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Manchmal aber geht es anders aus

Als dann am Nachmittag die Sonne das graue Wolkenmeer auseinandertrieb, wanderte ein Mädel durch den Wald. Es trug einen dunkelblauen Rock, eine rote Bluse mit Kragen und Gürtel und nicht wie sonst ein fadenscheiniges Kleid, damit man nicht gleich merkte, daß sich hinter all diesen Dingen die Bärbel verbarg. Vielleicht wäre es aber doch einer gewahr geworden, hätte sie sich nicht die Zöpfe hochgesteckt und das Kopftuch tief über die Stirn gezogen, daß ihr Gesicht im Schatten lag.

Ob mich die Holzfäller erkennen, wenn ich an den Ladeplätzen vorbeigehe? Ich könnte es gleich erproben, nahm sie sich vor und machte absichtlich lange, schwere Schritte, als sie in die Nähe kam. Vielleicht hielt man sie für eine Frau, die Reisig oder Beeren holen wollte? Kam sie unerkannt bei den Waldarbeitern vorbei, würde oben am Zollhaus erst recht niemand ihre Verkleidung beachten. Den Kopf gesenkt und doch heimlich Ausschau haltend, schritt sie an den Holzstapeln entlang. Ein Fuhrmann, der gerade seine Pferde anschirrte, winkte ihr zu und rief: »Guten Tag, Jungfer!« Bärbel fuhr zusammen, denn unweit des Wagens stand der Vater und schaute, durch den Ruf aufmerksam geworden, ebenfalls herüber. Schnell überlegte sie: am besten gar nichts sagen, keinen Mucks von sich geben. Deshalb nickte sie nur nach jener Richtung, woher der Gruß gekommen war, und bemerkte mit Genugtuung, wie sich die Männer wieder ihrer Arbeit zuwandten, auch der Vater. Also war sie von keinem erkannt worden. Der Fuhrmann hatte sogar »Jungfer« gerufen; danach mußte sie aussehen wie eine Erwachsene.

Bärbel freute sich im stillen. Daheim, als sie in die fremden Kleider schlüpfte, war sie sich ihrer Sache doch nicht so ganz sicher gewesen, jetzt aber, nach dieser gut ausgefallenen Generalprobe, stieg ihr Mut. Sie hätte vielleicht, wie sie es oft tat, wenn sie allein war, ein lustiges Lied gepfiffen, doch fehlte ihr heute dazu die Lust. Je mehr sie sich nämlich den Zollhäusern näherte, um so größer war ihre Sorge, wie es eigentlich Gerhard in der vergangenen Nacht ergangen sein mochte. Ob er am Morgen hatte zur Schule gehen können? Oder ob er im Bett lag? Fast ein ganzer Tag war vergangen, da konnte sich vieles ändern, zum Guten wie zum Schlechten. Kranksein und im Bett liegen dünkte Bärbel schrecklich. Sie selber war nie krank gewesen, wenigstens vermochte sie sich nicht daran zu erinnern. Nur von der Mutter wußte sie noch, daß sie immer still dagelegen hatte, Tage und Wochen hindurch.

Über solchem Hin- und Hersinnen war Bärbel mittlerweile an der Stelle angelangt, wo der Weg in die Zollstraße mündete. Sie schaute sich nicht erst lange um, sondern schritt tapfer drauflos, denn soeben trat ein Grenzer aus dem Haus und fertigte zwei Bauern ab, die mit ihren Kiepen aus Harla gekommen waren und weiter wollten. Ins Zollhaus selbst hätte sie sich nie und nimmer getraut, so aber konnte sie den Grenzer fragen, während er noch die Kontrolle der beiden Tragkörbe vornahm, das fiel dann weiter nicht auf, und er würde sich auch kaum darum kümmern, wer sie war.

Bärbel ging dicht heran, grüßte den Beamten und sagte: »Entschuldigen Sie, Herr Grenzer, ich wollte Sie fragen, ob Sie den Gerhard kennen. Er wohnt dort drüben in dem Haus.«

»Gerhard Erdmann meinst du? Ja, den kenne ich. Aber warte mal einen Augenblick, ich bin gleich fertig, da können wir uns weiter unterhalten.«

»Ich wollte nur wissen, wie es ihm geht«, sagte Bärbel rasch, »denn ich habe nicht viel Zeit.«

Der Beamte hatte die Kiepe des Bauern durchsucht und nichts darin gefunden, was zollpflichtig gewesen wäre. »Alles in Ordnung, danke.« Er half dem Manne die schwere Last auf den Rücken laden, und wandte sich dann zu dem Mädchen. »Woher kennst du denn Gerhard?«

Bärbel zögerte mit ihrer Antwort. Auf eine Gegenfrage war sie nicht gefaßt gewesen. Sie hatte nur wissen wollen, wie es ihm geht und wäre dann gleich wieder zurückgelaufen, damit sie nicht erst auffiel. Nur gut, daß es keiner von den beiden Grenzern war, die den Jungen tags zuvor über die Straße geführt hatten.

