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Eben kam Elsner mit dem alten Menzel den Fahrweg entlang. Bärbel holte Brot und Quark aus dem Kellergewölbe, schüttete von den schönen roten Beeren zwei Hände voll in eine kleine Schüssel und stellte sie mit auf den Tisch. Der Vater aß sie gern, und für die Lehrersfrau blieben noch genug übrig.
»Das Gräulein ist fort!« rief sie ihm entgegen, als er die Tür aufklinkte.
»O schade. Vielleicht hast du's nicht gut mit ihm gemeint«, sagte Elsner, während er die Arbeitsjacke an den Nagel hängte. Er faßte Bärbel an den Schultern und schüttelte sie aus Scherz, daß die Zöpfe flogen.
Das Mädchen griff in sein dichtes Kraushaar und hielt sich fest. »Du, das tut weh«, rief der Vater. Bärbel ließ los. »Du hast mich auch so derb gepackt«, schmollte sie, »dabei bin ich immer gut zum Gräulein gewesen.«
»Ich mache doch bloß Spaß. Der Förster meinte gleich, daß es nicht lange bleiben würde. Warst du schon bei ihm?«
»Nein, ich will erst nach dem Abendbrot hinuntergehen.«
Elsners Blick fiel auf den Tisch. »Himbeeren!«
»Ja, für dich.«
Sie setzten sich auf die Wandbank hinter dem groben Holztisch, den Anton Elsner vor Jahren selbst gezimmert hatte.
»Und deine Beeren, Bärbel?«
»Ich habe mich beim Pflücken sattgegessen; die anderen müssen übrigbleiben, es sind ohnehin nur zwei Kannen voll. Frau Kammler will nämlich welche einkochen. Deshalb gehe ich morgen nochmal nach Weißwasser.«
»Eine fleißige Tochter habe ich«, sagte Elsner und reichte ihr das Brot über den Tisch.
Bärbel wurde rot. Sie wunderte sich. Der Vater war heute so gesprächig. Ernstlich böse sah sie ihn zwar nie, nur redete er selten so zu ihr wie jetzt, namentlich in letzter Zeit. Abends ging er öfter weg und kehrte erst spät nachts heim. Gewöhnlich brachte er Tuchballen mit oder große, viereckige Pakete, die der Likasch schon am zeitigen Morgen auf seinen Handwagen lud und in die umliegenden Dörfer fuhr. Bärbel dachte sich nichts weiter dabei, denn Händler gab es viele, und die Leute, die in den höher gelegenen Ortschaften wohnten, waren froh, wenn ihnen die Ware regelmäßig ins Haus gebracht wurde. Sie brauchten dann nicht erst nach Lomnau zu laufen, wo sie ebensoviel bezahlten wie beim Händler. Daß die Zollbeamten aufpaßten und den Handel über die Grenze nicht duldeten, wußte sie von Kindheit auf. Aber auch sie empfand es als Unrecht, daß man dem Vater das Geld nicht gönnen wollte, das er sich mit dem Herüberschaffen verdiente. Deshalb nahm sie sich auch vor, den beiden Kindern aus dem Wege zu gehen, falls sie ihnen zufällig wieder im Walde begegnen sollte; denn Gerhard und Sibylle gehörten bestimmt zu den Grenzern, hatten sie doch selber erzählt, daß sie in den Zollhäusern wohnten. Aber vielleicht sah sie die Geschwister nicht so bald wieder.
Nach dem Abendbrot lief sie rasch hinunter zum Forsthaus. Was Bärbel nämlich versprach, hielt sie. Unterwegs begegnete ihr Likasch. Er fragte, ob der Vater daheim wäre.
»Ja«, sagte Bärbel und wollte ihren Weg fortsetzen.
»Du mußt gleich mit umkehren, es ist eilig.«
Bärbel zögerte. »Was gibt's denn?«
»Sei nicht so neugierig und kehr' mit um.«
»Erst muß ich zum Förster gehen.«
»Das wird wohl bis morgen früh Zeit haben«, brummte Likasch unwillig.
»Nein.«
»Wenn ich dir sage, daß es bis morgen Zeit hat, dann …«
Der Likasch hat mir gar nichts zu befehlen, dachte Bärbel und unterbrach ihn: »Ich gehe jetzt zum Förster. Sie können ja so lange beim Vater warten.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte sie davon und bog in einen Seitenweg ein, der nach der Försterei führte. Schon von weitem begrüßte sie Hundegebell. »Still, Lux!« kommandierte eine Stimme im Garten. Es war Brusse, der eben von der Jagd heimkam. Er hatte Bärbel erkannt, obgleich es bereits ziemlich dunkel war. »Komm mal schnell her!« rief er ihr entgegen.
Bärbel trat näher. Vor den Stufen zur Haustür lag etwas. Brusses Taschenlampe blitzte auf. »Da, schau' her!«
»Der Fuchs!« rief Bärbel erfreut. »Oh, das ist fein! Heute nachmittag ist nämlich das Gräulein weggelaufen. Ich wollte es Ihnen nur rasch noch ausrichten.«
»Wirklich? Vielleicht stellt es sich wieder ein.«
»Ich glaube es nicht«, sagte Bärbel.
»Wart' nur ab; manchmal kommen solche Pfleglinge am nächsten Morgen zurück. Bei dem Reh, das ich voriges Jahr hatte, war es auch so. Freilich, nach einiger Zeit blieb es dann ganz weg.«
»Ich bin bloß froh, daß Sie den Fuchs erwischt haben. Jetzt kann er dem Gräulein nichts mehr anhaben«, sagte Bärbel und kraulte Lux, der übermütig an ihr hochsprang, den zottigen Kopf.
