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Dreizehnte Nacht.
»Man erzählt, o König, daß in einer Stadt Indiens ein gerechter König von schönem Wandel lebte, der einen verständigen Wesir von trefflichem Rat und preislich in seinen Wegen hatte; alle Geschäfte waren diesem Wesir anvertraut, und er stand fest in der Gunst des Sultans und war von allen Leuten seiner Zeit hochgeachtet. Der König vertraute ihm in allen Angelegenheiten wegen seiner trefflichen Regierung seiner Unterthanen, und er hatte Garden, die seines Lobes voll waren. Der König hatte aber auch einen Bruder, der ihn beneidete und ihn verdrängen wollte, und, als es ihm zu lange währte und des Königs Tod ihm noch fern zu sein schien, beriet er sich mit einigen seiner Anhänger, die zu ihm sagten: »Des Königs Berater ist der Wesir, ohne den der König längst sein Reich verloren hätte.« Da plante er den Tod des Wesirs, jedoch fand er keinen Weg, dem Wesir beizukommen, bis er, als ihm die Sache zu lange dauerte, zu seiner Frau sprach: »Was scheint dir in dieser Sache nützlich?« Sie versetzte: »Worin?« Er erwiderte: »Ich meine den Wesir, der meinen Bruder antreibt Gott mit ganzer Seele zu dienen; er hat ihm schon völlig den Verstand verdreht, so daß er allein auf seinen Rat hört und sein Gut 175 und seine Geschäfte seinen Händen anvertraut hat.« Sie entgegnete: »Du hast recht; was aber sollen wir thun?« Er antwortete: »Du sollst mir beistehen in dem, was ich dir sagen werde.« Sie versetzte: »Ich werde dir in allem, was du thun willst, helfen.« Nun sagte er: »Ich will ihm eine Grube in der Vorhalle graben und sie geschickt anlegen.« Hierauf that er es, und, als die Nacht kam, bedeckte er die Grube mit einer leichten Decke, so daß der Wesir, wenn er darauf trat, hineinfallen mußte. Dann schickte er nach ihm und ließ ihn in des Königs Namen rufen, indem er dem Boten befahl mit ihm durch die Privatthür einzutreten. Wie nun der Wesir allein mit ihm eintrat und auf die Decke der Grube trat, stürzte er hinein, worauf der Bruder des Königs ihn mit Steinen bewarf. Als der Wesir sah, wie es ihm erging, war er des Todes gewiß und lag eine Weile still, ohne sich zu regen. Da zog ihn der Bruder des Königs wieder heraus, wickelte ihn in seine Kleider und warf ihn um Mitternacht in das wogende Meer. Der Wesir aber kam, sobald er das Wasser verspürte, wieder aus seiner Ohnmacht zu sich und schwamm eine Weile, bis ein Schiff an ihm vorüberzog, worauf er den Seeleuten zurief und sie ihn an Bord nahmen. Als nun am andern Morgen die Unterthanen nach dem Wesir verlangten und ihn nicht fanden, bekümmerten sie sich hierüber, und der König ward bestürzt und wußte nicht, was er thun sollte. Wie er dann einen andern Wesir an seiner Statt anstellen wollte, sagte sein Bruder zu ihm: »Ich weiß einen tauglichen Wesir.« Da sagte der König: »Bring' ihn mir;« und so brachte er ihm einen Mann, den er über die Staatsgeschäfte setzte. Der neue Wesir nahm jedoch den König fest, ließ ihn in Fesseln werfen und setzte seinen Bruder an seiner Statt zum König ein. Da er jedoch große Schändlichkeiten verübte und das Volk ihn deshalb haßte, sagte der Wesir: »Ich fürchte, daß die Indier deinen Bruder wieder in die Regierung einsetzen und wir allzumal das Leben verlieren; wenn wir ihn ins Meer werfen, so haben wir Ruhe 176 vor ihm; und wir wollen dann unter den Leuten verbreiten, daß er gestorben ist.« Nachdem sie sich hierüber geeinigt hatten, nahmen sie den frühern König und warfen ihn ins Meer; er aber schwamm, als er das Wasser verspürte, bis er zu einer Insel gelangte, auf der er fünf Tage blieb, ohne etwas zum Essen oder Trinken zu finden. Am sechsten Tage, als er bereits am Leben verzweifelte, sah er mit einem Male ein Schiff vorüberziehen und gab ihnen Zeichen, worauf sie zu ihm kamen und ihn an Bord nahmen; dann zogen sie mit ihm bis zu einem Land weiter, wo er nackend an den Strand stieg. Da er dort einen Sämann sah. erkundigte er sich bei ihm nach dem Weg, worauf ihn der Sämann fragte: »Bist du ein Fremdling?