»Du mußt ihn doch kennen, Mädel«, wiederholte der Mann seine Frage. »Wohnst du in Oberlomnau?«

»Nein.«

»In Weißwasser?«

»Nein.«

»Wo kommst du denn her?«

»Aus … aus Panitz«, stotterte Bärbel und dachte: wenn er bloß nicht weiterfragt.

Der Grenzer klopfte statt dessen ans vordere Fenster des Zollhauses. Bald darauf erschien ein anderer, in dem Bärbel sofort den Mann erkannte, der sie gestern, als sie mit Gerhard ankam, gesehen hatte.

»Bandow, könnte sie es sein?« rief ihm der Grenzer zu.

»Wer denn?«

»Nun, das Mädel, über das wir uns gestern die Köpfe zerbrachen.«

Der andere trat näher. Bärbel hielt das Gesicht nach unten. Hoffentlich erkannte er sie nicht in ihrer Verkleidung. Er meinte auch im Näherkommen: »Nee, die sah anders aus.«

»Guck mal genauer hin!«

Bandow schlug Bärbels Kopftuch ein wenig zurück. Er stutzte. »Natürlich ist sie's!« rief er. Die Begegnung am Tage vorher war zwar nur kurz gewesen, aber das geschärfte Auge des Grenzers erkannte trotzdem jenes Mädchen wieder, das Gerhard bis zum Zollhaus begleitet hatte.

»Ich möchte jetzt gehen«, sagte Bärbel, während ihr Herz gewaltig zu klopfen begann.

»Warum willst du schon wieder ausrücken?« fragte Bandow mit einem Blick auf seinen Kameraden. »Gestern hattest du es auch so eilig.«

»Ich muß heim.«

»So? Ich denke, du wolltest erst hören, wie es Gerhard geht«, sagte der andere.

»Ach ja. – Ist er wieder gesund?«

»Wie wäre es denn, wenn du ihn besuchen würdest, dann wüßtest du es gleich.«

Bärbel schüttelte den Kopf. »Nein, das geht nicht.«

»Du hast wohl Angst?«

Ein Paar Augen sahen den Grenzer stumm an. Doch der Mann in der grünen Uniform nahm Bärbel kurzerhand am Arm. Er wollte sie nicht länger zappeln lassen.

»Ich bin nämlich Gerhards Vater«, sagte er und führte sie hinüber in das Wohnhaus. Und seinem Kameraden rief er zu: »Wenn etwas Besonderes los ist, Bandow, hol' mich.«

Bärbel wäre am liebsten davongerannt. Daß es so kommen könnte, hatte sie sich nicht überlegt. Woher sollte sie auch wissen, daß es ausgerechnet Gerhards Vater war, den sie vorhin angesprochen hatte. Wenn er sie nun noch mehr fragte? Er hätte doch nur zu antworten brauchen, wie es Gerhard ginge. Weshalb nahm er sie mit?

»Ich bring dir das Mädel, das unsern Jungen gefunden hat!« rief Erdmann seiner Frau entgegen, während er noch die Türklinke in der Hand hielt. – Überrascht eilte Gerhards Mutter herbei. »Du bist die Bärbel?«

Sie faßte das Mädchen an beiden Schultern und strich ihr ein paarmal über den Kopf, daß die hochgesteckten Zöpfe sich lösten und nacheinander herabfielen. Bärbel nahm das Tuch ab. Sie wußte nicht, wie ihr geschah. Alles andere hatte sie erwartet, nur nicht einen solch freundlichen Empfang. Verwundert schaute sie bald die Frau an und bald den Mann, der lächelnd dabeistand. Sie erkannte Gerhards Mutter wieder, obschon sie sie nur in den wenigen Augenblicken gesehen hatte, als der Grenzer sie ins Zollhaus holte.

»Gerhard schläft schon seit Mittag. Ich möchte ihn nicht wecken«, sagte Frau Erdmann. »Aber setz dich einstweilen zu uns, vielleicht wacht er bald auf. Er wird sich bestimmt über deinen Besuch freuen. Und inzwischen kannst du uns alles erzählen.«

»Ist er noch nicht gesund?« fragte Bärbel. »Was fehlt ihm denn?«

»Der Arzt war gestern abend da. Er sagte, es wäre eine schwere Gehirnerschütterung und Gerhard müßte völlige Ruhe haben. Verstehst du, deshalb dürfen wir ihn auch nicht wecken und sind froh, wenn er lange schläft.«

Bärbel erschrak. Sie hatte nicht gedacht, daß es so schlimm sein würde.

»Morgen früh will der Arzt wieder nachschauen«, meinte Frau Erdmann. »Vielleicht ist es dann schon etwas besser.«

»Tut ihm der Kopf noch sehr weh?« fragte Bärbel und begann zu berichten, wie Gerhard bewußtlos dagelegen hatte. Sie verschwieg auch nicht, daß sie das erste Mal an ihm vorübergegangen war, weil sie geglaubt hatte, er schliefe. Gerhards Eltern wunderten sich zwar, daß sie ihn nicht schon beim ersten Male angerufen hatte, denn was war weiter dabei, wenn sie den Jungen unerwartet im Walde antraf und weckte. Sie wollten jedoch Bärbel nicht unterbrechen und ließen sie zu Ende reden.

Bild: Rolf Winkler

»So lange war er ohne Besinnung?« fragte Erdmann am Schluß.

»Vielleicht noch länger, denn ich weiß selber nicht genau, wann er abgestürzt ist. Er sagte nur, ein Flugzeug wäre über den Wald geflogen, er hätte es besser sehen wollen, sei höher hinaufgeklettert und dabei sei dann der Ast abgebrochen.«

»Ein Flugzeug? – Wenn es die Verkehrsmaschine war, die jeden Tag kommt, muß es gegen drei Uhr gewesen sein.« – Erdmann sann nach. »Und du hast ihn getragen?« fuhr er fort.

»Ja, aber nur das Stück bis zum Waldrand, weiter konnte ich nicht. Er war nämlich zu schwer, der Gerhard. Als wir dann im Grase saßen, wachte er bald auf.«

»Hab recht schönen Dank, Bärbel«, sagte der Grenzer ernst und legte die Hand auf ihre Schulter. »Du weißt gar nicht, was du uns da Gutes getan hast.« Er stand auf, ging leise über den Flur und öffnete einen Spalt breit die Tür zu Gerhards Zimmer.

»Du bist ja wach.«

»Schon eine ganze Weile«, erwiderte der Junge. »Ich habe euch drüben sprechen hören. Wer ist denn da?«

»Rate mal.«

»Herr Bandow?«

»Nein.«

»Tante Hedwig?«

»Falsch. Du errätst es doch nicht, deshalb werde ich dir den Besuch herüberholen, wenn du mir versprichst, ruhig liegenzubleiben.«

Gerhard versprach es. Trotzdem richtete er sich erstaunt und freudig zugleich auf, als das Mädchen über die Schwelle trat. Auf Zehenspitzen ging sie an sein Bett. »Bärbel!«

»Du sollst ruhig liegenbleiben«, bat sie flüsternd, und Gerhard legte sich gehorsam, wie wenn es ein Großer gesagt hätte, in die Kissen zurück. Bärbel aber setzte sich auf den Stuhl, den Frau Erdmann ihr hinstellte, und schaute mit ihren großen Augen den Jungen an. Sie wollte möglichst wenig sprechen, denn von seinen Eltern wußte sie, daß er Ruhe am nötigsten hatte. Immerhin erklärte ihm der Vater, bevor er wieder hinüber ins Zollhaus ging, wie Bärbel hierher gelangt war, denn Gerhard war natürlich neugierig.

»Wirklich? Du wolltest dich erkundigen?« fragte er. »Das ist fein von dir. Gelt, du bleibst doch lange bei uns?« Über sein blasses Gesicht flog ein Schimmer von Freude.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Es geht nicht.«

»Warum nicht, Bärbel?«

»Du mußt schlafen, Gerhard.«

»Ich habe eben ganz lange geschlafen«, betonte er, »die Mutter weiß es. Du könntest über Nacht bei uns bleiben, ja, und morgen erzählen wir uns was, da geht mir's bestimmt besser …«

Nun mischte sich Frau Erdmann ins Gespräch: »Wo denkst du hin! Bärbel muß morgen zeitig zur Schule, und heute abend würde sich ihre Mutter schön ängstigen, wenn sie wegbliebe, ohne daheim etwas gesagt zu haben.«

»Die Mutter nicht, aber der Vater«, meinte Bärbel.

»Ist die Mutter nicht zu Hause?«

»Ich hab' bloß noch den Vater, meine Mutter ist schon lange tot.«

»Ach so«, sagte Frau Erdmann nur. Wenn ihr etwas naheging, war sie um Worte verlegen. Sie nahm sich aber in diesem Augenblick vor, das Mädchen aufzufordern, öfter heraufzukommen, auch wenn Gerhard wieder gesund sei. Bärbel gefiel ihr. So sicher war sie, wenn sie erzählte, und so tapfer hatte sie sich gestern verhalten. Manche andere wäre wohl vor lauter Schreck querfeldein gelaufen, anstatt sich um den verunglückten Jungen zu kümmern.

Von sich selber aber sprach Bärbel nie. Auf eine Zwischenfrage Erdmanns hatte sie nur erwidert, daß der Vater in den Wäldern des Grafen arbeite und sie die meiste Zeit allein sei.

 

Nun saß sie an Gerhards Bett und hätte ihm so gern irgend etwas erzählt, nur um ihn aufzumuntern, denn sie bemerkte, wie er dann und wann das Gesicht verzog und hinterher wieder still dalag. So behutsam sie es vermochte, strich sie ihm mit den Fingerspitzen über die Stirn. »Tut es noch sehr weh?« fragte sie leise.

War das die Bärbel, die über Zäune sprang, die auf Bäume kletterte und nachts, wenn der Mond im Walde geheimnisvolle Schatten warf, furchtlos ihres Weges ging?

Gerhard hatte sie bei seiner ersten Begegnung für einen Wildfang gehalten. Gestern war sie ihm ein treuer, hilfsbereiter Kamerad gewesen. Jetzt aber erschien sie ihm wieder anders als damals, wo sie vom Baum heruntersprang und Sibylle und ihm den Weg zeigte.

Beim Abschied fragte er sie: »Bärbel, du kommst doch bald wieder?« Es war aber mehr eine Bitte. Dabei hielt er ihre Hand fest. »Darf sie mich morgen wieder besuchen, Mutter?«

»Gerhard, von Panitz bis hier herauf sind es beinahe anderthalb Stunden«, meinte Frau Erdmann, die ihrem kranken Jungen ungern etwas abschlagen wollte. »Du kannst von Bärbel nicht verlangen, daß sie morgen schon wieder den weiten Weg macht.«

Der Junge sah ein, daß die Mutter recht hatte. »Aber wenn sie mag …?«

»... dann ist sie uns immer willkommen, nicht nur morgen«, sagte die Frau des Grenzers und nickte Bärbel freundlich zu. »Natürlich nur, wenn Doktor Lorenz damit einverstanden ist. Sollte es dir morgen schlechter gehen, daß niemand zu dir kommen darf, hat sie halt umsonst ihre Zeit geopfert.«

»Das schadet nichts«, meinte Bärbel. »In den Wald gehe ich sowieso.«

»Gelt, du kommst?«

»Ja, Gerhard. Wenn aber der Doktor sagt, daß ich nicht zu dir darf, klopfe ich dreimal an die Tür, ganz leise, und dann weißt du, daß ich es bin«, erwiderte das Mädchen, hocherfreut über ihren Einfall. Sie wandte sich um, ob auch Frau Erdmann nichts dagegen einzuwenden hatte.

»Meinetwegen«, sagte lächelnd Gerhards Mutter und dachte bei sich, es könnte eine gute Freundschaft werden zwischen Bärbel und dem Jungen, denn Gerhard fühlte sich oben in den Zollhäusern recht einsam. Einer von den Kameraden ihres Mannes hatte zwar Kinder, aber sie waren noch zu klein, als daß sie für den Jungen als Spielgefährten in Betracht kamen. Gerhard beklagte sich nur selten darüber. Er kümmerte sich auch in geschwisterlicher Treue um Sibylle und nahm sie öfter mit in den Wald, wenn Frau Erdmann den kleinen Quälgeist loswerden wollte. Die besondere Freude über Bärbels Besuch aber hatte ihm die Mutter mühelos an den Augen ablesen können.

Wenn Gerhard, der sich sonst nie mit Mädchen abgab und nur Jungens als seine Kameraden ansah, wenn er sogar von ihr begeistert war, dann mußte es schon ein aufrechtes Mädel sein.


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