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Schon in den Tagen meiner Vorbereitung für das neue Amt erhielt ich Gelegenheit, diese Auffassung meiner Aufgabe in einer Angelegenheit von außerordentlicher Bedeutung für Kriegführung und Volksernährung zu betätigen: in der Stickstoffrage.
Gewaltige Mengen von Stickstoffverbindungen wurden benötigt, einmal für Pulver und sonstige Sprengstoffe aller Art, ferner als unentbehrliches Düngemittel für die Erhaltung eines einigermaßen ausreichenden Ertrages unseres heimischen Bodens.
Unser Inlandsverbrauch an Stickstoffverbindungen hatte im letzten Friedensjahr rund 1 400 000 Tonnen mit einem Gehalt an reinem Stickstoff von rund 240 000 Tonnen betragen; davon wurden etwa 200 000 Tonnen in der Landwirtschaft und 40 000 Tonnen in der Industrie verbraucht. Unsere heimische Erzeugung von Stickstoffverbindungen war zwar in den letzten Jahrzehnten gewaltig gestiegen; die Gewinnung von schwefelsaurem Ammoniak als Nebenprodukt der Kokerei, unsere vor dem Kriege weitaus wichtigste Stickstoffquelle, war von rund 90 000 Tonnen im Jahre 1893 auf rund 500 000 Tonnen im Jahre 1913 gebracht worden. Aber trotzdem deckte die einheimische Erzeugung von Stickstoffverbindungen auch im Jahre 1913 nicht einmal die Hälfte des Inlandsverbrauches. Die größere Hälfte wurde aus dem Ausland bezogen, und zwar ganz überwiegend in der Form von Chilesalpeter.
Die Stickstoffrage
Der Krieg brachte eine enorme Steigerung unseres Bedarfs und eine ebenso enorme Einschränkung unserer Versorgung. Der Stickstoffbedarf für militärische Zwecke überstieg sofort um ein Vielfaches die Mengen, die in Friedenszeiten von der Sprengstoffindustrie verbraucht wurden. Auf der anderen Seite kam die Zufuhr von Chilesalpeter, die in Friedenszeiten etwa die Hälfte unsres Gesamtbedarfs gedeckt hatte, mit dem Kriegsausbruch völlig in Wegfall, und die heimische Gewinnung von schwefelsaurem Ammoniak aus dem Kokereiprozeß erfuhr mit dem scharfen Rückgang der Kohlenförderung und Eisenerzeugung, der mit Kriegsausbruch einsetzte und nur allmählich überwunden werden konnte, gleichfalls eine starke Einschränkung. Es war mit einem Ausfall von nicht weniger als zwei Dritteln unserer Friedensversorgung an Stickstoff zu rechnen. Der Zeitpunkt, in dem die vorhandenen Läger aufgebraucht sein würden, war abzusehen; die heimische Produktion an Stickstoffverbindungen hätte für die Landwirtschaft so gut wie nichts übriggelassen und selbst die Deckung des in gewaltigen Sprüngen anwachsenden militärischen Bedarfs nicht entfernt ausreichend gesichert.
Glücklicherweise waren Ersatzmöglichkeiten für die überseeischen Zufuhren vorhanden, und zwar in den von deutschen Gelehrten ausgearbeiteten Verfahren zur Gewinnung stickstoffhaltiger Verbindungen aus den unerschöpflichen Vorräten der Luft. In Betracht kamen einmal das von Geheimrat Haber erfundene Verfahren der synthetischen Gewinnung von schwefelsaurem Ammoniak, das von der Badischen Anilin- u. Sodafabrik in Ludwigshafen a. Rh. praktisch erprobt worden war; ferner das Frank-Carosche Verfahren zur Herstellung von Kalkstickstoff, nach dem in Werken zu Trostberg in Oberbayern und zu Knapsack bei Köln a. Rh. gearbeitet wurde. Die Produktion der Ludwigshafener Fabrik an schwefelsaurem Ammoniak betrug im letzten Friedensjahr etwa 30 000 Tonnen mit einem Gehalt an reinem Stickstoff von rund 6000 Tonnen, die Produktion des Trostberger und des Knapsacker Werkes erreichte je 25 000 Tonnen Kalkstickstoff mit einem Reingehalt von rund je 5000 Tonnen. Die Ludwigshafener Fabrik hatte noch im Frieden den Ausbau ihres Stickstoffwerkes auf eine jährliche Leistungsfähigkeit von 150 000 Tonnen schwefelsauren Ammoniaks in Angriff genommen.
