Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Und alles kam, wie es kommen mußte in diesem neuen Jahr 1840.

Gegen Mittag, als gerade der Regen eine kleine, trügerische Pause machte – ach, er sammelte nur neue Kraft für seine Nachmittagstätigkeit! –, wankte ein großer, altmodischer Reisewagen, der schon lange unbenutzt in Onkel Ferdinands Remise gestanden hatte, mit einem Bau von Kisten und Schließkörben auf dem Verdeck und drei großen Reisetaschen unter dem Spritzleder langsam durch die Königstraße dahin. Seine breiten Räder durchfurchten das Wasser der gekräuselten Pfützen, daß es in Fächern nur so rechts und links um sie her spritzte, und bei jedem Hufschlag der beiden, braven Braunen platschte der graue Matsch des durchweichten Schnees nach allen Seiten auseinander.

Oben auf dieser fahrenden Wasserkunst thronte der Kutscher Johann stocksteif in seinem grauen Mackintosh. Und nebenher ging Ferdinand Gebert. Das heißt auf dem Bürgersteig, in respektvoller Entfernung, außerhalb der Spritzweite. Er rief Johann noch gute Lehren zu und empfahl ihm »diese Fuhre« ganz besonders. Er solle sie gut und schnell nach Bentschen bringen und sie ja nicht etwa umwerfen.

Und in dieser fahrenden Wasserkunst, hinter den bespritzten Scheiben, saßen nun Pinchen und Rosalie, eng aneinandergedrückt, wie das zärtlichen Schwestern zukommt. In braune Reisemäntel waren sie gehüllt, und jede hatte ein Koberchen auf dem Schoß. Sie hatten auf dringendes Anraten Tante Hannchens plötzlich eine unstillbare Sehnsucht nach Bentschen bekommen, und Ferdinand hatte erklärt, daß es ihm leid täte, daß sie schon abreisen wollten. Er wolle ihnen aber trotzdem nichts in den Weg legen, und er wolle ihnen sogar einen eigenen Wagen zur Verfügung stellen. Aber da sie doch nicht allein allen Fährlichkeiten und Anfechtungen einer weiten und beschwerlichen Winterreise sich aussetzen konnten, so war ihnen als männlicher Schutz und Schirm der alte Onkel Naphtali zugesellt worden, der auch in der letzten Zeit seine Bentschener Bequemlichkeiten arg vermißt hatte. In Erwartung dieser saß Onkel Naphtali nun in der fahrenden Wasserkunst den beiden gegenüber, in einen uralten Schafpelz gewickelt – uralt wie er selbst –, die Beine in einem Fußsack und den Kopf in einer Pelzkappe. Und dabei summte er vor sich hin wie eine Winterfliege in der Ofenecke. Er war eigentlich nicht unzufrieden.

»Nu«, sagte er sich, »jedes Ding hat eben seine Zeit. Ma kann in de Großstadt leben; und ma kann in de Kleinstadt leben. Hier hat kein Mensch gewußt, wer ich bin. Zu Hause in Bentschen kennt mich wieder jedes Kind auf de Straße. Nur wie de Sach' mit Joel wird, das hätt' ich wirklich gern noch hier abgewartet.«

Pinchen und Rosalie wieder waren keineswegs so zufrieden wie ihr Nachbar, und sie trennten sich keineswegs so leicht und ruhigen Herzens von Berlin. Nicht etwa, daß es ihnen die Reize des großstädtischen Lebens angetan hätten; nein, was die Schönheit und Annehmlichkeit des Lebens anbetraf, da zogen sie Bentschen schon bei weitem vor – aber sie hatten doch leise gehofft, daß sich hier für sie oder wenigstens für eine von ihnen (jede dachte dabei an sich selbst) etwas finden würde, eine passende Partie, so daß es sich ganz und gar erübrigt hätte, wieder nach Hause zu fahren. Aber diese Hoffnung war nun wie der Schnee draußen rein zu Wasser geworden. Keine passende, nicht einmal eine unpassende Partie war in der Ferne aufgetaucht, nichts hatte sich gezeigt, und dabei hatte ihnen doch Tante Hannchen vorher geschrieben, daß sie sich bestimmt danach umtun würde. »Na ja, auf de Verwandten is eben nie Verlaß.«

Und Onkel Ferdinand ging selbst bis zum Königstädter Theater, bis zum Alexanderplatz mit, klopfte noch einmal den Pferden an den Hals und klopfte noch einmal an die Scheiben und winkte hinein. Und Pinchen und Rosalie nickten hinaus, Freundlichkeit und Süße auf den Gesichtern, aber innerlich voller Galle. Onkel Naphtali ließ sich durch Ferdinand Gebert nicht stören und wandte kaum den Kopf nach ihm. Ihn interessierte dieser Mann überhaupt nicht. Endlich hätte er ja auch seine Postfahrt bezahlen können, wenn er nur gewollt hätte.

Die beiden Braunen, die bis dahin im Schritt gegangen waren, fielen nun in Trab, und der alte Reisewagen rumpelte und stuckerte über den Alexanderplatz hin, daß die Kasten und Körbe auf dem Verdeck nur so durcheinandertanzten. Ferdinand stand und sah ihm noch eine Weile nach, wie er die Landsberger Straße hinunterschwankte, sah ihm nach, bis er klein und kleiner und undeutlich wurde und endlich seinen Blicken ganz entschwand. Dann wandte Ferdinand Gebert sich erleichtert um, und es fiel ihm ein, daß er noch einen Geschäftsweg machen könnte einen von jenen, die er erst zum Schlusse des Jahres auf sein Geschäftsunkostenkonto zu verbuchen pflegte.

Und wie dieser Reisewagen gemach Ferdinand Geberts Blicken entschwindet, so entschwinden uns hier nun auch die beiden – Pinchen und Rosalie – und als dritter der brave alte Onkel Naphtali, und wir werden nichts weiter von ihnen hier mehr hören und lesen. Sie kehren nach Bentschen zurück, woher sie gekommen sind, tauchen wieder unter für uns in das Heer der Namenlosen, werden ausgelöscht aus diesem Buche, und über ihre ferneren Geschicke wüßte ich auch nichts mehr zu sagen und zu singen. Nur soviel: Wie Onkel Naphtali selbst nicht wußte, wann er geboren war, so entzieht es sich meiner Kenntnis, wann er gottselig verblichen ist. Aber das eine weiß ich doch: Es gab eine große Enttäuschung. Denn Onkel Naphtali besaß nicht ein Viertel von dem, was man geglaubt und erhofft hatte. Aber ist es nicht meistens so?

Pinchen jedoch – oder war es Rosalie? – heiratete später doch noch nach Berlin. Sie heiratete einen Witwer, oder, um es deutlicher zu machen, sie heiratete den Witwer; denn es wird immer nur der gleiche Witwer geheiratet, an der Grenze der Fünfzig, unansehnlich wie ein altes Reibeisen, mit Kindern und mit Erinnerungen und mit dem zwingenden Bedürfnis nach einigen tausend Talern. Rosalie aber – oder war es Pinchen? – verblieb in Bentschen, und sie trug noch nach zwanzig Jahren das Haar so, wie es ehedem Jettchen getragen hatte, und sie behauptete immer, daß man das Haar in Berlin so trüge.

 


 << zurück weiter >>