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Und die Zeiger rückten weiter.

Am nächsten Tag klangen die weißen Straßen wider vom Lärm der Kindertrompeten, und kleine Mädchen in neuen braunen Wintermänteln und blauen Käppchen trippelten stolz durch den Schnee, ohne sich nach irgend jemand umzusehen, ganz verliebt in ihre Puppen, die sie vorsichtig auf dem Arm hielten und zärtlicher anblickten, als eine Mutter auf ihr Kind schaut. Und in der Mitte auf dem Damm katzbalgten sich die Jungen um die Schlitten; und der Sohn vom Holzhacker, dem der Vater seinen Gleitschlitten zusammengeschlagen hatte aus den verschiedenartigsten Brettern, die er bei seiner letzten Tätigkeit fürsorglich hatte mitgehen heißen, hielt sein Vehikel, das er am groben Strick nachschleifen ließ, für ebensoschön wie den Stuhlschlitten von Söhlke, der fünf Taler gekostet hatte und den die Kinder vom Hofrat langsam vor sich hinschoben, eingepackt und eingehüllt wie die Waschbären. Und etwelche Herren sah man sogar die Königstraße hinabeilen, die breiten Holländer Schlittschuhe am Riemen schlenkernd, die flatternden Spenzer offen, als ob sie der Winterkälte ihre Verachtung damit kundtun wollten. Man sah sie den Zelten zueilen, allwo sie beabsichtigten, auf dem Eis der Spree ihre Künste spielen zu lassen vor den bewundernden Blicken der Damen, die oben auf der Veranda stehen und sich an dem Anblick erlaben durften.

Und auf die frischen und lärmvollen Weihnachtstage folgten, immer noch im Frost, so ein paar unbestimmte und seltsame Tage, die nicht Fisch und nicht Fleisch waren, nicht Wochentag, nicht Sonntag, nicht Arbeitstag, nicht Feiertag – die paar Tage, die da so eingeklemmt liegen zwischen Weihnachten und Neujahr und von denen keiner recht weiß, was er anfangen soll. Die Budenreihen am Schloßplatz sanken zusammen, und die Händler, die von außerhalb gekommen waren, zogen mit müden Gäulen fort in ihren Planwagen, aus denen die langen Stangen hervorsahen, hin auf andere Märkte; und es ging ihnen eben wie allem Schönen, das dahinschwindet, im Augenblick waren sie schon vergessen; und der Platz lag wieder ganz weit und leer, behütet von dem schwarzen, bebänderten und verschneiten Schloßbau. Die paar Buden mit Neujahrswünschen in der Breiten Straße – das waren nur so letzte Trabanten. Die zählten ja kaum.

In diesen Tagen kam in den Nachmittagsstunden Doktor Kößling und brachte Jettchen ein Taschenbüchlein, einen Zyanenalmanach auf das Jahr 1840, der Liebe und Freundschaft gewidmet von Samuel Schlesinger. Ein sehr zierliches Bändchen war es, mit gepreßtem Deckel, in rosa zartem Glanzpapier. Und innen war es mit gar sauberen Stahlstichen geschmückt und verschönt. Dort weinte die trostlose Kennedy, während Maria Stuart, stolz wie eine Königin – und das war ja auch ihr ureigentliches Metier –, zum Block ging und an anderer Stelle Kosinsky sagte, »wie sein Name ist«. Likate aber, die anmutige Herrscherin der Madagassen, bekrönte ihre schwarze Nacktheit mit einem Federbusch.

Jettchen freute sich sehr. Aber diese Freude verwischte nicht ganz ihre Verstimmung vom Weihnachtsabend. Auch Jason, der hinzukam – denn es war seine Dämmerstunde –, fand das Büchlein hübsch und blätterte gar lange darin.

»Ja«, sagte er, »ich nenne so etwas wirklich anmutig und liebenswürdig. Dem Vetter Julius, liebes Jettchen, sollen, wie mir Ferdinand erzählte, ja auch die Vergißmeinnicht-Almanache so gut gefallen haben, daß er sich jetzt noch die ›Kartoffeln in der Schale‹ gekauft hat.«

»Wann hast du denn Onkel Ferdinand gesprochen?« fragte Jettchen erstaunt.

»Heute vormittag, bei Salomon im Kontor«, sagte Jason zögernd. »Es war nicht gerade erfreulich, unser Gespräch.«

Jettchen erschrak. Was es denn um Himmels willen schon wieder gäbe!

»Ach Gott, Wolfgang ist doch so leidend. Salomon hat gestern mit Stosch darüber gesprochen.«

»Der arme Junge!« rief Jettchen und hatte die Tränen in den Augen. »Ist es denn ernst mit ihm?«

»Wie man es nehmen will«, versetzte Jason. Und auch bei diesen Worten verließ ihn sein Lächeln nicht, das immer etwas Durchgeistigtes, aber auch immer etwas Müdes und Schmerzvolles hatte. »Stosch hält es sogar für ganz aussichtslos. Er gibt ja dem kleinen Kerl leider überhaupt nur noch Tage und Wochen. Nach seiner Meinung ist es die Auszehrung. Ferdinand – er hat es ihm ja nicht so offen wie Salomon gesagt – doktert jetzt auf eigene Faust an dem Jungen herum. Er hat ihm einen Liebertschen Tee gegeben, er verspricht sich etwas davon; aber ich fürchte, der wird ihm auch nichts mehr nützen.«

Jettchen hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und schluchzte still in sich hinein. Sie hatte den kleinen Wolfgang, den scheuen und verprügelten Jungen, der vor andern so gar nicht aus sich herausging, draußen in Charlottenburg im letzten Sommer liebgewonnen und hatte gesehen, welch eine feine und verträumte Innigkeit in ihm ruhte, eine Klugheit, die nicht auf Bücher gerichtet war, und eine Reife, die sich nicht in Wissen, sondern im Verstehen kundgab. An diese kleine, arme und verflogene Seele würde nun der Tod seine Hand legen; und ob sie die Hände ringe und jammere – das Leben würde alsbald ohne den kleinen Wolfgang Gebert weiterziehen, als ob seine schmalen Kinderfüße nie auf seinen Wegen ihre Spuren eingedrückt hätten.

Jason schien Jettchens Tränen zu verstehen. »Ach Gott, der kleine Kerl, wer weiß, was in ihm war! Die Schule ist ja gar kein Maßstab. Max war immer Erster, und ich glaube, Wolfgang, der stets auf den letzten Plätzen sich herumdrückt, ist der Begabtere von beiden. Schade – er kann eben nicht mehr die Probe aufs Exempel machen.«

Kößling war an das Fenster getreten und blickte stumm über die beschneiten Dächer in die graublaue Abendluft. Gewiß tat ihm der kleine Junge leid, eben wie uns jedes junge Leben, das zerbrochen wird, weh tut; aber endlich er hatte den Jungen einmal gesehen in seinem Leben und kaum auf ihn geachtet. Und seine Fremdheit zu diesen beiden hier trat ihm wieder doppelt schwer vor die Augen.

»Glaubst du, daß ich einmal zu ihm kann, Onkel?« meinte Jettchen.

»O gewiß, ich habe Ferdinand schon gesagt, daß du nach dem Jungen sehen wirst. Aber weißt du, ich denke, Wolfgang hat doch bald mal seinen Geburtstag; geh dann hin, denn Hannchen hat natürlich keine Ahnung, wie es mit ihrem Sohn steht. Und selbst wenn sie es weiß, sie macht sich eben nichts wissen. Sie treibt es wie der Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt und meint, nun wird's so vorübergehen. Aber der da oben versteht nun einmal keinen Spaß.«

Kößling kam wieder vom hellen Fenster in das Halbdunkel der Stube hinein und nahm zögernd auf einem Stuhl Platz. Er hatte Sehnsucht nach Musik und wagte doch nicht, sich an das Instrument zu setzen.

»Ja, auch in anderer Beziehung«, fuhr Jason fort, »war unser Zusammensein heute nicht gerade erfreulich. Salomon war gar nicht er selbst mehr, so hat er sich in diesen Tagen aufgeregt. Es ist ja auch keine Kleinigkeit für ihn. Du weißt ja selbst, wie er ist, Jettchen, und wie er auf sich hält in geschäftlichen Dingen. Und da muß ihm so etwas passieren! Ich bin eigentlich der einzige, der die Sache nicht so schlimm ansieht. Dieser Posener Fuchs, sage ich mir, wird schon wieder den Kopf aus der Schlinge bekommen.«

Jettchen war noch ganz mit dem traurigen Schicksal des kleinen Wolfgang beschäftigt, und erst bei den letzten Worten horchte sie erschrocken auf.

»Weißt du«, sagte Jason auf Jettchens stumme Frage, »unser braver und verehrter Vetter Julius Jacoby hat sich da nämlich durch die Benjamins hier, verstehst du, durch die – Jason machte die Bewegung des Erdrosselns –, »also durch die Benjamins hat er sich in ganz umfängliche Börsengeschäfte hineinhetzen lassen, zu denen man doch mehr Kapital braucht, als ihm zur Verfügung steht, und wohl die Dinge auch etwas besser kennen muß, als er sie kennt. Und nun ist mit einemmal Polen offen. Mit seinem Leder bleibt er diese Saison auch halb und halb sitzen, also: Wenn man ihm nicht zu Hilfe kommt, so ist im Handumdrehen dein ganzes schönes Geld zum Teufel. Und das darf eben Salomon nicht zulassen; denn auf wen fällt es zurück? Nicht wahr – auf ihn! Er hat Julius Jacoby das Geschäft hier eingerichtet; und er ist doch sogar in seinem Vertrauen so weit gegangen, ihm seine Nichte zur Frau zu geben, und deshalb wird auch nicht ein gewisser Herr Julius Jacoby aus Bentschen in Berlin Bankrott machen, sondern nur der Neffe von dem reichen Salomon Gebert. Das weiß Salomon ganz genau, und aus diesem Grunde muß eben Salomon dran glauben, ob er will oder nicht. – Weißt du, Mitleid braucht man deswegen immer noch nicht mit ihm und Rikchen zu haben. Das schlimmste kann sein, daß Salomon bei Mendelssohn fünfzigtausend Taler weniger liegen hat, und deswegen wird Rikchen auch noch nicht eine einzige Apfeltorte weniger backen. Salomon ist natürlich furchtbar aufgebracht und schreit Rikchen schon an, wenn sie nur den Namen Julius ausspricht. Ich habe ja deine liebe Tante heute auch im Kontor gesprochen, sie war ganz klein und wie um den Finger zu wickeln, so weich. Aber endlich, was wird all das Salomon nützen? Er muß in den sauren Apfel beißen. Jetzt hat er natürlich ganz den Kopf verloren und meint, daß alles zum Teufel wäre. Aber ich bin der festen Überzeugung, sie kommen zum Schluß doch mit heiler Haut aus der Sache wieder heraus; und wie ich Salomon kenne, findet er auch schon morgen seinen Kopf wieder.«

So sprach Jason Gebert, trotzdem Jettchen, immer noch im Innersten erregt durch die Krankheit des kleinen Wolfgang, kaum auf seine Worte zu achten vermochte. Jason fühlte das.

»Du scheinst die Sache nicht zu begreifen, liebes Jettchen«, fuhr er schärfer fort. »Es ist nämlich dein Vermögen, (das da auf dem Spiel steht. Wovon willst du denn später leben, wenn das Geld nicht gerettet wird? Oder wenigstens so lange leben, bis dein Onkel Salomon und deine Tante Rikchen die Augen geschlossen haben. Hast du dich das mal gefragt?«

Jettchen schüttelte nur. Sie hatte ja bisher nie Vermögen besessen und nie darüber nachgedacht, woher es kam.

»Jedes Böse aber hat auch sein Gutes«, begann Jason wieder nach einer nachdenklichen Pause. »Salomon sieht doch jetzt ein, was er getan hat. Er verhandelt überhaupt nicht mehr mit Julius Jacoby, das tut Ferdinand für ihn. Und er ist der Rechte, weißt du, der sich ein X für ein U machen läßt. Aber das muß sich Salomon doch jetzt sagen: Was Sie auch sonst für Fehler haben mögen, lieber Doktor Kößling – an die Börse wären Sie nicht gegangen, und mit gepaschtem Leder wären Sie auch nicht sitzengeblieben. Und endlich bin ich sicher, daß Ihnen Jettchen nicht schon gleich am Hochzeitstag auf und davon gegangen wäre. Sie können das gar nicht so begreifen. Aber, Kößling, je tiefer die Köln-Aachener fallen, desto höher steigen Ihre Aktien.«

Kößling, der so fremd dabeigesessen hatte, war es gar nicht lieb, daß er plötzlich in die Debatte gezogen wurde. Aber was blieb ihm übrig, als zu lachen und zu versichern, daß er nicht einmal gepaschtes russisches Rindleder von ehrlich gekauftem deutschem Schafleder unterscheiden könnte und daß er nicht einmal wisse, wo die Börse sich befinde – also hierin ganz und gar rein und kinderunschuldig sei. Als er so sprach, leuchteten ihm durch das Halbdunkel des Zimmers Jettchens Augen zu.

Aber da erhob sich Jason. Ob Doktor Kößling jetzt mit ihm käme? Er werde noch einmal in der gleichen Angelegenheit zu seinem Bruder ins Geschäft gehen, und es würde ihn freuen, wenn Kößling ihn ein Stück begleiten wollte.

Kößling verstand die Mahnung und sagte, daß er es gern täte, trotzdem es ihn mit allen Nerven und Sinnen zu Jettchen zog und trotzdem er fühlte, wie ungern ihn Jettchen fortließ.

Jettchen wagte ebenfalls nicht dagegenzusprechen. Jason empfand wohl, daß es hart von ihm war, aber er fürchtete, es anders nicht verantworten zu können. Und damit die Wunde weniger schmerze, sagte er zu Kößling im Hinausgehen, daß er ihnen übermorgen zu Silvester nicht wieder so entwischen dürfe wie am Weihnachtsabend.. Er solle ja nicht verabsäumen, sich auf ein Glas Punsch einzufinden, das sie alle zusammen auf eine bessere Zukunft dem neuen Jahre, dem Jahre des Heils 1840, entgegentrinken wollten. Den ganzen Weihnachtsabend hätten sie beide hier allein verplaudern müssen, und das wäre nur seine Schuld gewesen.

Sonst war es Überlieferung gewesen, daß an jedem Silvester alle Geberts sich bei Salomon und Rikchen trafen und damit ihre innere Zusammengehörigkeit für ein Jahr gleichsam von neuem beschworen, verbrieften und versiegelten. Jason pflegte sogar stets zu diesem freudigen Anlaß alle Geberts in einem gereimten Loblied zu besingen, und man hatte immer füreinander Neckereien und Überraschungen im Hinterhalt. Aber zu diesem Jahresschluß 1839 ging auch alles verquer. Salomon und Rikchen mochten nach der Aufregung der letzten Wochen keine Gäste mehr bei sich sehen. Ferdinand und Hannchen wollten nicht von Wolfgang fortgehen, der seit sechs Tagen fest lag; und der alte Eli konnte nicht mehr recht mit seinen Füßen weiter. Er humpelte im Zimmer herum, nörgelte, schnauzte Minchen an und sagte, er hätte das Reißen. Jettchen wäre auch ferngeblieben – und so war dieses Jahr schon erst gar nicht von Silvester die Rede gewesen. Denn um ein Stück zu geben, brauchte man doch zuallererst Schauspieler. Nur Pinchen und Rosalie, die immer noch bei Ferdinand und Hannchen die Stühle warmhielten, waren mit dem Gang der Dinge wenig zufrieden und schwer beleidigt und gekränkt. Sie hatten sich so sehr auf den Abend gefreut, und sie wünschten doch wenigstens etwas von dem Silvestertrubel auf der Friedrichstraße zu sehen. Wenn Ferdinand es nicht wollte, konnte doch Joel es ihnen zeigen; denn bei ihnen zu Hause gäbe es so etwas nicht. Ferdinand aber stieg die Galle hoch, und er meinte, daß wohl ihr »Herr Bruder« nach dem Gespräch, das er heute mit ihm geführt hätte, keinen Grund habe, Silvester in besonders fröhlicher Stimmung zu begehen und ihn inmitten des Trubels der Friedrichstraße zu verbringen. Für ihn aber verbiete sich das von selbst, da sie um Wolfgang doch leider in Angst und Sorgen seien.

Und als nun das schöne Jahr 1839 sich zum Abschied rüstete, um seinen blütenzarten Frühling, seinen reichen Sommer, seinen braunen Herbst und seinen weißen Winter der Vergessenheit zu überliefern, und schon in der Tür stand und sich nur noch einmal umwandte, als müsse es sich auf irgend etwas besinnen, was es vergessen hätte, da war es ganz erstaunt, daß es nicht – wie so viele seiner Vorgänger – alle Geberts zusammen sah und daß der eine hier und der andere dort war. Salomon und Rikchen trieben Ausstandspolitik und hatten sich früher als sonst zur Ruhe begeben, um auf getrennter Lagerstatt im friedsamen Schlummer in das neue Jahr hinüberzusäuseln. Eli und Minchen hatten so viele Jahre gemeinsam kommen und gehen sehen, daß es ihnen auf eines mehr oder weniger nicht recht ankam – und während Minchen sich nach dem Tee in ihre Kemenate zurückgezogen hatte, saß Eli nun in seinem dämmrigen Zimmer mit den goldenen Stühlen stocksteif in seinem Sessel, mitten am Tisch, ein Licht rechts vom Buch, ein Licht links vom Buch, und las einen Räuberroman von Leibrock, in dem es grausig und schaurig zuging. Da lag in finsterer Mitternacht an der Kirchhofsmauer Rinaldo im Hinterhalt und ruhte – vielseitig, wie er nun einmal war –, zugleich umgeben von Häschern, beim fahlen Schein der Blitze in den liebesseligen Armen der wunderschönen Gräfin Aurora Dulcinides ... ruhte aus von den Strapazen des letzten Doppelraubmordes – verbunden mit Hostiendiebstahl und Nonnenschändung –, dem immerhin edle Motive nicht abzustreiten waren. Daß der alte Onkel Eli so stocksteif saß, war nun nicht etwa eitel Stolz von ihm, sondern die Weitsichtigkeit des Alters; und daß er von allem Lesestoff dieser Welt sich gerade an den Abenteuern Rinaldos erletzte, lag daran, daß ihm die Schäferspiele seiner Jugend geschmacklos geworden waren und daß sein Gaumen nach scharfer Kost verlangte, so wie ja Friedrich der Große in seinem Alter die Suppen nur dann genießen konnte, wenn er sie mit Spaniol gewürzt hatte.

Hannchen aber saß, ein Kissen unter den Füßen und eins im Rücken, in dem tiefen Lehnstuhl vor dem birkenen Bett Wolfgangs, der heiß, unruhig und schwer schlief. Denn weil die Lungen mit ihrem Lebenswerk nicht recht mehr weiter konnten, so flog und zitterte nun das kleine Herz, dem allzu schwere Arbeit zugemutet war, und schuf dem armen Kind eine innere Unruhe, daß es immer wieder auffuhr und eine neue Lage suchte, kaum daß es seine Lider geschlossen und seinen Kopf auf die Seite gesenkt hatte. In Tante Hannchens kleinem Hirn wollte in den langen Nachtstunden, die sie nun hier saß, manchmal der Gedanke aufdämmern, daß es mit Wolfgangs Krankheit doch vielleicht etwas mehr zu bedeuten hatte als das bißchen Bräune und Röteln, das sie an ihren Kindern und mit ihren Kindern schon durchgemacht hatte. Die Vorstellung aber war ihr unlieb und flößte ihr Grauen ein, und Tante Hannchen gab sich alle Mühe, sie zurückzudämmen und sie nicht klar und greifbar werden zu lassen. Jedoch ebensowenig wie man dem Wetterleuchten befehlen kann aufzuhören, das in der Sommernacht Stunden und Stunden am Himmelsrand bleibt und immerfort seine Blitzesscheine über das stille Land schickt – das Land, das doch scheinbar ganz friedlich unter der Sternendecke schlummert –, sowenig wie man dem Wetterleuchten befehlen kann, nicht zu murren, zu zucken und zu blitzen – so wenig können wir im Lande unserer Gedanken befehlen, daß die fernen Gewitter nicht ihre huschenden Lichter herüberwerfen und uns immer wieder erschrecken und zusammenschaudern lassen. Und so perlten, ohne daß sie es wollte, der braven Tante Hannchen dicke Tränen über das Gesicht, kamen aus den kleinen, zwinkernden Jacobyschen Jettaugen und zogen lange Spuren über die breiten, feisten Backen. Hannchen fürchtete sich, mit dem kranken Jungen allein zu bleiben; wenn – Gott behüte – was passieren könnte! Aber Ferdinand Gebert kam nicht. Der saß nun schon Stunden und Stunden breit und wohlgefällig mit Max im Kontor und wälzte die Kladden und die Hauptbücher, zog die Restsummen, ordnete lange Zahlenreihen, schrieb sie hier- und dorthin, addierte und subtrahierte und brachte aus den verschwiegenen Blättern seines Geheimbuches auf das Debet von Spesen und Geschäftsunkosten manchen Friedrichsdor hinüber, von dessen Verwendung zugunsten seines Unternehmens niemand bisher etwas hatte ahnen können.

So wäre also in diesem Jahre des Heils 1839 nirgends bei Gebert etwas von Silvester zu spüren gewesen, und die kalte, neblige Schneenacht wäre ebenso hingegangen wie ihre letzten Vorgängerinnen, wenn nicht oben in der Klosterstraße bei Jason Gebert der bittersüße Pomeranzenduft des Kardinals, den Jason mit vieler Feierlichkeit zusammengebraut hatte, die Räume durchzogen hätte. In feinen grauen Wolken stieg er aus dem Rund einer alten Steingutterrine empor und zog um die blanken Mahagonisäulen der Porzellanschränke und strich den süßen Grisetten Gavarnis, die da in braunem Birkenrahmen von der Wand pendelten, um die Näschen, daß sie ganz heimlich und verstohlen danach schnupperten und mit lüsternen Blicken hinübersahen. Und man wußte wirklich nicht, galt das nur dem warmen Süßtrank oder etwa auch jenem Berg von braunen Handgranaten, die da im Lichtkreis der Lampe ihre Zuckerglasuren blitzen ließen und von denen jede eine angenehme Überraschung in sich trug, ob sie nun Himbeermus enthielte oder Apfelgelee, Pflaumen oder Hagebutten.

Kößling war erst spät am Abend zu Jason Gebert und Jettchen gekommen; vielleicht vom Schanktisch hergekommen, mürrisch, so wie der Mensch, der mit sich selbst in Hader liegt, eben mürrisch ist. Dann aber hatte er sich, ohne daß man ihn aufforderte, an das Instrument gesetzt und hatte all seine inneren Unstimmigkeiten über dem Spiel vergessen. Es beruhigte seine Sinne und ließ seine Wünsche und Nöte mählich einschlummern, daß sie nur noch manchmal aufschluchzten, wie ein Kind, das sich in den Schlaf geweint hat, noch einmal im Traum aufschluchzt.

Und Jettchen hatte sich herbeigelassen zu singen; das erstemal seit langer Zeit, einfache Liedchen von Weber, die halb gesprochen wurden und in denen der Gesang nur wie die Begleitung zu den Worten klang; Lieder, in denen die Kunst wenig bedeutete und die Schlichtheit der Empfindung alles war. Jason Gebert hatte ganz nahe und still dabeigesessen und Jettchen betrachtet, wie der wechselnde Widerschein dieser Lieder von Sehnen und Bangen, Harren und Entsagen über ihre Züge huschte und ihre Schönheit vergeistigte und verklärte. Er konnte sich nicht von diesem Anblick losreißen, sich nicht genugtun in diesen stummen Huldigungen, und er bat Jettchen immer wieder zu singen, nur um ihr Auge mit dem halbgesenkten Lid noch einmal betrachten zu dürfen, nur um das weiche Heben und Senken der weißen Hände über den schwirrenden Tasten zu sehen. – Aber Doktor Kößling, der in jedem Nerv Musik spürte und dessen Tonvorstellungen weit schärfer und klingender waren, als sie der einfache und schmucklose Vortrag Jettchens geben konnte, hörte nur wie aus Höflichkeit zu und vermochte nicht, Lob und Bitten so warm und aufrichtig zu stimmen, wieviel Mühe er sich auch gab, es zu tun. Für ihn gewann Jettchen nicht, wenn sie am Spinett sang; ihn beunruhigte jeder Ton, der nicht ausgehalten wurde, jeder Ton, der zittrig und unsicher einsetzte. Er empfand nicht, daß Jettchen es nur seinetwegen tat, um ihm nahezukommen; er hörte nur das zage Spiel, das keine Schwierigkeiten zu lösen wußte, und die Unbehilflichkeit der ungeschulten Stimme. Und das gleiche, was Kößling noch vor einem halben Jahr oben bei Onkel Salomon an Jettchen entzückt hatte und sie ihm nahegebracht hatte – das rückte sie ihm jetzt in die Ferne, machte sie ihm für Augenblicke fast fremd und gleichgültig. Jettchen fühlte das und hörte mit dem Singen auf. Und Kößling vermochte kein Wort zu sagen, er atmete fast auf, als sie es tat.

Aber dann hatte Jason Gebert schnell die Gläser gefüllt. Denn, sagte er, man müsse früh anfangen, wenn man auch nur eine nennenswerte Verminderung des Inhaltes der alten Steingutterrine herbeiführen wollte. Und das starke, heiße Getränk hatte bald alle guter Dinge und redselig gemacht. Man hatte sich zugetrunken, und Jason hatte es sich nicht nehmen lassen, aufzustehen, mit beiden Händen sich auf die Mahagoniplatte zu stützen und nachdenkliche Worte zu sprechen für seine zwei seltsamen Gäste; Worte, denen Jettchen und Kößling dankbar und verwirrt lauschten, denn es war das erstemal, daß man ihre Namen gleichsam bei einer öffentlichen Gelegenheit miteinander verflocht und daß Jason Gebert etwas anerkannte, was er sonst nur schweigend zu übersehen schien.

Jason Gebert erzählte, er habe heute auf der Königstraße zwei Damen gesehen und sei eine Weile hinter ihnen hergegangen. Sie hätten schöne Pelzmäntel angehabt, und man hätte sie auf den ersten Blick für wohlhabende Bürgerfrauen halten können; vielleicht für eine Mutter mit ihrer jung verheirateten Tochter. Und alle sonst hätten sie wohl auch dafür genommen. Aber er hätte sie gleich erkannt. Es sei niemand sonst als das Jahr 1839 und das Jahr 1840 gewesen.

Die Mutter habe nun der Tochter Vermahnungen gegeben und ihr gesagt, was sie zu tun hätte. Er habe jedes Wort genau gehört, aber es wäre indiskret, wenn er etwas verriete. Nur das eine wolle er sagen – und es ginge ja auch sie am meisten an –, die alte Dame habe der jungen ganz besonders eingeschärft, daß sie ja nicht vergesse, an Frau Henriette Jacoby und Doktor Friedrich Kößling das gutzumachen, was sie ihnen beiden Übles getan habe. Und die Junge sei ihr ins Wort gefallen: Das brauche sie ihr gar nicht zu sagen; es sei übrig, auch nur ein Wort darüber zu verlieren; sie habe schon ehedem sich über die Hartherzigkeit ihrer Mutter gar nicht genug wundern können – und, ehrlich gesagt, sie habe sie weder begreifen noch billigen können. Da aber sei die alte Dame ganz böse geworden und habe den Kopf unwillig geschüttelt, daß nur ihre Pudellocken so flogen.

»Du junges Ding, du Grünschnabel, du Guckindiewelt«, habe sie gerufen, »werde erst einmal so alt, wie ich es bin, dann wirst du auch verstehen, warum ich so und nicht anders an den beiden gehandelt habe; nur um sie hart zu schmieden und abzuschleifen, um sie auszuproben und stark zu machen, um für sie durch die Kämpfe eines kurzen Jahres das Glück langer Jahrzehnte zu erringen, das sie, wenn es ihnen von selbst in den Schoß gefallen wäre, vielleicht bald mit eigenen Händen zerbrochen hätten.«

Da habe die Junge wieder gerufen, daß sie ja das Gewesene nichts angehe, ihre Sache wäre die Zukunft, und die werde sie schon gut für ihre Schützlinge gestalten.

Aber kaum hätte sie das ausgesprochen, da seien schon beide weg gewesen, fort, wie von der Erde verschlungen, als ob sie ins Pflaster gesunken wären.

Und darauf – daß die junge Dame im Pelz, das neue Jahr 1840, ihr Versprechen halte –, darauf leere er jetzt sein Glas.

Jettchen und Kößling waren ganz gerührt, und Jettchen sah Jason Gebert dankerfüllt und zärtlich in die Augen, als sie ihre Gläser erhoben. Kößling fühlte diesen Blick und neidete ihn Jason Gebert, denn er erkannte in ihm eine gewisse Wärme und Vertraulichkeit, die den verträumten Blicken, mit denen Jettchen ihn zu betrachten pflegte, eben fehlte. Nicht als ob in ihnen nie ein Wunsch oder ein Begehren gezuckt, nicht daß in ihnen nie eine weiche Hinneigung sich ausgegeben hätte, aber eben jene zärtliche Vertraulichkeit, jenes wortlose Bekenntnis der Zusammengehörigkeit – es fehlte. Und die lähmende Wirkung des starken, heißen Punsches war es, daß Doktor Kößling lange Zeit an diesem Gedanken haftenblieb und daß er ihm immer wieder zuflog, kaum daß er meinte, ihn weggejagt zu haben. Das umdüsterte seine Stirn und machte sein Wesen dumpf und linkisch, seine Worte zäh und langsam, seltsam nachdenklich. Denn auf dem Boden von allem, was Kößling sprach, flammte eben für ihn immer der eine Satz: Ich bedeute ihr nichts. Und die anderen wurden von der gleichen nachdenklichen Stimmung ergriffen. Und so saßen die drei die letzten beiden melancholischen Stunden des Jahres 1839 zusammen, hie und da, hüben und drüben um den runden, blanken braunen Mahagonitisch. Der Berg von Handgranaten da auf der weißen Schüssel wollte gar nicht niedriger werden, und das goldene, dampfende Gebräu füllte immer noch das Rund der Bowle fast bis oben hin. Und doch schien es jedem, als ob er schon unmäßig viel getrunken hätte, und jeder hörte das Blut in den Schläfen sausen und singen.

Selbst als Jason mit einer großen Neuigkeit herausrückte, die er erst heute von seinem Bruder Ferdinand erfahren hatte, wurde doch keiner der Stimmung Herr, jenes Gefühles von halber Angst und halber Zwecklosigkeit, jener Nachdenklichkeit, als ob man jetzt und gerade jetzt den Sinn dieses unklaren und verwirrenden Lebens packen könnte. Ja, den Vetter Julius habe man nun ganz in die Enge getrieben, er habe nichts mehr verheimlichen können, das wäre ja noch weit schlechter gewesen, als zu erwarten; aber man habe ihm jetzt alles, auch alles aus den Händen genommen, und er habe schriftlich auf jede eigene Führung der Börsengeschäfte und jede weitere Vergrößerung seines Lagers verzichten müssen. Man habe heute vormittag in Salomons Kontor vier Stunden mit ihm unterhandelt, bis man ihn soweit gebracht hätte; und er habe sich von Ferdinand Reden einstecken müssen, die man sich sonst sicher nicht bieten lasse. Salomon hätte ihn aber im andern Fall auch ohne jede Gnade in Konkurs gehen lassen. Und daß ihm dann die Benjamins das letzte Hemd ausgezogen hätten, darauf könne man sich verlassen.

Jettchen tat eigentlich im geheimen dieser Vetter Julius leid, dem sie ja doch nichts Böses wünschte, und sie sah auch nicht ein, warum diese Nachricht für sie gerade so besonders freudig sein sollte. Aber Jason erklärte ihr, warum es für sie gut sei, daß man jetzt den Vetter Julius wie einen gefangenen Vogel in der Hand halte. Wie bald, und er müsse pfeifen, wie sie es wollten.

Kößling, der als echter Literat von allen geschäftlichen Dingen nur ganz vage und dämmrige Vorstellungen hatte, fühlte sich nur unangenehm berührt, daß er von Jason von neuem an das Vorhandensein dieses Vetters erinnert wurde, den er freudig und gern auf dieser Welt vermißt hätte. Und Jason Gebert empfand das und kam plötzlich darauf zu sprechen, daß er noch fort müsse, nach den Linden, zu Kranzler. Jettchen, die fürchtete, es könnte Onkel Jason in dem Trubel und der Ausgelassenheit der Neujahrsnacht etwas zustoßen, bat ihn, er möchte doch zu Hause bleiben; und im stillen hoffte sie auch, daß man dann länger zusammen sein könnte. Aber Jason sagte, daß er einfach gehen müsse. Weshalb, wisse er zwar eigentlich nicht recht, aber er tue es nun jedes liebe Jahr, und er fürchte, etwas zu versäumen, wenn er es dieses Mal nicht täte. Es wäre eben damit endlich auch nicht anders wie mit dem meisten hier im Leben, ob man es nun stolz Wissenschaft oder bescheidene Liebe nenne – man tue es nur deshalb, weil man fürchtete, etwas zu versäumen, wenn man es unterließe. Und als Jason noch so sprach, da hörte man draußen Glockenschläge und Kinderstimmen und Rufen von fern und nah, und Jettchen und Kößling liefen zu den dicht beschlagenen Fenstern, sie aufzureißen. Jason füllte sich sein Glas bis zum Rand und hinkte langsam hinüber, es vorsichtig in der Hand balancierend.

Jettchen und Kößling hatten sich ganz wider ihre Art umfaßt und die Köpfe dicht aneinandergedrückt. Wortlos sahen sie zum Himmel, der schwarz und hoch war, sahen aus dem Halbdunkel Bäume und Häuser wie weiße Gespenster auftauchen, sahen die silberne Schneedecke über dem Boden und die harten Geleise unten auf den Wegen und Fahrstraßen, auf denen die scharfgeschnittenen Umrisse schwarzer Gestalten sich bewegten, von vielen Menschen, die auf die Straße geeilt waren und ihre punschselige Begeisterung für das kommende Jahr in die Nacht hinausbrüllten, die immer wieder und wieder ihren Ruf wiederholten, während oben die Glocken klangen und ein Hund, durch all den Lärm wild gemacht, bellte und bellte, bis ihm die Stimme überschlug.

Und die beiden hatten doch die seltsame Empfindung, als ob irgend etwas an ihnen vorüberstriche, irgend etwas ihnen entgegenwehte, durch die Ruhe der schneereichen Winternacht – eine Ruhe, die eben so stark und fühlbar war, daß all das Lärmen da unten, all das Klingen da oben sie doch nicht völlig zu trüben und zu übertönen vermochte.

Jason, der auch an das Fenster getreten war, mochte wohl etwas Ähnliches fühlen.

»Ja«, sagte er und berührte Jettchen an der Schulter, »ja, Jettchen, eigentlich ist das doch nur ein Tag wie alle Tage, und doch gibt er uns fast greifbar zwei Dinge, die wir oft im Lärm des Seins nicht mehr spüren: die Empfindungen von Zeit und Ewigkeit. Diese Sterne da oben im Nebel über uns, die weiße Decke ringsum, alles tief und weit, nichts, was uns ein Zeichen gibt, feierlich, unerbittlich und unentrinnbar – das ist die Ewigkeit. Und diese tobenden Menschen da, die sich nicht genug tun können im Prosit-Neujahr-Brüllen, dieser Hund da unten, der bellt, diese Kinder, die in ihre Weihnachtstrompeten blasen, die zärtlichen Blicke deines Nachbarn – das ist die Zeit, das Lebende und Taumelnde und Vergängliche. Und, Kößling, Doktor Kößling, wenn es Ihnen auch jetzt scheinen mag, als ob das oben mehr bedeute als das hier unten – es ist nicht wahr! Nur hier sind wir zu Hause; nur hier ist unser Glück und unser Elend, das endlich auch noch Glück ist, weil es Leben sein darf.«

Damit nahm Jason feierlich einen langen Zug aus seinem Glase und goß ebenso feierlich den Rest des Getränks in weitem Bogen zum Fenster hinaus, als brächte er dem neuen Jahr 1840 ein Trankopfer dar. Man hörte, wie es aufschlug, und vernahm von unten eine tiefe Stimme, die heraufrief, was denn der Unfug bedeute – das wäre ja noch schöner!

Jettchen und Kößling fuhren kichernd vom Fenster zurück, und Jason schenkte seinen Gästen wieder ein und bat sie, Pfannkuchen zu essen. Man stieß an und wünschte einander viel Glück. Und Doktor Kößling stand mit dem grünen Bowlenglas in der Hand und hielt eine kleine, wohlgesetzte Ansprache, in der er die Tugenden des »besten Onkels« pries.

Aber der beste Onkel war nun ganz und gar nicht dafür, daß man ihn pries, und er nahm aus dem Schrank seinen neuen braunen Zylinder, den er sich hatte aus Paris verschreiben lassen, bügelte ihn und streichelte ihn noch einmal fein säuberlich mit einer Samtbürste, warf seinen pelzbesetzten Umhang kühn über die eine Schulter, als wäre es ein spanischer Mantel, überzeugte sich, daß er sehr unternehmend aussah, und meinte, es wäre jetzt höchste Zeit, daß er ginge. Spät komme er nicht zurück.

Und Kößling nahm zärtlichen Abschied vor den Augen Jason Geberts, denn er fühlte nach Jasons Rede, daß er jetzt sicherlich dazu berechtigt sei.

Als Jettchen in das leere Zimmer zurückkam, das noch ganz erfüllt war vom herbsüßen Duft der Bowle, den nicht einmal die neblige, kalte Nachtluft, die von draußen hereinflutete, verdrängt hatte, da mischten sich in den Lärm von unten immer noch die dumpfen und hellen Glockenklänge von allen Kirchen ringsum – der Nikolai-, der Marienkirche und der Garnisonkirche. Und das Spielwerk der Parochialkirche sandte auch für das neue Jahr ihre schon so oft unbeherzigte Mahnung »Üb immer Treu und Redlichkeit« durch die schneehellen Straßen mit ihren harten Wegen und Geleisen.

Jettchen vergaß das Fenster zu schließen, setzte sich an den Tisch, nahm den Kopf zwischen die Hände und träumte in all dem Lärm und Klingen vor sich hin. Und sie baute an einer reichen und glücklicheren Zukunft, so wie sie es jedes Jahr zur gleichen Stunde getan hatte; nur daß heute ihre Träume bestimmter und blutvoller denn je waren. Und endlich, als draußen die letzten Glockenklänge erstarben und die Prosit-Neujahr-Rufe nur noch seltener und leiser erklangen und sich nur noch dumpf antworteten wie die nächtlichen Rufe der Soldaten von den entfernten Wachtposten draußen auf den Wallgräben, da fröstelte es Jettchen, und sie schloß die Fenster. Eigentlich hätte sie gern noch einmal mit Onkel Jason gesprochen. Aber wann mochte der zurückkehren?

 


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