Die vitale Bedeutung der Stickstoffrage mußte in die Augen springen. Die Heeresverwaltung und das preußische Landwirtschaftsministerium drängten auf den Abschluß von Vereinbarungen, die eine sofortige und ausgiebige Steigerung der einheimischen Stickstoffgewinnung sichern sollten. Die im Besitz der Verfahren befindlichen Unternehmungen stellten sich zur Verfügung und machten Vorschläge für die Aufbringung und Sicherstellung der sehr erheblichen Kapitalien, die zum Zweck der Errichtung der großen, die vorhandenen Stickstoffwerke um ein Vielfaches übertreffenden Neuanlagen zu investieren waren. Die Verhandlungen stießen auf allerlei Schwierigkeiten, namentlich in der Frage der Gewährleistung gegen den Verlust des in den neuen Fabriken festzulegenden Kapitals bei der Wiederkehr der Friedensverhältnisse und in der Frage der Normierung von Höchstpreisen für die Stickstoffverbindungen. Erst im Dezember 1914 kamen Verträge mit Ludwigshafen und Knapsack zustande, die gegen Gewährung von Darlehen des Reiches und Preußens eine Erhöhung der Produktion um 45 000 Tonnen reinen Stickstoff vorsahen. Damit war aber nur erst der Heeresbedarf nach der damaligen, sich späterhin als viel zu niedrig erweisenden Schätzung annähernd gesichert, während für die durch den Stickstoffmangel auf das Schwerste bedrohte Landwirtschaft noch nichts vorgesorgt war. Die Verhandlungen mit den Bayrischen Stickstoffwerken, in denen das Landwirtschaftsministerium eine Sicherung des Bedarfs an Stickstoffdüngemitteln erstrebte, waren auf dem toten Punkt: Die Stickstoffwerke verlangten für ihre Neuproduktion eine fünfzehnjährige Absatzgarantie zu einem wesentlich unter den Friedenspreisen liegenden Satze, die landwirtschaftlichen Vereinigungen waren aus sich heraus für die Übernahme einer solchen Absatzgarantie nicht stark genug, und die Finanzverwaltungen Preußens und des Reiches weigerten sich kategorisch, ihrerseits eine Absatzgarantie zu übernehmen; – sie waren auf Grund der Kriegskredite formal wohl zur Leistung von Ausgaben für Kriegszwecke, nicht aber zur Übernahme von Garantien befugt! Als meine Ernennung zum Staatssekretär des Reichsschatzamts feststand, besuchten mich der preußische Landwirtschaftsminister Freiherr von Schorlemer und der preußische Finanzminister Herr Lentze, um mir die geradezu verzweifelte Lage der Stickstoffversorgung der Landwirtschaft darzulegen und sich meiner Unterstützung bei der Überwindung dieses Notstandes zu versichern. Die Situation war mir bereits bekannt, und ich war entschlossen, nicht nur meinerseits die Initiative zu der notwendigen weiteren Steigerung unserer Stickstoffgewinnung zu nehmen, sondern auch dem Reich in diesem neuen, nationalwirtschaftlich unschätzbar wichtigen und finanziell aussichtsreichen Industriezweige eine starke Position zu schaffen. Am Tage nach meiner Besprechung mit den beiden Ministern, am 23. Januar 1915, fand, durch diese veranlaßt, eine Besprechung der beteiligten Ressortchefs statt, an der ich neben meinem noch amtierenden Vorgänger teilnahm. Ich entwickelte den Gedanken, daß die Reichsfinanzverwaltung durch die Bayrischen Stickstoffwerke eine große Kalkstickstoff-Fabrik für das Reich bauen lassen und gleichzeitig mit den Bayrischen Stickstoffwerken einen Betriebsvertrag abschließen solle, letzteren auf der Grundlage, daß der gesamte über einen bestimmten Satz für das Kiloprozent Kalkstickstoff hinaus erzielte Bruttoerlös dem Reich zufließen und dieses außerdem an dem verbleibenden Reingewinn aus dem Betriebe mit einem angemessenen Anteil beteiligt werden sollte. Dadurch wollte ich der betriebführenden Firma die Möglichkeit nehmen, eine Steigerung ihrer Gewinne in hohen Verkaufspreisen zu suchen, sie vielmehr darauf hinweisen, ihre Gewinnaussichten lediglich in Verbilligungen der Produktion zu erblicken, was ihr einen möglichst starken Anreiz zur technischen Vervollkommnung ihres Verfahrens geben mußte. Ich schlug ferner vor, durch ein Reichsgesetz dem Bundesrat die Ermächtigung zur Einführung eines Stickstoff-Handelsmonopols geben zu lassen, um die Position des Reiches in der Stickstoffindustrie zu verstärken und gleichzeitig eine Waffe gegen eine nach Friedensschluß zu erwartende Bedrohung der deutschen Stickstoffindustrie vom Auslande her rechtzeitig bereitzustellen.
Die Bayrischen Stickstoffwerke
Meine Vorschläge fanden die Zustimmung der Ressortchefs. Auch der Reichskanzler trat ihnen bei.
Auf dieser Grundlage schloß ich in den ersten Wochen meiner Amtsführung Verträge mit den Bayrischen Stickstoffwerken ab, in denen der schleunige Bau zweier Reichswerke mit einer jährlichen Leistungsfähigkeit von insgesamt 225 000 Tonnen Kalkstickstoff und gleichzeitig die Bedingungen des Betriebs dieser Anlagen durch die Bayrischen Stickstoffwerke nach den von mir vorgeschlagenen Grundsätzen vereinbart wurden. Ferner verpflichteten sich die Bayrischen Stickstoffwerke zu einer Vergrößerung ihrer eigenen Fabrik in Trostberg. Außerdem schloß ich mit den Lonzawerken in Waldshut (Baden) einen Vertrag über die Errichtung eines weiteren Kalkstickstoffwerkes ab, und zwar gegen Gewährung eines Darlehns und mit der Auflage der Überlassung der gesamten Produktion zu bestimmten Preisen an das Reich oder den vom Reiche zu bezeichnenden Abnehmer. Insgesamt sollte durch diese Verträge die deutsche Stickstoffgewinnung eine Erhöhung um 300 000 Tonnen Kalkstickstoff, gleich 60 000 Tonnen reinen Stickstoffs, erfahren.
Die Ausführung wurde sofort in Angriff genommen. Schon während die Verhandlungen noch schwebten, waren die Stickstoffwerke ermächtigt worden, alle für den Bau der neuen Anlagen erforderlichen Vorbereitungen zu treffen. Trotz der großen Schwierigkeiten in der Beschaffung von Arbeitskräften, Maschinen, Metallen und anderen Rohstoffen gelang es, die beiden Reichswerke in den Monaten Januar und Februar des Jahres 1916 in Betrieb zu bringen. Da mit den Bauarbeiten erst im März und April 1915 hatte begonnen werden können, hatten also 9 bis 10 Monate Bauzeit genügt, um die gewaltigen Neuanlagen fertigzustellen.
Das Reichsstickstoffwerk Piesteritz
Um von der Größe der in so kurzer Zeit für das Reich geschaffenen Werke einen Begriff zu geben:
Das Reichswerk Piesteritz bei Wittenberg a. d. Elbe, das für eine Jahresgewinnung von 150 000 Tonnen Kalkstickstoff vorgesehen war, umfaßte nach dem ursprünglichen, inzwischen noch erheblich vergrößerten Ausmaß eine bebaute Fläche von 12 ½ Hektar. Sein jährlicher Elektrizitätsverbrauch war auf 500 Millionen Kilowattstunden berechnet; das ist rund doppelt so viel, wie die gesamte von den Berliner Elektrizitätswerken im Jahre 1914/15 nutzbar abgegebene elektrische Energie. Die Elektrizität wird in dem Bitterfelder Braunkohlenrevier erzeugt, mit einem Tagesverbrauch von 4400 Tonnen Braunkohle, und auf einer 22 km langen Doppelleitung mit einer Spannung von 80 000 Volt zum Piesteritzer Werk geleitet, wo der Strom mit den größten Transformatoren, die bis dahin in der ganzen Welt gebaut worden waren, zunächst auf 6000 Volt, dann auf die Betriebsspannung umgeformt wird. Die elektrische Energie wurde den Reichswerken zum Satz von 1 Pfennig auf Grundlage der damaligen Kohlenpreise gesichert. Dieser Satz ist billiger, als er jemals zuvor in Deutschland für aus Kohle gewonnene elektrische Energie gezahlt worden ist. Der tägliche Verbrauch des Werkes an Kalk war auf 300 Tonnen, an Koks auf 180 Tonnen berechnet. Kalk und Koks werden in mächtigen Öfen in starkem elektrischen Strom zu Karbid verarbeitet. Der Kalkstickstoff wird gewonnen durch die Verbindung des Luftstickstoffs mit dem gepulverten Karbid. Die Gewinnung des Luftstickstoffs erfolgt in Piesteritz auf zwei Wegen. Einmal durch Verflüssigung von Luft und Trennung des Sauerstoffs vom Stickstoff nach dem Linde'schen Verfahren; dann in einer Ersatzanlage, in der nach dem Verfahren von Frank-Caro Generatorgas mit Luft verbrannt und das entstehende Gemisch von Kohlensäure und Stickstoff in seine beiden Bestandteile zerlegt wird. Nach dem ursprünglichen Plane lieferte die Linde-Anlage stündlich 90 000 Liter flüssige Luft und 9000 Raummeter Stickstoff, die Frank-Caro-Anlage stündlich 3000 Raummeter Stickstoff. An Kühlwasser verbraucht das Werk eine Menge, die dem Wasserverbrauch einer Stadt von 1,7 Millionen Einwohnern entspricht.
Die mit raschem Entschluß in Angriff genommene und über alle Kriegserschwernisse hinaus in so kurzer Zeit durchgeführte Errichtung der Reichswerke, deren Produktion schon der Frühjahrsbestellung des Jahres 1916 zugutekam, hat unsere Ernährungswirtschaft vor einer Katastrophe bewahrt. Aber der Heeresbedarf an Stickstoff wuchs in solchen Progressionen, daß die Reichswerke alsbald auch für die Sprengstoffherstellung herangezogen werden mußten. Ich habe in der ersten Zeit des Krieges Schätzungen gehört, die den militärischen Bedarf an etwa 20%igen Stickstoffverbindungen auf 12 000 bis 15 000 Tonnen für den Monat bezifferten. Als ich in die Lage kam, über die Stickstoffbeschaffung zu verhandeln, war bereits von erheblich größeren Mengen die Rede. Zu Beginn des Jahres 1916 wurde mir der militärische Monatsbedarf auf etwa 40 000 Tonnen beziffert, und schließlich sind wohl 100 000 Tonnen im Monat erreicht und überschritten worden. Diese Entwicklung zwang mich und später meinen Nachfolger im Reichsschatzamt, den Grafen Rödern, für immer neue Erweiterungen und Neuanlagen zu sorgen, die leider zum Schaden der Landwirtschaft immer wieder von den alle Erwartungen weit übertreffenden Neuanmeldungen der militärischen Stellen überholt wurden. Soweit meine Kenntnis reicht, ist während des Krieges die deutsche Stickstoffgewinnung auf einen Umfang gebracht worden, der die gesamte Vorkriegsproduktion von Chilesalpeter (2,1 Millionen Tonnen) übersteigt und nahezu das Doppelte des normalen deutschen Jahresverbrauches an Stickstoffverbindungen ausmacht.
Das Stickstoffhandelsmonopol
Im Reichstag fand ich mit meinem Ermächtigungsgesetz für die Einführung eines Stickstoff-Handelsmonopols wenig Verständnis. Die Kommission, der die Vorlage überwiesen wurde, ließ sich lange und interessante Vorträge von Sachverständigen halten, die in ihrer überwiegenden Mehrzahl gleichzeitig Interessenten und als solche dem Handelsmonopol abgeneigt waren. Sie vertiefte sich in eine unfruchtbare und in der Hauptsache unberechtigte Kritik dessen, was noch in der allerletzten Stunde getan worden war, während eine berechtigte Kritik sich gegen das hätte richten müssen, was lange genug versäumt und unterlassen worden war. Ich wies vergeblich darauf hin, daß die neue, so ungemein wichtige Industrie durch den Zusammenschluß der chemischen Fabriken und die von diesen mit der Ammoniakvereinigung unserer Montanindustrie getroffenen Vereinbarungen auf dem besten Wege zum Privatmonopol war; ferner, daß unter englischer Führung eine Vertrustung sowohl der Chilesalpeter-Gewinnung wie auch der ausländischen Luftstickstoff-Industrie drohte. Die Notwendigkeit, dem Reich in der neuen Industrie eine nach innen und außen hinreichend gesicherte Position zu schaffen, wurde nur von einer Minderheit erkannt. Die Kommission konnte sich schließlich weder zu einer Zustimmung noch zu einer glatten Ablehnung aufschwingen, und ich mußte mich entschließen, den endgültigen Austrag der Frage, der angesichts der unabsehbar gewordenen Verlängerung des Krieges an Dringlichkeit verloren hatte, einer gelegeneren Zeit zu überlassen.
Eine ähnliche Erfahrung habe ich gemacht, als ich bei Gelegenheit des Erwerbs der bisher von dem amerikanischen Tabaktrust abhängigen deutschen Zigarettenfabriken durch ein deutsches Konsortium dem Reich die Option auf diese etwa ein Viertel der deutschen Zigarettenproduktion darstellenden Fabriken zum Einstandspreis mit einem geringfügigen Zuschlag sicherte, und zwar ohne das Reich für den Erwerb dieser Option auch nur mit einem Pfennig zu belasten. Auch hier, wo es sich darum handelte, das Reich in einer für ein ertragreiches Monopol reifen Industrie zunächst einmal Fuß fassen zu lassen, fand ich kein Verständnis, mußte mich vielmehr im Hauptausschuß des Reichstags dafür angreifen lassen, daß ich es vorgezogen hatte, dem Reich die Möglichkeit des billigen Erwerbs dieser Fabriken zu sichern, statt die Fabriken ihrer Konkurrenz auszuliefern.
Heute, im Bann des Schlagworts »Sozialisierung«, denkt man anders, bis zur Übertreibung ins entgegengesetzte Extrem. Man wird wohl gerade auch der Stickstoffindustrie weit radikaler zu Leibe gehen, als das in meinen Plänen lag. Jedenfalls aber glaube ich, daß der Typ des gemischtwirtschaftlichen Betriebs, wie ich ihn bei den Reichswerken für das Zusammenwirken von Reich und privatem Unternehmertum in einem einheitlichen Betrieb geschaffen habe, den Vorzug vor manchen anderen Formen der »Sozialisierung« verdient. Er sichert dem Reich die Kontrolle des Betriebs und den Vorteil aus Preiserhöhungen, die in den Produktionskosten nicht begründet und nur infolge der monopolartigen Stellung des Unternehmens oder auf Grund von Preiskonventionen erzielbar sind; er läßt auf der andern Seite dem privaten Unternehmer weitgehende Freiheit in der Gestaltung des Betriebs und einen starken Anreiz, durch Vervollkommnung von Technik und Organisation, die ihm allein gestattet, seinen Gewinn zu steigern, die Produktion zu verbilligen.
