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Sturm überm Grenzwald

Der Herbst kam in die Berge, aber er strich nicht wie sonst mit seinem Malerpinsel sanft und sacht die abertausend Blätter an, sondern brauste in einer einzigen Nacht herein, in einer Sturmnacht, an die man in den Dörfern ringsum noch viele Jahre später zurückdachte.

Schon am Nachmittag erhob sich ein kalter Wind und riß das Laub von den Bäumen, fegte es Straßen und Wege entlang und wirbelte die halbgrünen Blätter mit Staub vermengt in die Höhe. Wolken jagten sich am Himmel. Oben an der Schwarzen Kuppe schütteten sie schweren, nassen Schnee aus, als wollten sie sich leichter machen, um der nahenden Nacht zu entfliehen, die finster und drohend hereinbrach.

Der Wind verwandelte sich bei Anbruch der Dunkelheit in einen Sturm, der wie ein gieriges Ungeheuer gegen die Wälder anrannte. In den Lüften heulte und sauste es, als wären die wilden Berggeister losgelassen. Am tollsten trieb es der wütende Nordwest an der Schwarzen Kuppe, wo sich der Wald kilometerweit in einer flachen Mulde ausdehnte. Hier konnte er sich vollends austoben. Im Meer der hohen Fichten wogte es hin und her. Wie ein Ächzen und Stöhnen war es, wenn die schlanken Bäume sich gegen die furchtbare Macht auflehnten. Wieder und immer wieder zerrte das Ungeheuer an den hölzernen Leibern, bis sie unter seiner Gewalt wankten, brachen und mit schwerem Schlag zur Erde fielen, aus der sie vor vielen Jahrzehnten als grüne Pflänzlein entsprossen waren.

Ein großes Sterben ging in jener Nacht durch die Wälder an der Grenze. Es splitterte und krachte, armstarke Wurzeln zerrissen wie dünne Fäden, ihr meterbreites Geflecht wurde beim Sturz der Baumriesen tief aus dem Boden gerissen und starrte am Morgen fliehenden Wolken entgegen, die der Sturm zornig über die Stätte der Verwüstung trieb.

In den Dörfern aber schauten die Leute aus den Fenstern, ob das unheimliche Toben nicht bald nachlassen würde. Es dauerte schon die ganze Nacht. Doch das Ungeheuer war unersättlich. Immer wieder brach es aus den Schluchten um die Schwarze Kuppe hervor und stürmte in die Talmulde, als gälte es, auch den letzten Widerstand niederzuringen. Noch um die Mittagszeit hörten die Panitzer das dumpfe Aufschlagen fallender Bäume.

Endlich ließ der Sturm nach. Ein paarmal keuchte er noch durch die Talschlitze, fuhr um die schindelbedeckten Dorfhäuser und brach dann selber wie ein zu Tode gehetztes Tier zusammen. Stoßweise ging sein Atem, der schwächer und schwächer wurde und schließlich ganz verebbte.

Es war wieder still ringsum.

Als erster durchstreifte Förster Brusse den Wald. Er war auf allerhand gefaßt gewesen, als er aber sah, daß der Sturm bald ein Drittel des Baumbestandes vernichtet hatte, ging es ihm sehr nahe. Für einen Förster ist der Wald ein großes, grünes Haus, das er betreut, in dem er Bescheid weiß wie in seinem eigenen, und das er liebt und in Ordnung hält wie sein eigenes. Brusse hätte kein guter Forstmann sein müssen, wäre er wie jeder andere an diesem Nachmittag durch den Grenzwald gewandert. Gerade die schönsten und stärksten Bäume, die alle übrigen überragten, hatte der Sturm zu Boden gerissen.

Am nächsten Morgen kam der Forstmeister mit dem Grafen, um sich den Schaden zu besehen. Es sprach sich bald herum, denn die Panitzer kannten den schneidigen Wagen, der vor der Försterei hielt. Brusse hatte die Herren erwartet. Er führte sie hinauf zur Grenze und zeigte ihnen die Stellen, wo der Baumbestand am übelsten zugerichtet war. Schweigend gingen sie zu dritt durch den Wald. – »Haben Sie es sich ungefähr ausgerechnet?« fragte der Graf nach einer langen Pause.

»Genau läßt sich der Schaden noch gar nicht überblicken, aber ich glaube, es ist viermal soviel, wie wir an Holz in einem Jahre schlagen«, erwiderte Brusse.

»Herr Forstmeister, was meinen Sie?«

»Es müssen sofort Leute her, möglichst viele, Herr Graf, sonst fault uns das Zeug von einer Woche zur anderen. Bedenken Sie, es ist bereits Oktober.«

»Die Panitzer Waldarbeiter werden kaum ausreichen. Wir müssen noch Leute aus Lomnau und Weißwasser holen«, wandte Brusse ein, »um wenigstens die wertvollsten Hölzer zu retten. Es wird ohnehin eine Menge Zeit vergehen, ehe alles wieder in Ordnung ist.«

»Handeln Sie, wie Sie denken«, sagte der Graf, »lassen Sie die größeren Bäume sofort entrinden, daß uns nicht erst der Borkenkäfer ins Holz kommt, und stellen Sie also Leute ein, sonst geht unnötig Zeit verloren. Der Winter steht vor der Tür.«

»Ich glaube, wir können uns auf Herrn Brusse verlassen«, meinte der Forstmeister und ordnete an, im Laufe der nächsten Tage eine Aufstellung über den Umfang des Windbruchs und die Arbeitseinteilung vorzulegen.

Die beiden Herren gingen mit Brusse zur Försterei zurück und fuhren bald darauf weiter, denn das Besitztum des Grafen erstreckte sich noch über weit mehr Reviere als nur dieses. Allerdings hatte der Sturm im Panitzer Grenzwald den ärgsten Schaden angerichtet und damit Brusse die meiste Arbeit aufgebürdet.

Bild: Rolf Winkler

Wie jedes Ding zeigte auch die Windbruchkatastrophe ihre zwei Seiten. Obschon zunächst Hilfskräfte von außerhalb mit herangezogen wurden, um wenigstens die besten Hölzer schnell zu bergen, blieb den Panitzer Holzfällern auf lange Zeit hinaus noch genug zu tun übrig.

Brusse suchte sie am Nachmittag der Reihe nach auf und sprach darüber. Er freute sich mit ihnen, denn er kannte ja ihre Sorgen. »Ehe wir mit dem Aufräumen fertig sind, vergehen mindestens zwei Jahre«, sagte er zu Anton Elsner. »Aber auch nachher braucht ihr keine Bange zu haben. Der Wald sieht furchtbar aus und von heut auf morgen steht kein neuer da.«

»Es hätte eher kommen müssen«, entgegnete Elsner, »ein paar Monate eher, da wäre es besser gewesen.«

»Weshalb?«

»Ich meine nur so.«

Der Förster reimte sich einiges zusammen. Aus Gesprächen mit dem alten Menzel hatte er längst entnommen, daß es Likasch war, der verschiedenen Holzfällern besseren Verdienst in Aussicht stellte und sie nach und nach ihrer Arbeit entfremdete. Auch Elsner schien ihm auf den Leim gekrochen zu sein. Brusse mißtraute dem Händler, doch Likasch war viel zu schlau, sich eine Blöße zu geben. Jeden Monat zahlte er an die Forstverwaltung pünktlich den Pachtzins für sein Haus. Das andere ging ihn, den Förster, nichts an, das mußte jeder mit sich selber abmachen.

Immerhin schien Likasch keine so große Rolle mehr im Dorfe zu spielen, denn als Brusse die Holzfäller fragte, ob er auf sie rechnen könne, sagten sie ihm ausnahmslos zu. Auch Bärbels Vater war froh, auf lange Sicht wieder Arbeit zu bekommen, und willigte ein.

»Morgen früh geht's los«, meinte Brusse. »Ihr werdet gar nicht wissen, wo ihr zuerst anfangen sollt. Es liegt nämlich alles kreuz und quer da oben an der Kuppe, aber schaffen müssen wir's.«

Ehe es Abend wurde, erschien der alte Menzel in Elsners Haus. Er hatte sich lange nicht blicken lassen. Bärbel sah ihn den Weg heraufkommen und öffnete ihm die Tür.

»Ich will bloß mal horchen, wie es dir geht«, meinte der Alte zu Elsner. »Der Förster erzählte mir vorhin, du machst mit. Stimmt das?«

»Warum soll es nicht stimmen?« gab Bärbels Vater zur Antwort.

»Ach, ich dachte bloß, du hättest dann zu wenig Zeit für den … für den Zigeuner.«

»Na, und?« fragte Elsner gespannt.

»Das würde dem Likasch vielleicht nicht passen.«

»Wieso?«

Der Alte zuckte die Achseln. »Ich denk' mir's halt.«

»Was ich dem Förster versprochen habe, das habe ich versprochen. Likasch soll tun, was er will.«

Menzel rückte näher an Elsner heran, daß es Bärbel möglichst nicht hören sollte. »Du, der Likasch ist gefährlich. Nehmt euch in acht! Ich wußte es immer schon, bloß ihr habt ja nicht auf mich gehört.«

»Soll das ein Vorwurf sein, Menzel?«

»Nee, nee, Anton, deshalb wär' ich kaum zu dir gekommen. Ich wollte dich nur fragen, ob du dem Likasch nachgeben wirst?«

»Nein.«

»Und wenn er droht? Allein kann er sein Geschäft nicht machen; er braucht euch doch.«

»Ganz gleich, ich arbeite wieder beim Förster. Hm, ich müßte ja ein Dummkopf sein, die Gelegenheit in den Wind zu blasen. Zwei Jahre, sagt Brusse, hätte er Arbeit für uns, oder gar noch länger.«

»Also du kommst, Anton?«

»Bestimmt; wenn du magst, kannst du wieder unten an der Straße warten. Da gehen wir zusammen, wie früher.«

Elsner hielt ihm die Hand hin. Der Alte schlug ein. »Ihr müßt fest zusammenhalten, hörst du, denn wenn erst der eine oder andere dem Zigeuner nachläuft, werden wir ihn nie los.«

»Meinst du, daß er geht, daß er fortzieht, wenn wir uns weigern, ihm zu helfen?«

»Was bleibt ihm weiter übrig! Bloß bezweifle ich, daß er das Feld freiwillig räumt. Deshalb sagte ich ja eben, ihr müßt zusammenhalten. Ich habe dem Likasch nie getraut und traue ihm jetzt erst recht nicht.«

»Wie meinst du das, Menzel?«

»Er wird versuchen, euch zu zwingen.«

»Das kann er nicht, nein, da irrst du dich«, sagte Elsner. Im nächsten Augenblick zweifelte er an seinen eigenen Worten. Er und die anderen hatten Likasch geholfen, doch das wußte weiter keiner als die, die es anging. Wenn er sie verriet, verriet er sich mit. Was hätte er dann davon?

»Der Zigeuner ist schlauer als ihr alle. Seine Freundschaft taugt nichts, und seine Feindschaft kann gefährlich werden, wenn ihr euch nicht vorseht«, sagte der alte Menzel bedächtig. »Ihr habt euch viel zu lange mit ihm abgegeben.«

»Es mag sein, wie es will, ich werde doch wegen Likasch nicht auf zwei Jahre Arbeit verzichten. Außerdem hab' ich's satt. Sag's ruhig den anderen, wenn sie dich danach fragen: Anton Elsner ist morgen früh um sieben am Ladeplatz.«

»Gut. – Ich bin ja selber froh, daß ihr zur Vernunft kommt«, meinte der Alte. »Brusse läuft sich die Hacken ab, um eingearbeitete Leute zu kriegen. Er würde es euch sehr übel genommen haben, wenn ihr ihn gerade jetzt, wo er jeden einzelnen Mann braucht, im Stich gelassen hättet. – Also, Anton, auf morgen!«

Bild: Rolf Winkler


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