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Und es gab Schnee – schon am nächsten Tag.

Des Abends hörte Jettchen noch den Ostwind durch die Straßen heulen wie einen herrenlosen Hund, und als sie an das Fenster trat, sah sie oben auf einem tiefschwarzen Himmel weiße, ganz helle Wolken dahingleiten, wie mächtige weiße Bettücher mit zerschlissenen Rändern. Und wenn für einen Augenblick ein Stern zwischen ihnen in den schwarzen Rissen aufblinkte – schon war er verschwommen, schon war er verschleiert; aber kaum daß er wieder aufzuckte, verlosch er von neuem. Zur Nacht aber ließ der Wind nach und ächzte nur noch manchmal auf in der Ferne; bis er endlich ganz einschlief. Ein jedes Schwarz am Himmel schwand dahin, daß er nur so ganz stumm herniederhing, wie in grauen Wattelasten.

Als jedoch Jettchen dann in der nächsten Frühe erwachte, fand sie das grüne Zimmer so seltsam hell und ruhig. Kein Laut von der Straße drang herauf. So war es die ganze Zeit über nicht gewesen. Und als Jettchen darob erstaunt sich umwandte, sah sie durch das Fenster in ein Stück trübgrauen Himmels hinein, und daraus tanzten immerzu kleine, weiße Plättchen und Federchen herab, langsam und sorglos. Und als sie nun aufsprang und an das Fenster eilte, da sah sie, daß drüben schon ganz dicke weiße Samtpolster auf allen Dächern lagen und daß schon jeder Vorsprung und schon jede Kante an Fenstern und Giebeln mit einem breiten Streifen von weißem Pelz besetzt war. Ein paar heidnisch nackte Götterfiguren, die sonst drüben auf dem Gesims froren und fröstelten, daß Jettchen oft fast glaubte, sie mit den Zähnen klappern zu hören, hatten schnell aus weißem Zobel dicke Mäntel umgebunden und schienen nun ganz glücklich und zufrieden. Der ganze Straßenzug aber unten war blank und licht, wie ein Leinentuch; kaum daß auf dem Bürgersteig ein paar erste frische Stapfen durch den lockeren Schnee führten; kaum daß eine erste breite Wagenspur auf dem Damm ihn niedergepreßt hatte. Doch jeder Zaunpfahl beim Lagerhaus hatte schon eine Großmutterhaube sich umgebunden; und auf das Laubendach war über Nacht ein schweres damastenes Tischtuch gedeckt worden – so rein, so neu gewebt, wie das keine Bleicherin von der Bleiche bringt. Auch die schweren Äste der Bäume hinten jenseits der Mauer hatte der Schnee weiß nachgezogen und mit jeder Krümmung in Silber nachgezeichnet. Und in die feinsten schwarzen Netze der Zweige und Zweiglein der Büsche und Hecken hatte er noch vorerst wenigstens flockige, lockere Watteballen gesteckt und geheftet. Die Brunnen jedoch, die strohumwickelten Holzbrunnen, standen nun ganz und gar eingemummelt da – wie Schneemänner.

Aber wenn eine Schneelast sich löste und von dem Gesimse oder den Zweigen herabschwebte, so vermählte sie sich mit dem weißen Boden, und man sah schon im Augenblick nachher nicht mehr die Stelle, wo sie niedergesunken war. Und immer von neuem glitt und flatterte das vom Himmel herab – leise, müde und gleichmäßig, ohne Aufhören und ohne einen Windhauch, so daß die Fernen vor den weißen, rieselnden Schleiern licht verdämmerten. Und dazu diese Stille ... diese wundervolle Ruhe, die wie mit Katzenpfoten durch die Straßen schlich! Jeder Laut – das Zwitschern eines Spatzen, das Knarren einer Wagenachse, der Ruf eines Fuhrmanns, der von unten heraufdrang verlor sich sofort wieder und machte die weiche Einsamkeit des Schneetages nur noch müder und noch träumerischer.

Gegen Mittag aber ließ der Schnee nach, und es kam der kalte Nebel und der rauhe Frost von draußen hinein in die Straßen, und sie trugen die Schönheiten des Winters bis an die letzte und geschützteste Stelle. Was vordem der Schnee vergessen hatte, das überzog nun der Rauhfrost mit seinen ganz feinen, glitzernden Kristallnadeln, die wie die Haare eines Pelzes emporstanden. Die Muster der niederen, verrosteten Eisengitter vor Jettchens Fenster wurden zu klaren weißen Linien; und die alten Spinnennetze, die dazwischen taumelten und an denen Jettchen wohl nun an hundertmal achtlos vorbeigesehen hatte – sie wurden plötzlich zu feinen Stickereien von weißen Perlenfäden. Wenn vordem nur die schweren Äste der Bäume drüben sich Weiß aufgelegt hatten, so zog jetzt der Rauhfrost auch das letzte Zweiglein, die heimlichste Knospe nach und machte sie weithin sichtbar, als wären sie aus blinkendem Glas und grauem Silber gesponnen. Um die Großmutterhauben der Zaunpfähle aber und um die weißen Pelzkappen der Figuren drüben auf dem Dach, da häkelte er – der Rauhfrost schnell mit ganz leichter Hand zarte Spitzenbesätze und zierliche Blonden. Und wenn Wagen unten vorüberfuhren mit dampfenden Gäulen, so hatte er auch schon die Geschirre umflochten und umzogen!

Aber wie jeder Laut der Stadt in dieser weißen Stille ertrank, so versank auch der Blick in diesem träumerischen Weiß, in diesen dumpfen Nebelwänden, die von allen Seiten herandrückten und schon machten, daß die Dächer weiter drüben und die Spitze des Kirchturms hinten sich ganz im Dunst verloren.

Am späten Nachmittag jedoch, kurz vor dem Dunkelwerden, als die Zimmer nur noch der Widerschein des Schnees draußen erhellte – Jettchen hatte gewartet auf Kößling, der ihr versprochen hatte zu kommen, und Jason ordnete hinten an seinen Stichen –, da brachte der Hausdiener Gustav ein Brieflein von Tante Rikchen; er müsse Antwort heimbringen. Jettchen, die jetzt sehr schreckhaft war, dachte, wunder was es gäbe. Aber es hieß nur da, ganz kurz und freundlich: sie beide möchten den Abend zu Salomon Gebert kommen.

»Jettchen, willst du?« fragte Jason.

Doch Jettchen, die fürchtete, die Tante hätte es so eingerichtet, daß sie dort jemanden träfe, den sie um keinen Preis treffen mochte, und die lieber eine erste Aussprache mit Tante Rikchen oder dem Onkel Salomon unter vier Augen gehabt hätte, sagte, sie ließe vielmals danken, aber sie fühlte sich nicht so recht wohl, und sie würde dafür in den nächsten Tagen die Tante besuchen.

Jason aber antwortete, daß er gern kommen würde, und fragte, ob Herr Elias Geben und Herr Ferdinand Gebert auch da wären. Zu Jettchen hingegen äußerte er, daß er diese Zusammenkunft schon lange gewünscht habe und daß er sich viel von ihr für ihre Sache verspreche.

Und draußen kam dann die Nacht heran – frostig und seltsam. Der Himmel schien schwarz und war doch von einem eigenen, unheimlichen Leuchten durchdrungen. Die Häuser, die sonst im Dunkeln untertauchten, zeigten mit phantastischen weißen Bändern die Linien und Rhythmen ihres Baus; und gleich breiten Rücken schlafender Tiere lagen die Dächer darüber. Die Straße unten aber dämmerte dahin in einem grauen Band; und nur dort, wo die Laternen ihre zuckenden Lichtscheine über den Schnee warfen, war sie mit schnell wechselnden gelblichweißen Quadern bedeckt. Es war ganz still; und der Schatten, der vielleicht neben dem Lichtschein auftauchte, war im Augenblick wieder verschwunden. Kaum daß man vermuten konnte, ob das nun ein Mann oder eine Frau gewesen war. Den ganzen Abend lehnte Jettchen am Fenster und sah in die halbe Dunkelheit hinaus. Das Essen stand unberührt vor ihr; knapp, daß Jettchen einen Schluck Tee genommen hatte und einen Bissen Fleisch. Und wenn Jettchen etwa zu lesen versuchte – es waren die »Vertrauten Briefe über Schlegels Lucinde«, ein Buch, das ihr Jason unter Vorbehalt eingehändigt hatte: es wäre auch eine Seite des Lebens, die bestehe und seinen Wert habe, aber über die man zu schweigen sich angewöhnt habe –, wenn Jettchen etwa zu lesen beginnen wollte, schwammen die Zeilen ihr ineinander, so erregt und ängstlich war sie. Was hätte sie darum gegeben, wenn sie mit Jason zu den andern hätte gehen können. Gewiß war die Stube hier warm – fast zu warm; der weiße Feilnersche Porzellanofen strahlte förmlich vor Hitze, und jeder Winkel atmete Heimlichkeit; wie ein goldner Kreis lag der Schein der Messinglampe überm Tisch. Aber es war doch nicht warm – dieses Zimmer – von Menschen, von Worten, von häuslichen Gewohnheiten. Es hatte nie etwas vom Geruch des Bratens oder vom Blinken des schweren Silbers und des roten Glases. Es war eine Stube, in der noch kein Kinderlachen erklungen war oder das sorglose Geplauder von schwatzenden Frauen. Und diese Empfindung legte sich Jettchen auf die Brust, wenn sie allein war. – Aber heute kam noch die Angst dazu um Kößling, der am Nachmittag hatte kommen wollen und um den sie nun jede Minute wieder an das Fenster eilte; dessen Gestalt sie in jedem vermutete, der unten neben der Laterne auftauchte, nur um nach wenigen Schritten wie verweht und vergessen wieder in der Winternacht zu verschwinden.

Es war in letzter Zeit öfter geschehen, daß Kößling sich verspätet hatte. Dann kam er angelaufen, mit hochroten Wangen und wirren Haaren, noch ganz fiebrig vom Schachtisch her. Er hätte sich nicht trennen können. Bilgner sei auch im Royal gewesen und Löwenthal. Das hätte eine interessante Partie gegeben; ein Zweispringerspiel. Er habe den Schluß nicht abwarten können; aber er habe die Stellung aufgeschrieben. Bilgner stände um eine Idee stärker, doch es schien ihm fraglich, ob es auch zum Siege ausreiche. Jettchen war dann das Weinen näher als das Lachen. Sie hätte so gern einmal mit Kößling gesprochen, von dem, was ihn anging, von seinen Arbeiten und Plänen; sie glaubte an den Dichter in ihm. Und immer kam er mit roten Wangen und leuchtenden Augen und erzählte von einer Schlußkombination, die eines Stamma würdig gewesen wäre: die schwarze Königin hätte sich auf der H-Linie geopfert, und Läufer und Springer hätten dann ein vierzügiges Matt gegeben. Jettchen verstand diese plötzliche Leidenschaft Kößlings nicht, und sie vermochte auch nicht in irgendeinem Zug das Überraschende und Neue zu erblicken, daß Kößling noch am nächsten Tage in seinem Bann hielt. – Nur manchmal kam Jettchen so ganz dumpf die Empfindung, als ob diese plötzliche Hingabe an das Schach für Kößling mehr bedeute als eine bloße Zerstreuung, als ob sie eine Flucht und eine Betäubung wäre; dann meinte Jettchen, daß er es tue, weil er sie nicht mehr liebe, und war noch unglücklicher denn vorher. Heute war er nun ganz fortgeblieben.

Jason hatte ihn zwar entschuldigt und gemeint, daß der Schnee daran schuld sei und das schlechte Wetter oder daß Kößling nicht ganz auf dem Posten sei. Aber das glaubte Jettchen nicht, und sie konnte sich gar nicht mit dem Gedanken vertraut machen, daß er nicht käme. Immer wieder drückte sie die Stirn gegen die Scheiben und sah – einmal nach rechts und einmal nach links – die Straße hinab, folgte jedem mit spähenden Blicken, der unten im Lichtkreis der Laternen auftauchte und im Dämmer wieder verschwand. Aber immer seltener wurden diese einsamen Gestalten, und schon wollte Jettchen sich mutlos von ihrem Fensterplatz zurückziehen, als sie sah, wie unten jemand ganz hastig an der Laterne vorüberging, mit langen Schritten. Am Gang meinte sie Kößling erkannt zu haben; und sie lief an die Korridortür und lauschte hinaus in das halbhelle, breite Treppenhaus, in dem ordentlich die Kälte von unten emporstieg. Erst nach einer ganzen Weile hörte Jettchen Stufen klingen und vernahm ein hastiges Atmen. Und dann – dann stand Kößling vor ihr: ganz erregt, rot vom Frost, mit offenem Mantel und verzerrter Krawatte. Und Jettchen warf sich ihm entgegen. Aber Kößling erwiderte ihre Liebkosungen kaum, so daß Jettchen sich ganz erschrocken aus seinen Armen wand.

Ob ihm denn etwas zugestoßen sei, daß er so spät käme ...

»Nein – nichts«, meinte Kößling in einem Ton, der seine Worte Lügen strafte, »nein – gar nichts.«

Doch – doch, er solle es ihr sagen.

Nein – er habe sich wirklich nur verspätet; ob ihr Onkel Jason vielleicht da sei.

Der sei heute abend bei Onkel Salomon. Aber warum sie denn hier draußen ständen! Er möchte hineinkommen. Ob er denn nicht vielleicht noch etwas essen wollte.

Nein, nein, er könnte nicht hineinkommen, er müsse nach Haus; er hätte eben nur gern heute noch Jason Gebert gesprochen.

Warum er denn nicht wenigstens auf einen Augenblick hineinkomme!

Kößling zögerte, und Jettchen sah neben ihm zu Boden, unmutig und traurig.

»Mein liebes Jettchen«, begann Kößling endlich, »meinst du denn wirklich, du großes Kind, ich bliebe nicht lieber hier bei dir, ganz bei dir, immer und ewig? Ich denke ja nichts anderes mehr als dich, Tag und Nacht, und zähle die Stunden, bis ich dich wiedersehe.«

Und Jettchen wurde heiß unter seinen Küssen.

»Aber ich habe deinem Onkel mein Wort geben müssen, nie in seiner Abwesenheit diese Wohnung zu betreten. Und Jettchen – wirklich, Jettchen, es will mir fast selbst scheinen –, es ist besser so.«

Ob ihm denn etwas zugestoßen sei, er solle es doch sagen.

Nein, nein, gar nichts. Aber er hätte doch gern noch Jason Gebert gesprochen.

Und wieder warfen sie sich einander in die Arme. Wortlos und stürmisch. Aber als Jettchen drinnen Fräulein Hörtel mit dem Geschirr klappern hörte, da war es ihr, als ob sie etwas Böses täte, als ob sie ein Vertrauen mißbrauche; und auch ein anderes, was sie vordem nicht gekannt, flammte dazwischen auf: Angst vor sich selbst und vor ihren Sinnen. So löste sie denn die Arme von Kößlings Schultern und die Lippen von Kößlings Lippen und schlich sich auf den Zehen zurück zur Tür, ihm winkend, daß er ganz still sein sollte. Leise, zitternd und leise zog Jettchen dann hinter sich die Tür ins Schloß.

Aber als sie im Zimmer war, da überfiel sie von neuem die Unruhe, daß Kößling etwas zugestoßen sei, daß er ihr etwas verschwiegen habe, und sie mochte sich nicht entkleiden, bis Jason wiederkommen würde.

Alle Augenblicke stand nun Jettchen vom Buch auf und sah in die Winternacht; sah auf die phantastischen weißen Bänder und Linien der Häuser drüben; sah auf die weißen Rücken der Dächer drüben; sah auf das dämmrige Band der Straße, in die zuckenden Lichtscheine unten, und blickte hinauf in den schwarzen Himmel, der doch wieder von einem unheimlichen Leuchten durchdrungen war.

Und wenn Jettchen jetzt noch auf die Gestalten geachtet hätte, die unten im Schnee sich bewegten, so hätten sie die gleiche Gestalt, den gleichen Gang wie vorhin wohl noch oft sehen können. Denn immer wieder trieb es Kößling um das Haus, und hundertmal kämpfte er mit sich, ob er noch einmal unter irgendeinem Vorwand sich heraufwagen könne. Nur für einen kurzen Augenblick, nur für ein Wort und einen Gruß. – Und er schlich immer wieder um das Haus, vorsichtig nach oben spähend wie der Marder in der Winternacht um den Taubenschlag.

 


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