« Er bejahte es und setzte sich zu ihm und plauderte mit ihm. Der Sämann fand, daß er ein einsichtsvoller und verständiger Mann war, und sagte zu ihm: »Wenn du einen meiner Gefährten sähest, so würdest du finden, daß es ihm gerade so wie dir ergangen ist; sein Fall gleicht dem deinigen, und heute ist er mein Freund.« Da versetzte der König: »Du hast mein Verlangen nach ihm erweckt; kannst du uns nicht beide zusammenbringen?« Der Sämann erwiderte: »Sehr gern.« Der König blieb nun bei ihm, bis er mit Säen fertig geworden war, worauf er ihn in seine Wohnung nahm und ihn mit dem andern zusammenführte; und siehe, da war es sein Wesir. Als sie einander sahen, umarmten sie sich weinend, daß der Sämann mit ihnen weinen mußte; doch verbarg der König ihr Geheimnis und sagte nur zu ihm: »Dieser Mann ist aus meiner Heimat und ist mir wie ein Bruder.« Hierauf blieben sie bei dem Sämann und arbeiteten bei ihm für Lohn, von dem sie lange Zeit ihr Leben fristeten. Daneben aber zogen sie Nachrichten über ihr Land ein und vernahmen von der Drangsal und Tyrannei unter der das Volk zu leiden hatte. Da traf es sich eines Tages. daß ein Schiff bei ihnen anlangte, auf dem sich ein Kaufmann aus ihrem Land befand. Der Kaufmann, der sie erkannte, freute sich mächtig und kleidete sie in schöne 177 Sachen. Dann erzählte er ihnen den Verrat, der an ihnen begangen war, und forderte sie auf mit dem Mann, mit dem sie Freundschaft geschlossen hatten, in ihr Land heimzukehren, da Gott, der Erhabene, sie in ihr Land zurückführen würde. Infolgedessen kehrten sie heim, und das Volk scharte sich um den König, der seinen Bruder und dessen Wesir überfiel und sie festnahm und einkerkern ließ. Dann setzte sich der alte König wieder auf den Thron seines Königreiches, sein Wesir stand vor ihm, und so war alles wieder beim alten, nur, daß sie nichts an irdischem Gut besaßen. Da sprach der König zu seinem Wesir: »Wie können wir hier im Lande bleiben, wo wir so arm sind?« Der Wesir versetzte: »Gemach, bekümmere dich nicht.« Alsdann wählte er einen Soldaten aus und sagte zu ihm: »Schicke uns dein Jahreseinkommen.« Es befanden sich aber fünfzigtausend Unterthanen in der Stadt und ebensoviele in den Flecken. Zu allen diesen schickte der Wesir und ließ ihnen sagen: »Jeder von euch nehme ein Ei und lege es unter eine Henne.« Sie thaten es, ohne daß es irgend jemand eine Last gewesen und beschwerlich gefallen wäre; und, als zwanzig Tage verstrichen und alle Eier ausgebrütet waren, befahl der Wesir die männlichen und weiblichen Küchlein zu paaren und sorgsam aufzuziehen, was sie thaten, ohne daß es jemand Mühe gemacht hätte. Dann ließen sie ihnen Zeit, bis der Wesir nach den Küchlein fragte, worauf sie ihm antworteten, sie wären herangewachsen. Außerdem brachten sie ihm alle ihre Eier, und der Wesir befahl sie unter die Hühner zu legen. Nach zwanzig weiteren Tagen hatte jedes Huhn dreißig oder fünfundzwanzig oder zum wenigsten fünfzehn Küchlein ausgebrütet. Nun stellte der Wesir fest, wie viele Küchlein einem jeden gehörten, und nach zwei weiteren Monaten nahm er die alten Hühner und die Hähne, und so erhielt er von jedem gegen zehn Stück, während die jungen Hennen ihnen verblieben. Ebenso schickte er zu den Flecken und ließ den Leuten die Hähne. Auf diese Weise erhielt er junge Hühner und, indem er sich den 178 Verkauf der Hühner vorbehielt, gewann er im Lauf eines Jahres soviel als die Königswürde vom König erforderte, und des Königs Sache gedieh durch die Klugheit des Wesirs. Das Land kam durch ihn wieder in Blüte, und er behandelte die Unterthanen in Gerechtigkeit und gab ihnen alles wieder, was er von ihnen genommen hatte, und führte ein angenehmes Leben. So ist Einsicht und Klugheit besser als Geld, da Verstand zu allen Zeiten nützt.
Jedoch ist diese Geschichte nicht wunderbarer als die Geschichte von dem Mann, der durch seine Vorsicht das Leben verlor.«
Als der König die Worte des Wesirs vernommen hatte, verwunderte er sich höchlichst und entließ ihn in seine Wohnung. Am andern Abend aber, als der Wesir wieder zu ihm kam, verlangte er von ihm die versprochene Geschichte, worauf der Wesir anhob und erzählte: