch als nun erst Tante Hannchens Mädchen ihm den Kaffee brachte, der sich an Güte und Ausgiebigkeit – sie hatte für zwei Personen gekocht – merklich von dem seiner letzten Zimmerwirtin unterschied, und als sie ihn da so mitten hineinpackte in ein ganzes Feldlager von frischen Brötchen, von Butter, Honig, Marmelade und von silbernen Sahnenkännchen, von bauchigen Zuckerdosen und durchbrochenen Zuckerzangen – da konnte sich der Vetter Julius doch nicht enthalten, das Liedchen zu pfeifen, das man gestern in so vielen Versen bei seiner Hochzeit gesungen hatte, das Liedchen von dem »Ei, was braucht man, um glücklich zu sein«. Und er pfiff es immer noch, als er schon aus der Tür trat, um ins Geschäft zu gehen. Denn jetzt, sagte er sich, müsse er im Ernst der Arbeit Vergessenheit suchen.

Tante Rikchen hingegen hatte den ganzen Tag Tränen in den Augen und ging unruhig von einem Zimmer ins andere. Aber gewiß hätte sie auch Tränen in den Augen gehabt und wäre durch alle Räume gependelt, wenn alles gut und glatt gegangen wäre. Denn ohne von dem zu reden, was ihr Jettchen angetan hatte – sie fehlte ihr, und ihre Abwesenheit schmerzte sie. Auf ihre Art nämlich hatte die Tante Rikchen ihre Nichte Jettchen, die so lange wie Kind im Haus gewesen war, ganz liebgewonnen, und nichts lag ihr ferner, als ihr Böses zu wollen. Eigentlich war Tante Rikchen nur traurig, daß das Gute, das sie bereitet hatte, von Jettchen so mißachtet worden war. Nun, sie würde sich schon fügen. An ihren Mann aber richtete Tante Rikchen heute kaum das Wort, und nicht mit einer Silbe erwähnte sie das Vorgefallene. Auch er sprach nicht davon. Sie gingen beide umeinander herum wie zwei Räder in einem Uhrwerk, die eng beieinander sich drehen und sich doch nicht berühren und sich doch nicht begegnen. Salomon war matt, hatte gerötete Augen; in Morgenschuhen schlurfte er umher, setzte sich vom Lehnstuhl auf den Korbstuhl und von da auf das schwarze Ledersofa und vom Sofa wieder an seinen Fensterplatz – die Ellbogen auf den Knien und den Kopf zwischen den Händen. Wie war die Wohnung ihm leer und öde! Ihm war es gerade, als ob Jettchen gestorben wäre. Und mehr als einmal war er drauf und dran, zu Jason zu gehen und Jettchen sich zurückzuholen. So sehr fehlte ihm ihre Gegenwart, ihre stille Nähe und die feine, kluge Sorgfalt, mit der sie ihn umgeben hatte. Warum wollte sie denn nicht wiederkommen? Hier gehörte sie doch her! Und er würde doch gewiß nicht darauf bestehen, daß sie zu ihrem Manne ginge. Wo hatte er nur die ganze Zeit seine Augen gehabt? Und wie hatte er nur je glauben können, daß das gut würde? Hin und wieder kam ihm der Gedanke an die Leute draußen und daß sein Name und der gute und ehrliche Name seiner Familie jetzt schon sicherlich in aller Munde sei und daß man lächle und tuschle und klatsche und Lügen über sie alle verbreite. Dann packte ihn ein solcher Zorn, daß er beinahe die roten, geschliffenen Gläser vom Büfett herabgerissen und sie auf die Erde geschleudert hätte, nur um an irgend etwas seine Erregung auszulassen. Und als er nach dem Essen, das er, ohne ein Wort zu reden, in sich hineingewürgt hatte, sich nicht zu Tante Rikchen aufs Sofa setzte, um in seiner Ecke mit dem Papagei auf der Schlummerrolle sein Schläfchen zu machen, sondern, mit dem letzten Bissen im Mund, aufstand und in sein Zimmer ging, da konnte Tante Rikchen nicht anders: sie mußte sich in den Lehnstuhl setzen und ihre beiden dicken Hände in die Augen bohren und weinen. Wenn er mit ihr geschimpft hätte, wenn er ihr wenigstens Vorwürfe gemacht hätte!

Ferdinand nun hatte sich die Angelegenheit mit Jettchen, als seine erste Erregung geschwunden war, nicht gerade sehr zu Herzen gehen lassen, und das Kopfweh und die Migräne, mit denen er erwacht war, kamen durchaus nicht aus den Gebieten des Seelischen, sondern waren etwas tiefer begründet und beheimatet – ein wenig rechts unter dem Herzen. Aber als der Lakai erschien und Ferdinand die freudige Botschaft vernahm, da war dieses Mißbefinden wie weggeblasen. So schnell schwand es selbst nicht, wenn Ferdinand Gebert sich Gurkenscheiben auf den Kopf legte, und hiervon hielt er viel. Wie weggepustet war es, dieses Mißbefinden, und aus dem grauen, katzenjämmerlichen Morgen wurde Ferdinand ein Himmel voller Geigen. Richtig, er bekam die Bestellung: einen Jagdwagen, eine Britschka und ein Tandem. Drei Wagen auf einmal – und in allerbester Ausführung. Und dazu noch vom Hofe! Das würden natürlich nicht die einzigen bleiben, und irgendwelche Auszeichnung würde für ihn noch abfallen. Wie hatte er immer wieder und wieder seine Angel ausgeworfen danach, seit Jahren! Und jetzt, als er es am wenigsten vermutete, hatte plötzlich der Fisch angebissen. Er hatte ja schwere Zeiten durchgemacht. Denn als das mit der Eisenbahn kam, vor ein paar Jahren, da hatte er fest geglaubt, daß bald niemand mehr einen Reisewagen oder überhaupt eine Chaise sich kaufen oder leihen würde. Und alle hatten das gleiche prophezeit. Und nun? Dieser oder jener mochte schon »kaputtgegangen« sein. Aber er, er stand jetzt größer da als je. Denn der Hof, der preußische Hof – was das bedeutete: der preußische Hof! –, die andern würden dann schon von selbst kommen. Und ganze Marställe sah Ferdinand vor sich, mit endlosen Reihen von rotlackierten Prunkwagen und von himmelblauen Kaleschen, die alle aus seinen Werkstätten gekommen waren. Daß an einem solchen Tag ihn das Ereignis mit seiner Nichte Jettchen nicht allzusehr beschäftigte, kann man ihm nicht verargen.

Und wenn es sich wirklich einmal in seinen Gedanken etwas zu weit nach vorn schob, dann kamen wieder der Hof, der kleine, hochrädrige Jagdwagen, der Prinz selbst, der sogar »lieber Gebert« gesagt hatte – er war ein Mann ganz nach dem Geschmack Ferdinands –, und all das versetzte dem armen Jettchen einen solchen Stoß, daß es in seinem Kopf, in seinen Gedanken ganz weit nach hinten flog, alldahin, wo es gut aufgehoben war und sich in keiner Weise unangenehm bemerkbar machte.

Eli und Minchen aber sprachen viel darüber, und sie hatten Meinungsverschiedenheiten. Dabei saßen jedoch die beiden Alten einträchtig nebeneinander wie zwei Vögel auf einer Stange. Minchen war mit Jettchen nicht zufrieden. Sie hatte noch nie gehört, daß eine so etwas gewagt hätte, und deshalb mißbilligte sie es. Das heißt recht betrachtet: innerlich mißbilligte sie es gar nicht. Sie wußte nur noch nicht, wie sich die andern dazu stellen würden und wie man sich, ohne anzustoßen, Jettchen gegenüber zu verhalten habe. Eli hingegen sagte, seit langer Zeit hätte ihn nichts mehr so gefreut wie gerade das. Jetzt, eben jetzt müsse man zeigen, daß man auf Jettchens Seite stehe und sie nicht etwa im Stich lasse. Ja, auch für alle »allenfallsigen Nebenseiten« des Problems – denn mit ihnen rechneten jetzt auch die Nächsten – zeigte der alte Onkel Eli ein tiefgehendes, zustimmendes und verzeihendes Verständnis. Er verstieg sich sogar dahin, es ganz natürlich zu finden. Aber soweit konnte ihm die kleine Tante Minchen nicht folgen. Ihr weibliches Gemüt, sagte sie, sträube sich gegen alles Unmoralische. Das wollte wieder Onkel Eli nicht gelten lassen, und er versuchte ihr zu erklären, daß es unmöglich wäre, da Unterschiede herauszufinden, wo in der Natur gar keine beständen. Und als seine Argumente nicht überzeugten – denn man kann fünfzig Jahre und über fünfzig Jahre mit einer Frau verheiratet sein, und sie wird den Feinheiten und der Folgerichtigkeit der männlichen Logik ebenso ungläubig und verständnislos gegenüberstehen wie am ersten Tage –, da begann er zu poltern und auf die Frauensleute – die Seinige inbegriffen – zu schimpfen; während er doch sonst bei seinen Anwürfen diese auszuschließen beliebte. Und ein Mal über das andere schrie er mit ganz rotem Kopfe: »Kann man so etwas wohl in so ä Frauensmensch reinbringen!« Minchen schwieg natürlich auch nicht, und es gab das schönste, doppelseitige Ärgernis. Bis Minchen endlich klein beigab und damit bewirkte, daß der Himmel sich klärte.

Minchen tat recht daran. Denn wie so oft in diesem Leben: Minchen und Eli stritten sich einfach um Worte, Im Grunde ... im Grunde nämlich stimmten sie beide in allem, was sie dachten und sagten, ganz und gar überein.

Also waren – während alle Welt sich in Erregung befand – die, die am nächsten betroffen wurden, ziemlich ruhig.

Ach so, ich vergaß von Jettchen zu erzählen, von Onkel Jason und von Doktor Kößling.

Stosch war am Abend noch dagewesen, aber da Jettchen schlief, sagte er, das wäre besser für sie, er wolle nicht stören. Als er dann früh wiederkam, beklopfte und behorchte er Jettchen; und als Jason ihn fragte, sagte er, es fehle der jungen Frau wohl gerade nichts, aber sie sei mit dem Herzen nicht recht in Ordnung.

»Zu dieser Diagnose, Herr Rat«, sagte Jason, »hätte ich Sie nicht gebraucht.«

Aber der alte Herr war in seinem Beruf nicht für Scherze, und er brummte nur etwas von Schonen, Pflege, keine Aufregungen und etwas Ruhe. Dabei sollte sie aber nicht liegen, sondern tun, als ob ihr gar nichts fehle. Darüber, daß er Jettchen bei Jason traf, und über alles, was sonst geschehen war, verlor der alte Stosch kein Wort.

Jettchen war früh erwacht, und es hatte eine Weile gedauert, bis ihr alles wiederkam, was sie erlebt hatte. Und jetzt erschien es ihr in ganz anderm Licht. Nicht, daß sie etwa ihre Tat bereut hätte; aber sie wußte nicht ein noch aus und war ganz hoffnungslos. Zu alldem kam auch das Lächerliche, daß sie nun einzig ihr weißes Brautkleid besaß und nichts sonst. Keinen von ihren vielen Morgenröcken in allen Farben, für jeden Monat einen, und keins von ihren Gesellschafts- und Straßenkleidern, nicht das von grünem englischem Tuch und nicht das neue, fliederfarbene Seidenkleid, ja nicht einmal das alte, silbergraue Taftkleid oder das mit den goldenen Kornähren, das sie nun für alle Tage auftrug.

Und Onkel Jason machte Jettchen einen Morgenbesuch, nachdem er Fräulein Hörtel zum Parlamentieren vorausgeschickt hatte, ob er auch angenommen würde. Die Damen des vorigen Jahrhunderts, sagte Jason, pflegten vor dem Lever ihre Empfänge zu halten, und er für seine Person finde diese Sitte im äußersten Maße nachahmenswert, ja, er bedauere aufrichtig, daß sie bei der honorigen Damenwelt leider mehr und mehr im Schwinden begriffen sei. Jason hatte vollkommen seinen alten Ton wiedergefunden, und er plauderte mit Jettchen von hundert Dingen – nur nicht von dem, was gestern gewesen war; nicht einmal von dem, was morgen sein könnte, sprach er. Das schien für ihn nicht zu bestehen. Aber er war Feuer und Flamme für die Einstellung der Jahrbücher; das wäre recht, da zeigte man einmal Mannesmut. Was man wohl oben dazu sagen würde? Das hätte man sicherlich gerade jetzt nicht erwartet; und die besten Namen wären mit dabei. Dann bat er Jettchen, sie solle morgen mitkommen; er hätte einen Platz bei einem Freund in der Breiten Straße, ein Fenster, von dem aus sie den Fackelzug der Studenten sehen könnten. Sie solle es nur tun, damit sie wenigstens etwas vom Reformationsfest hätte. Ganz Berlin werde ja auf den Beinen sein. Aber Jettchen sagte, sie werde vorerst nicht ausgehen. Dagegen eiferte Jason. Gerade müsse sie hinaus, unter die Menschen; sie solle nur nicht glauben, daß sie sich einzuspinnen brauche; sie könne ihren Kopf ebenso hoch tragen wie andere Leute, und sie hätte ihn ja sonst immer so hübsch hoch getragen. Sie würden zusammen ins Theater gehen, und er würde ihr peu à peu alle siebzehn Hohenstaufen-Dramen Raupachs zeigen, die man im Winter geben wollte, oder das neue Drama von Herrn Bart aus Neustrelitz, das sie angenommen hätten. Ob sie Herrn Bart aus Neustrelitz kenne? Schon Name und Vaterstadt bürgten für Genialität.

Während aber Jason vor Jettchens Bett saß, das noch vorgestern sein eigenes gewesen war – ein respektvolles Stück davon, auf einer Ecke der Mahagonibergere mit den großen Bronzerosetten saß –, und nun von da aus eine leichte und etwas gezwungen-graziöse Konversation führte, altmodisch und blumenreich, gleichsam als spiele er die Rolle eines galanten Abbé ... und während Jettchen in all ihrem Kummer doch darüber lächeln mußte und lächelnd das erste Mal die neue Umgebung betrachtete, die ihr jetzt so ganz anders dünkte als früher, in der plötzlich alles ein neues Gesicht hatte und in der jede Lithographie an der Wand, auf der mattgrünen Seide, jedes Porzellanfigürchen in den Servanten etwas von dem Wesen seines Besitzers angenommen zu haben schien ... und während also Jettchen so ganz erstaunt und träumerisch in die weiße Helligkeit blickte, die trotz des grauen Tages draußen durch die tiefen Fenster hereinflutete und alles so blank und peinlich sauber machte: den Tisch, die grünen Sessel, die braunen Schränke mit den goldenen Säulenknöpfen und den vielen weißen und bunten Porzellanen, alles, alles, bis in den letzten Winkel hinein – da, ja da mochte es vielleicht an der Tür gepocht haben, und Jason mochte vielleicht »Herein« gesagt haben, denn plötzlich sah Jettchen das Mädchen von Tante Rikchen, ihr Mädchen von zu Haus, vor sich stehen, mit einem ganz verquollenen Gesicht und rotgeweinten Augen. Und daneben das kleine Fräulein Hörtel mit Augen wie eine Fledermaus. Den großen Wäschekorb zwischen ihnen sah sie, der hoch voll lag von Röcken und Matinees, roten, grünen, weißen, blauen und ganz zart pastellfarbigen.

Und das Mädchen schluckte und schluchzte und sagte: Eine schöne Empfehlung von der Madame Gebert, und hier schicke sie der jungen Madame Jacoby ihre Sachen; und die andern Sachen würden auch noch kommen.

Und Jettchen schluckte und schluchzte und sagte: sie ließe sich vielmals bedanken. Ja, selbst Jason meinte, daß das doch rührend liebenswürdig von der Tante wäre. So viel Takt hätte er ihr gar nicht zugetraut. Aber er vergaß, daß die Tante es nicht sehr selbstlos tat, sondern wohl wußte, daß man mit Speck Mäuse fängt.

Aber nun, sagte Jason nach einer Pause allgemeiner Rührung, nun wolle er sich zurückziehen, da Jettchen für die nächsten fünf Stunden ja hinlänglich Beschäftigung hätte. Und er trete ihr noch die Hälfte seines Reiches ab. Dort in dem großen Schrank dürfe sie allen Raum besetzen, der frei wäre. Ihre Sachen würden sich schon miteinander vertragen. Mit dem andern sonst solle sie sich an Fräulein Hörtel wenden.

Und nach einer Weile schellte draußen Kößling. Er müsse sogleich Herrn Gebert sprechen. Früh am Morgen war er schon einmal dagewesen, um sich zu erkundigen, wie es Jettchen gehe. Aber da schlief noch alles. Und jetzt kam er wieder. Er müsse Herrn Gebert sprechen.

Jason ließ ihn bitten, ganz leise hinter zu kommen in das Arbeitszimmer, trotzdem er eigentlich innerlich starke Bedenken gegen diesen Besuch hegte.

Aber ehe noch Jason dazu kam, irgendwie sein Mißfallen zu äußern, streckte ihm Kößling einen Oktavband mit breitem Lederrücken und schöner Goldpressung entgegen, gerade wie man dem Zerberus einen Honigkuchen zuwirft, und sagte, jetzt habe er's. Und wie billig er es gekauft hätte: kaum zur Hälfte des Preises; nur achtzehn und einen halben Silbergroschen habe er dafür gegeben, und dann sei es noch die erste Ausgabe, und ein purer Zufall habe sie ihm in die Hände gespielt. Was er aber nicht sagte, das war, daß er den ganzen Vormittag umhergelaufen war, von einem Büchertrödler zum andern, bis in die kleinsten und entlegensten Keller in der Neuen Jägerstraße, und daß er endlich nicht achtzehn und einen halben Silbergroschen, sondern einen Taler und fünf gute Groschen gezahlt hatte. Aber das war Kößling der Christian Garve heute wert. Und dann war es ja auch die beste Ausgabe und wie neu. Zu teuer, nein, zu teuer war es eigentlich nicht.

»Nun«, sagte Jason, »da haben Sie ja zufällig, Herr Doktor, einen sehr guten Griff getan. Einen Taler ist das Buch schon unter Brüdern wert.«

Aber Kößling versicherte, daß er es so billig erstanden hätte, und er hoffe, bei dem Mann noch mehr zu finden; denn er wollte sich doch seinen Vorwand nicht nehmen lassen. Und von allerlei Büchern und seltenen Ausgaben erzählte er, als hätte er die Absicht, ja zu verhüten, daß irgendein anderes Gesprächsthema aufgenommen würde.

Trotzdem Jason diese kleine List durchschaute und sich innerlich darüber belustigte, daß die Liebe selbst einen ungelenken Menschen erfinderisch machen kann, so brachte es das Gespräch doch mit sich, daß er bald vergaß, daß es eigentlich nur ein Fintenspiel war. Und trotzdem Kößlings Sinn und Herz eigentlich auch ganz woandershin standen, so machte es der Stoff, daß auch er ganz und gar mitgezogen wurde und das andere fast aus dem Sinn verlor – so daß nun bald die beiden miteinander lustwandelten in ihren gemeinsamen Reichen, in die gottlob das Lärmen, die Wirrnis und die Nöte, die das arge Weibervolk den Männern bereitet, nicht hindringen können.

Jason ging auf und ab an seinen braunen Regalen, zwischen den blanken Lederrücken mit den eingepreßten goldenen Sternchen und den roten und grünen Saffianschildchen. Und einmal bückte er sich, und ein anderes Mal mußte er mit dem Arm ganz hoch hinauflangen, um dies oder jenes vorzuzeigen.

Und gerade war er dabei, seine Goethe-Ausgabe von 1775 Kößling zu zeigen, die von Himburg, und ihn auf die Kupfer aufmerksam zu machen, die er den Rambergschen in der Ausgabe letzter Hand weit vorzöge – trotzdem jene ihnen ja viel näherständen –, als die Tür aufging und ganz leise Jettchen hereintrat. Ganz leise. Denn sie hatte ein paar neue Hausschuhe aus rotem, weichem Leder an, die eigens für ihren Fuß gefertigt waren. Einen von den Morgenröcken trug sie, die man ihr eben gebracht hatte, einen ganz neuen, silbergrauen. Den Hals ließ er frei und auch die weißen Arme bis über die Ellbogen. Und das schwere Haar hatte Jettchen nur aufgesteckt. Eigentlich war sie hintergegangen, um sich Jason zu zeigen und, vor allem, um ihm ein freundliches Gesicht zu weisen und ein paar Worte mit ihm zu sprechen, damit er sehe, daß sie nun ganz wieder die alte sei und er sich etwa keine Sorgen um sie mache. Daß Kößling bei ihm war, hatte sie jedoch nicht vermutet. Für ihn war diese neue Morgentracht auch nicht bestimmt.

So erschrak sie, und Kößling erschrak gleichfalls. Kößling fühlte, daß er jetzt irgend etwas sagen müsse, ihr danken müsse für das, was sie um ihrer beider willen getan hatte. Aber er brachte kein Wort hervor. Und Jettchen fühlte sich plötzlich beengt und verschüchtert und wußte nicht, wie sie sich verantworten sollte. Hier im Licht des Tages lag die gestrige Nacht so fern, daß Jettchen sie in ihrer Kühnheit kaum noch verstand.

»Nun«, sagte Jason und steckte vorsichtig dabei das Buch wieder zwischen die andern an seinen Platz, » den Besuch hast du wohl hier nicht erwartet?«

»Gerade deswegen ist er mir nur desto lieber«, meinte Jettchen und hob Kößling langsam die Hand entgegen.

Der war ganz verwirrt und stammelte etwas von Dank, als er sich auf die Hand niederbeugte.

Jason aber bemerkte plötzlich etwas Wunderbares an seinen Büchern, das ihm noch nie vordem aufgefallen war und das er sich mit höchster Anteilnahme aus nächster Nähe betrachten mußte ... eine ganze Weile lang.

Als er sich aber umwandte, standen die beiden noch an der alten Stelle, und Jason hatte auch nicht gehört, daß sie zueinander gesprochen hätten, und doch war es ihm, als fühlte er deutlich in seiner Hand die beiden Schicksalsfäden, die miteinander verknüpft und verknotet waren, und es war ihm, als wäre es seine Pflicht, sie nur noch fester miteinander zu verschlingen und zu verbinden.

Aber wie so Menschenhände sind – gerade als er glaubte, daß er sie noch dichter und inniger ineinanderflechten würde, lockerte er nur ihre Schleifen und Maschen. Denn er selbst fühlte, wie die beiden sich während seiner Worte voneinander entfernten.

»Wissen Sie, Doktor«, sagte er und drohte Jettchen lachend mit dem Finger, »sie gefällt mir. Ich liebe solche Menschen, die auf eigenen Wegen wandeln. Und wenn sie auch jetzt alle draußen schreien: Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen schlimmen Gang – passen Sie auf, es ist für das Diesseits wie für das Jenseits nun einmal so eingerichtet, daß die guten Wege zum schlechten Ende führen und die schlechten Wege zum guten.«

Aber Jettchen schüttelte und Kößling lachte gezwungen.

»Ich habe Ihrem Onkel nur ein Buch gebracht«, sagte er, als müsse er seine Anwesenheit entschuldigen.

Und Jason zeigte es und pries den guten Kauf, während Kößling – froh über seine List – Jettchen zublinzelte, und Jason tat, als merke er es nicht. »Ja«, meinte er, »jetzt mache ich es wie Ritter Blaubart und führe dich hier umher durch mein Schloß. Zu allen Zimmern wirst du den Schlüssel bekommen, Jettchen, alle darfst du betreten, soviel und sooft du willst, nur, siehst du, diese eine Kammer hier ...«, und er wies auf eine Reihe seiner Regale, »hier dieses eine Zimmer meines Schlosses ist dir verboten.«

Kößling überflog die Reihe mit einem kurzen Blick, und als er »Sophiens Reise von Memel nach Sachsen« sah, wußte er, warum Jason wünschte, daß dieses Zimmer für Jettchen verschlossen bleiben sollte.

Jettchen aber lachte. »Nun«, sagte sie, »die andern Zimmer in deinem Schloß, Onkel, sind ja geräumig genug. Aber eigentlich wollte ich dir nur einen kurzen Gegenbesuch für vorhin machen.« Und damit hatte Jettchen wieder die Klinke in der Hand.

»Ich muß auch zur Bibliothek«, meinte Kößling und griff schnell nach seinem grauen Schlapphut, den er in der Eile auf einen Stuhl gelegt hatte.

»Haben Sie etwas Neues über die Jahrbücher gehört?« fragte Jason im Hinaustreten.

Kößling wußte nichts.

»Schade, ich hätte gern einmal etwas darüber aus Universitätskreisen erfahren«, sagte Jason. »Also ja, dann kommen Sie nur bald wieder einmal auf einen Augenblick zu mir herauf. Ich werde mich immer über Ihren Besuch freuen. Und jemand anders vielleicht ebensosehr. Aber entschuldigen Sie mich jetzt, ich habe ja dem Garve – ich danke Ihnen noch, Herr Doktor –, ja richtig, dem Garve noch nicht seinen Platz gegeben.«

Und damit hinkte Jason wieder ganz schnell zurück, zog die Tür seines Arbeitszimmers hinter sich zu und ließ die beiden allein auf dem halbhellen Korridor, der sein kümmerliches Licht nur durch ein paar Türfenster bekam und dämmerig und grau mit seinen paar kleinen goldenen Hockern und seinen paar kleinen goldgerahmten Spiegeln vor den beiden lag.

Eine ganze Weile standen sie einander gegenüber, scheu und verwirrt. Denn das, was bisher ihrer beider Geheimgut gewesen war, das war plötzlich eine öffentliche Angelegenheit geworden, und Sehnsucht und Leiden hatten sich über Nacht in Trotz und Kampf gewandelt; und noch hatten sie sich beide nicht dazu gefunden, und wie etwas Fremdes, Trennendes stand es zwischen ihnen.

»Jettchen«, fand Kößling endlich das Wort, »du liebes Mädchen, du, was hast du alles inzwischen ausgestanden um unsertwillen!«

»Ja«, sagte Jettchen, »das habe ich wirklich. Und am Ende, da wird doch alles vergeblich sein. Gestern, da war es noch möglich und klar, aber heute? – Wenn Onkel Jason nicht noch wäre, ich wüßte ja überhaupt nicht, was ich täte.«

Kößling sprach ihr Trost zu. Es werde schon alles nach ihrem Wunsch gehen; zwingen, mit Gewalt zwingen, könne sie doch kein Mensch. Sie seien doch auch nicht schlecht zu ihr, und er werde schon zu etwas kommen. Zu alt wären sie ja beide nicht, um nicht auf ihr Glück warten zu können.

Dann nahmen sie Abschied zwischen Tür und Angel, umschlangen sich mit langen Küssen, die die Unersättlichkeit des Feuers in sich trugen und die immer mit neuem Sehnen aus den Tiefen ihrer Wünsche stiegen. Aber kaum daß sich die Arme voneinander gelöst, so verschlangen sie sich wieder, als ob sie wie Kettenglieder miteinander verschmiedet werden sollten. Erst als Jason hinten laut nach Fräulein Hörtel rief, huschten sie auseinander, und Jettchen lehnte sich weit übers Geländer draußen und warf Kußhände hinab und lauschte, bis unten die letzten Schritte klangen. Dann schlich sie hinein, müde und zerschlagen. Ihre Füße trugen sie kaum.

Das Leben aber zog weiter; dieser unversiegbare Strom, dessen Wellen nie zurückpulsen, er trieb weiter, und auf die Erregung kurzer Tage kam Ruhe und stetes Dahingleiten, kam das ermüdende Ineinandergreifen von Stunde in Stunde, von Abend in Morgen, von Morgen in Abend. Und keiner trug etwas in Händen, keiner brachte etwas, und jeder machte, ohne daß man es wußte, nur älter und müder.

Wenn Onkel Salomon nur versucht hätte, Jettchen zurückzuholen, sie wäre ja gegangen. Denn das fühlte sie: Dort war ihr Platz, und dort gehörte sie hin. Sie war es gewohnt, zu schaffen und in der Wirtschaft Anordnungen zu treffen. Sie liebte ihre kleinen Sorgen; und hier gab es nichts für sie, und sie sehnte sich tagelang nach ihrem einfachen Zimmerchen mit den Birkenmöbeln und nach ihren Büchern, die sie kannte und wieder las, von dem »Immergrün der Gefühle« bis hinab zu dem Vogelbuch mit dem marmorierten Deckel und den vielen, vielen Sprachfehlern. Hier hatte sie eine ganze Bibliothek, aber es waren doch nicht ihre Bücher. Sie war nur bei ihnen zu Gast geladen.

Wenn noch die Tante Rikchen gekommen wäre und ihr Vorwürfe gemacht hätte, sie hätte schon Worte gefunden, sich zu verteidigen. Und Jettchen legte sich in langen Stunden eine wohlklingende Rede zurecht, in der sie von ihren Herzensrechten sprach und von Liebe und Dankbarkeit und daß sie durchaus alle menschlichen Vorzüge des Vetters Julius anerkenne und gar keinen Haß gegen ihn hege, aber sie könne und könne ihm nun einmal nicht angehören. Und Jettchen war fest der Meinung, daß es ihr gelingen würde, Tante Rikchen auf ihre Seite herüberzuziehen.

Tante Rikchen aber – sie hatte zwar die Sachen geschickt und freundliche Grüße dazu – kam selbst nicht und ließ vorerst nichts weiter von sich hören und verlauten. Sie war nämlich nicht dafür, die Speisen allzu warm zu genießen, da die Erfahrung sie gelehrt hatte, daß es besser sei, bei allen heißen Dingen abzuwarten.

Auch Tante Hannchen kam nicht und keines von den Kindern. Nicht Jenny, die das Brautgedicht gesagt hatte, noch Wolfgang, der in Charlottenburg Wochen bei ihr gewohnt hatte – keine Seele ließ sich blicken. Jeder mied sie.

Nein, das entspricht doch nicht ganz der Wahrheit. Gleich am dritten oder vierten Tage erschien Tante Minchen, wenn auch der Nebel bis auf die Dächer hing und der Regen nicht aufhören wollte. Es war ja gewiß nicht weit vom Hohen Steinweg nach der Klosterstraße – aber da kam sie gar nicht her, sie war erst noch bei Madame Fournier gewesen, »Unter der Stechbahn«, trotz Wind und Wetter. Da hatte sie drei schöne, mattgelbe Apfelsinen gekauft, für Jettchen zur Stärkung. Und Apfelsinen waren jetzt nicht billig. Sie hatte lange geschwankt, ob sie ihr nicht statt dessen ein Glas von ihrem Eingemachten mitbringen sollte – vielleicht Quitten oder Hagebutten. Aber das sah so alltäglich aus; Apfelsinen jedoch konnte man nicht alle Tage haben. Und wenn – wie man sagt – sauer lustig macht, so hätte Jettchen nach den Apfelsinen eine Woche lang die lustigste Person von ganz Berlin sein müssen.

Ja, die kleine, gute Tante Minchen, die so verschrumpelt wie eine Backbirne war und einen Mund hatte wie ein ausgerissenes Knopfloch, sie hatte sogar eigens zu diesem Besuch ein schwarzes Seidenkleid angezogen, damit Jettchen nicht meinen solle, sie halte nichts auf sie. Leicht fiel ihr dieser Besuch gewiß nicht, denn sie wußte noch gar nicht, wie er bei den andern ausgelegt würde; aber sie hatte sich trotz alledem dazu entschlossen. Und es war das nicht allein der Wunsch ihres alten Ehegatten – dem hätte sie wohl ihren eigenen Willen entgegengestellt –, es war auch ihr Wunsch. Nur wußte sie nicht recht, was sie mit Jettchen reden sollte. Beschönigen wollte sie nichts, tadeln wollte sie nichts, und umgehen wollte sie die prekäre Angelegenheit schon gar nicht.

»Nu, Jettchen«, sagte Tante Minchen, bevor sie sich noch gesetzt hatte, »ich komm' eben e bißchen hier vorbei. Jason hat neulich auf de Hochzeit gesagt, du wärst nich ganz wohl, und da wollt' ich doch mal zusehn, wie's der geht.«

Jettchen dankte. Es gehe ihr schon besser.

»Nu«, meinte Tante Minchen feierlich und wickelte jede der Apfelsinen mit ihren kleinen, welken Fingern aus dem Seidenpapier und legte sie fein säuberlich auf die blanke Tischplatte, »nu, Jettchen, da hab' ich der drei Apfelsinen mitgebracht, für deine Gesundheit. Iß se mit Verstand, was dir ja nicht schwerfallen kann. Se sind nämlich von de Fournier und kosten fünfzehn Silbergroschen.«

Jettchen sagte, daß diese Ausgabe für sie aber wirklich unnötig gewesen wäre.

»Nein«, meinte Minchen, »ich wollte dir, liebes Jettchen, gerade damit zeigen, daß mir für dich nichts teuer und gut genug ist. Nach wie vor. Und wenn sie auch in de Zeitungen über dich schreiben.«

Jettchen erschrak.

»Nu, hat der Jason nich gesagt?« schwabbelte Minchen ohne böse Absicht. »Im ›Beobachter an de Spree‹ stand doch de ganze Sache, das heißt nich mit richtige Namen, aber es war ganz deutlich deine Geschichte; weißte, von Herrn Gimpel, Herrn Schlau und Fräulein Pfiffig hieß es da.«

Das hatte Jettchen nicht erwartet, und sie brach in Tränen aus.

Minchen beschwichtigte. »Was brauchste der daraus was zu machen«, sagte sie. »Weißte, was Eli gesagt hat? – Wenn er noch jünger wäre, als er is, hat er gesagt, würde er einfach hingegangen sein auf de Zeitung und hätte, ohne e Wort dabei zu sprechen, dem Mann rechts und links ein paar hinter die Ohren gegeben ...« Wenn Ferdinand jedoch nur noch etwas auf de Familie hielte, dann müßte er's tun. Und ihr Eli, der würde es auch Ferdinand sagen.

Aber selbst dieses Versprechen der Blutrache vermochte nicht Jettchens Tränen zum Versiegen zu bringen, und deshalb beschloß Tante Minchen, geschickt das Gespräch auf ein anderes Thema hinüberzuspielen.

»Lächerlich«, sagte sie, »du wirst dich ärgern! De Meinungen sind doch sehr verschieden darüber. Ich muß ja in Wahrheit dir eingestehen, ich bin eigentlich nicht deiner Ansicht. Man muß sich aneinander zu gewöhnen versuchen. Wenn de Angelegenheit mit de Scheidung so leicht war' wie de Hochzeit, würde keine Ehe länger wie e Jahr dauern. Und wir – Eli und ich – sind nächsten Herbst, so Gott will, siebenundvierzig Jahre verheiratet. Aber Eli sagte wieder, de hättst ganz recht gehabt. Und viele andre – weißte, man spricht ja von nichts weiter – sagen auch, se begriffen nicht, wie Salomon dich an Julius Jacoby hätte geben können. Aber wirklich, mein Kind, trotzdem und trotzdem ... ich versteh' dich nich. Was haste an de Männer? Se sind doch alle gleich. Meinste, de merkst nachher 'n Unterschied?«

»Sage, liebe Tante, kann ich dir irgend etwas anbieten? Ein Glas Wein vielleicht?«

Aber Minchen war nicht abzubringen. Sie schüttelte nur den Kopf und blieb beim Thema. Und um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, beleuchtete sie es einmal von rechts und einmal von links.

»Mir«, sagte sie, »hat er eigentlich nicht so schlecht gefallen wie Eli. Der nennt 'n immer nur 's litauische Pferdchen. Aber das eine muß er doch auch zugeben, daß Leder immer noch e aussichtsreiche Branche ist. Und e guter Geschäftsmann soll er ja sein. Und der andere? Nu ja, hätt' er vielleicht damals de Stelle gehabt, die er heute hat, hätt' man drüber reden können. Aber damals war er doch gar nichts ... wie e Doktor. Aber endlich, Jettchen, was geht's mich an? Das is doch deine Sache. Tu, was du willst. Uns soll's gleich sein. Bei uns wirste – nach wie vor – immer e offenes Haus finden. Und Eli fragt schon jeden Tag, warum de eigentlich nich mal auf e Viertelstündchen zu uns rüberkommst. Er freut sich doch immer so mit dir.«

So sprach Tante Minchen. In schöner Regelmäßigkeit des Redeflusses. Und doch wäre es falsch, wenn man annehmen wollte, daß sie es etwa böse meinte. Sie meinte es gut und war Jettchen wirklich zugetan. Aber das hinderte eben nicht, daß sie Jettchen mit ihren Worten das Herz abstieß; wie wir ja auch gemeiniglich denen am meisten weh zu tun pflegen, die wir am liebsten haben.

Als Onkel Jason kam, sah er auf den ersten Blick, daß Jettchen traurig und mutlos, noch trauriger und mutloser als sonst war. Aber er tat, als bemerke er es nicht.

»Ach«, sagte er, »Jettchen, da ist mir heute vormittag eine merkwürdige Geschichte passiert. Weißt du, hier an der Ecke am Köllnischen Fischmarkt sitzt doch die dicke Bücklingsfrau. Und als ich vorbeikomme, zählt sie gerade ihre Bücklinge ab. Eine, zweie, dreie, viere – das eine Dutzend stimmte nicht. Sie zählt noch mal. Wieder dreizehn. Na, mich interessiert das, und ich stell' mich zu der Frau hin. Mit einmal ruft sie: ›Herrgott‹, ruft sie, ›richtig, richtig, da is mir doch wirklich die olle Tante Minchen mang die Bücklinge mang jekommen.‹«

Jettchen mußte lachen. Und Jason nahm ihre Hand. »Mädel, du mußt nicht immer zu Hause hocken. Du verklönst mir dabei ganz. Witz und Schönheit sind gesellige Kräfte. Denn, heißt es, was gewänne ein witziger Einsiedler und eine schöne Einsiedlerin? Wenn du rätst, wer das sagt, nehme ich dich morgen mit ins Schauspielhaus. Oder wollen wir übermorgen in die ›Schuld‹ gehen?

›Dort ist oder nirgends Heil,
dort versöhnt das Henkerbeil
mich mit mir, vielleicht mit Gott.‹

Willst du das hören, Jettchen?«

Aber Jettchen wollte doch lieber noch nicht ins Theater gehen, weil sie dort so viele Leute sehen könnten.

»Dann, Jettchen, wollen wir wenigstens einmal des Abends musizieren. Früher hast du noch manchmal gesagt: ›Jason, ich weiß ein Lied.‹ Aber jetzt bist du ganz still geworden.«

Für das Musizieren war Jettchen eher zu haben.

»Ja, schön«, meinte Jason, »dann lade ich dir deinen Freund ein, und er soll uns auf dem alten Tafelklavier eins vorspielen. Wer weiß, wie lange da keiner drauf gespielt hat. Denn mein bißchen Geklimper kann ich ja nicht Spielen nennen. Und wenn ihr ganz brav seid, dann zeige ich euch Sibirien.«

Was Sibirien sei?

Das dürfe er nicht sagen.

Jettchen bat ihn, und Jason freute sich, sie aus ihrer Reserve zu locken.

»Siehst du«, sagte er, »Sibirien ist die kleine Zierkommode da«, und Jason zeigte auf ein ganz niederes, geschweiftes Schränklein, das mit vielen Fächern bescheiden in der Ecke am Fenster stand. Es machte gar nichts von sich her neben den hohen Servanten mit den vielen bunten und weißen Prozellanen. Aber wenn man es näher ansah, so mußte man eine ganze Zeit bei seiner Betrachtung verweilen. Denn es war über und über eingelegt mit Elfenbein, Buchsbaum, Kirschholz und Rosenholz, und jedes Schubfach zeigte eine andere Szene aus dem Alten Testament; fein säuberlich in den Raum zwischen die beiden schweifigen Bronzegriffe hineingeschrieben. Da war die stolze Lea am Brunnen; und Josua und Kaleb, die die große Traube trugen; und Absalon, der mit den Haaren am Ast sich verfangen hatte und nun elendiglich sich verzappelte. Auch Josua als Reitergeneral war da, der der Sonne Vorschriften machte, wie sie sich zu benehmen hätte.

»Du wunderst dich, warum das Schränkchen Sibirien heißt. Das hat noch dein Vater so getauft. Weißt du, es gehörte eigentlich dem alten Onkel Simon. Und wenn der von der Leipziger Messe kam, dann brachte er immer Lebkuchen mit und Bonbons und alles erdenkliche Schöne. Alles wanderte vor unseren Augen in das Schränkchen hinein. Nie ist wieder was herausgekommen. Und deswegen hat dein Vater das Schränkchen Sibirien genannt. Als es nachher keiner haben wollte, habe ich es mir genommen; nun bewahre ich eben meine Heiligtümer darin auf.«

Und Jason zog ein Fach nach dem andern und wies Jettchen Briefe, Locken und goldene Chatelaines; Büchlein und Bänder, Blumen aus Haar gebastelt; einen Fetzen roter Seide mit den Lilien der Bourbonen aus dem zerstörten Thronzimmer der Tuilerien; eine kleine Alabasterbüste der Sontag, ein Täßchen mit dem Bild des Studenten Sand; ein Papiermaché-Figürchen mit Saphirs Wollkopf und ein paar Verse von ihm dazu; Uhren und Medaillons aus dem väterlichen Geschäft; silberne Riechbüchslein in Form von Schnecken mit beweglichen Hörnern oder solche wie Muskatnüsse mit vielem Geäder. Aber all das lag nicht wirr durcheinander, jedes hatte sein Plätzchen, sein Schächtelchen, sein Zettelchen mit der Lebensgeschichte.

Doch Jettchen sah da auch – daran hatte Jason vielleicht nicht gedacht – einen kleinen Fingerhut mit einer roten Granatplatte, der ihr einmal gehört hatte und den sie wähnte, verloren zu haben. Auf dem Blättchen standen – das sah sie – ein paar Verszeilen von Jasons steiler und zierlicher Hand. Und Jettchen wurde über und über rot.

 


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