Kriegsrohstoffabteilung und Reichsschatzamt
Ich habe die Stickstoff-Angelegenheit eingehender dargestellt einmal wegen ihrer großen Wichtigkeit für die Kriegführung und die Abwehr der Hungersnot, dann als Beispiel dafür, wie ich die Aufgabe der Reichsfinanzverwaltung auffaßte. In ähnlicher Weise bin ich auf verwandten Gebieten vorgegangen. Das Betätigungsfeld, das ich vorfand, war allerdings dadurch stark eingeengt, daß in den fünf Kriegsmonaten, die vor dem Beginn meiner Amtsführung lagen, die Zivilbehörden, und mehr als alle andern das Reichsschatzamt, die Initiative auf den die Kriegführung berührenden wirtschaftlichen Gebieten der sehr tatkräftigen Kriegsrohstoffabteilung des Kriegsministeriums überlassen hatten, die dann, ohne sich viel um die Zivilressorts zu kümmern, ihren Weg ging. Da außerdem das Kriegsministerium, unbehindert durch irgendwelchen Widerspruch, das Recht für sich in Anspruch genommen hatte, über die vom Reichstag für die Zwecke des Krieges bewilligten Kredite frei zu verfügen, ohne für die einzelnen Ausgaben die Zustimmung der Reichsfinanzverwaltung einzuholen, so fehlte es dem Reichsschatzamt sogar an einer vollständigen Übersicht über das, was im Kriegsministerium auf diesem für die deutsche Volkswirtschaft und die Reichsfinanzen so wichtigen Gebiete unternommen wurde. Der Krieg, der rasches Handeln fordert, duldet keine Verzögerung dringender Entschlüsse durch das Aufwerfen und Durchkämpfen von Kompetenzkonflikten. Ich suchte deshalb die notwendige Fühlung und Zusammenarbeit auf gütlichem Wege und durch die Bereitwilligkeit zu positiver und aktiver Mitarbeit herzustellen, wie sie meine Behörde in der Stickstoff-Angelegenheit geleistet hatte. Ich fand hierfür sowohl bei den Leitern des Kriegsministeriums wie auch bei der Kriegsrohstoffabteilung Verständnis. Von den später im Einvernehmen und Zusammenarbeiten mit der Heeresverwaltung in Angriff genommenen Aufgaben erwähne ich die Schaffung einer großen deutschen Aluminiumindustrie auf Grund der während des Krieges entwickelten neuen Verfahren, die eine wirtschaftliche Herstellung von Aluminium auch aus deutscher Tonerde gestatten, während bis dahin nur das aus dem Ausland, hauptsächlich aus Frankreich, bezogene Bauxit als verwendbar galt. Ich habe den Abschluß der schwierigen Verhandlungen infolge meines Übertritts zum Reichsamt des Innern allerdings meinem Nachfolger im Reichsschatzamt überlassen müssen.
Handels-U-Boote
Erwähnen möchte ich ferner die Mitwirkung des Reichsschatzamts bei der Schaffung der Handels-U-Boote, von denen die »Deutschland« vor dem Ausbruch des Krieges mit den Vereinigten Staaten zwei erfolgreiche Fahrten nach Amerika gemacht hat, während ihr Schwesterschiff, die »Bremen«, auf der ersten Reise verschollen ist.
Die enorme Knappheit und Teuerung von Kautschuk, Nickel und einigen anderen Stoffen, von denen für Kriegszwecke an sich nicht sehr erhebliche Mengen, diese aber unbedingt erforderlich waren, veranlaßten mich, bei der Marine Erkundigungen darüber einzuziehen, ob nicht U-Boote für die Heranführung dieser Stoffe verwendet werden könnten. Ich dachte zunächst an eine Übernahme der Materialien von neutralen Schiffen auf hoher See. Dieser Weg erwies sich technisch und auch in Rücksicht auf die mit allen Mitteln arbeitende englische Überwachung als nicht gangbar. Der vergrößerte Aktionsradius unserer U-Boote, der sich in Fahrten durch die Straße von Gibraltar nach Konstantinopel so glänzend bewährt hatte, ließ mich die Frage aufwerfen, ob nicht ein Anlaufen amerikanischer Häfen, in denen Kautschuk und Nickel bereitgestellt werden konnten, durch U-Boote, die ad hoc zu desarmieren gewesen wären, sich ermöglichen lassen würde. Auch dieser Gedanke stieß auf Schwierigkeiten; einmal war nicht mit Sicherheit vorauszusehen, ob die Vereinigten Staaten ursprünglich als Kriegsfahrzeuge gebaute U-Boote als Handelsschiffe anerkennen und behandeln würden; vor allem aber erklärte Herr von Tirpitz, von den großen und leistungsfähigen U-Booten keines entbehren zu können. Es blieb also nur übrig, U-Boote von vornherein als Handelsschiffe zu bauen.
Meine Gedanken begegneten sich mit denen des Bremer Großkaufmanns Lohmann, der mich Anfang September 1915 besuchte, Lohmann ließ auf Grund unserer Unterhaltung von der Weserwerft in Bremen Pläne für ein Handelstauchboot konstruieren. Die Pläne waren Anfang Oktober fertig und wurden dem Reichsmarineamt vorgelegt, dessen Einverständnis wegen der möglichen Konkurrenz mit dem Bau von Kriegstauchbooten erforderlich war. Es ergab sich, daß zu gleicher Zeit auf Veranlassung der Firma Krupp die Germaniawerft in Kiel Pläne für ein Handelstauchboot ausgearbeitet hatte. Die Pläne der Germaniawerft sahen eine größere Tonnage vor; außerdem konnte die Germaniawerft für zunächst zwei Handelstauchboote eine Fertigstellung schon für April und Mai 1916 in Aussicht stellen.
Risiko und Gewinnaussichten des Unternehmens waren ungewöhnlich groß. Das Risiko wurde dadurch erleichtert, daß sich die Firma Krupp bereit erklärte, eines der beiden U-Boote unentgeltlich zur Verfügung zu stellen lediglich unter der Bedingung, daß dieses U-Boot auf seinen zwei ersten Reisen gegen Zahlung einer hoch bemessenen Fracht eine bestimmte Menge Nickel, die für Krupp in Amerika lagerte, nach Europa befördere.
Zur Durchführung des Unternehmens wurde zwischen Herrn Lohmann und mir die Gründung der »Deutsche Ozean-Rhederei G. m. b. H.« vereinbart. Das Reich nahm der Gesellschaft das Risiko ab und behielt sich andererseits die großen Gewinnaussichten vor.
U-Deutschland
Im Juni 1916 konnte die »Deutschland« in aller Stille ihre erste Reise antreten. Das Geheimnis war vollständig gewahrt worden. Die Ankunft der »U-Deutschland« in Baltimore am l0. Juli erregte in der ganzen Welt Sensation. Die englische Anzweifelung des Charakters der »U-Deutschland« als Handelsschiff fand keinerlei Handhabe. Die Rückreise vollzog sich ungestört.
Auf der Ausreise hatte die »U-Deutschland« Farbstoffe geladen, deren Verkauf in Amerika einen Reingewinn in der mehrfachen Höhe des Einstandspreises des Tauchbootes erbrachte. Auf der Rückfahrt nahm das Tauchboot mehrere hundert Tonnen Kautschuk und Nickel mit. Allein die Differenz zwischen dem Einstandspreis des Kautschuks und dem Preis, der damals in Deutschland für Kautschuk bezahlt werden mußte, erreichte eine stattliche Anzahl von Millionen und übertraf noch erheblich den Gewinn der Ausfahrt. Vor allem aber war durch die eine Reise der dringende Heeresbedarf an Rohgummi und Nickel für eine größere Anzahl von Monaten gedeckt.
Es wurde, noch ehe die »U-Deutschland« zurückgekommen war, der Bau von weiteren sechs Tauchbooten beschlossen. Die Kosten waren im voraus durch den Gewinn der ersten Reise gedeckt. Die neuen U-Boote kamen als Handelsschiffe nicht mehr zur Verwendung. Vor ihrer Fertigstellung erfolgte der Bruch zwischen der Union und Deutschland. Die Schiffe wurden nun als Kriegstauchboote ausgebaut.