»Willst du nicht mit hineinkommen?« forderte Brusse auf, während er, Flinte und Rucksack in der einen Hand und den toten Fuchs in der andern, mit dem Ellbogen die Tür aufklinkte.
»Nein, Herr Förster, ich soll bald zurück sein.«
»So eilig?«
»Ja. Der Likasch wartet oben.«
»Der Likasch? Was will der denn so spät noch bei euch?«
»Ich weiß es nicht. Er kam vorhin aus dem Dorf. Sie müßten ihm eigentlich begegnet sein«, meinte Bärbel.
»Ich ging quer durch den Wald, dunkel war's auch schon, vielleicht habe ich ihn übersehen. Morgen zieht er doch in das verlassene Haus vom Stürk, da wohnt ihr dann nicht mehr so allein in dem Waldwinkel.«
»Ach, allein war es ganz schön.«
Die Frau des Försters kam den Flur entlang. »Ich hörte doch, daß du es bist«, sagte sie zu Bärbel, »und ich habe gleich einen Teller Johannisbeergrütze zurechtgestellt.«
Brusse lachte. »Sie kann leider nicht; gelt, Bärbel.« Verschmitzt sah er sie an und zwinkerte ihr zu.
»Soviel Zeit habe ich schon«, erwiderte Bärbel.
»Also los, rein mit dir!« befahl der Förster und schloß hinter ihr die Tür.
Den Teller mit der kühlen Speise ließ sie sich erst gut schmecken, ehe sie sich mit »Recht schönen Dank, Frau Brusse!« davontrollte.
»Weshalb hat sie es so eilig?« fragte die Förstersfrau ihren Mann.
»Der Likasch wartet bei ihrem Vater. Sie sagte es wenigstens vorhin. Wer weiß, was er will. Er zieht doch in das kleine Haus oberhalb vom Elsner. Vielleicht sollen sie ihm da beim Einräumen helfen.«
»Was der schon einzuräumen hat, der Zigeuner.«
»Wieso, Zigeuner?«
»Schaut er etwa anders aus?« meinte Frau Brusse. »Ich sah ihn neulich lieber gehen als kommen, als er wegen des Hauses mit dir verhandelte.«
»Du sprichst bald wie der alte Menzel«, erwiderte der Förster. »Sei nicht ungerecht, vorläufig hat er keinem was zuleide getan.«
Als Bärbel nach Hause kam, war es schon spät am Abend. Vom klaren Himmel herab schien der Mond, daß man Weg und Steg gut erkennen konnte. Im Hause brannte kein Licht mehr. Das Mädchen wunderte sich. Beim Näherkommen entdeckte sie Likasch und den Vater auf der Bank vor der Tür.
»Da bist du ja endlich«, sagte Likasch. Er griff in die Tasche und holte eine Tafel Schokolade heraus. »Für dich, das heißt, wenn du mir einen Gefallen tun willst.« Er hielt Bärbel die Tafel hin: »Hast du Lust, hinüber nach Harla zu laufen?«
»Sie wird müde sein«, meinte der Vater. Die Männer schienen bereits darüber gesprochen zu haben, jedenfalls zeigte sich Elsner mit dem Wunsche Likaschs nicht ganz einverstanden.
»Müde bin ich nicht«, erwiderte Bärbel. Die Aussicht, sich eine Tafel Schokolade zu erobern, lockte sie sehr, denn solch süße Sachen gab es sonst kaum. Vor einem halben Jahre hatte sie von der Förstersfrau ein Stück bekommen, als sie im Garten Salat pflanzen half, seitdem nicht mehr.
»Du sollst mir nämlich einen Brief nach Harla bringen«, fuhr Likasch fort, »und zwar …«
»Hat es nicht Zeit bis morgen früh«, unterbrach ihn Elsner.
»Nein. Ich sagte es dir doch vorhin schon. Morgen sollen wieder einmal die Grenzwachen verstärkt werden. Wer weiß, wann wir dann Gelegenheit haben, das Zeug zu holen. Es muß heute nacht noch herübergeschafft werden. Ich brauche es nötig.«
»Woher weißt du, daß die Grenzwachen verstärkt werden?«
Likasch lachte. »Meine Sache! – Gute Augen und ein feines Gehör muß man haben, lieber Anton, aber das soll dich wenig kümmern, Hauptsache, die Bärbel besorgt mir den Brief zum Pavel. Also, paß auf«, wandte er sich an das Mädchen. »In Harla weißt du doch ungefähr Bescheid. Wenn du also ins Dorf kommst, ganz oben, nicht weit hinter der Grenze, da siehst du linker Hand ein Haus mit einem Schindeldach. Rechts daneben steht eine Wasserpumpe. Dort wohnt mein Freund, der Pavel. Merk dir den Namen, denn auf den Umschlag habe ich ihn absichtlich nicht geschrieben. Wie heißt er also?«
»Pavel.«
»Schön. Du gibst Pavel den Brief und wartest auf Bescheid. Mit der Antwort kommst du dann so schnell wie möglich zurück. Beeile dich aber, denn es ist wichtig. Wenn dich zufällig einer von den Grenzern trifft – ich glaube es zwar nicht – dann sagst du einfach, du hättest dich verspätet und wolltest hinüber nach Harla. Einen Ausweis hast du ja.«
»Ich warte mit noch zwei anderen oben an der Lichtung, wo die beiden einzelnen Fichten stehen«, setzte Elsner hinzu. »Solltest du aber einem Grenzer begegnen, dann kommst du nicht zurück, sondern bleibst drüben in Harla beim Pavel bis morgen mittag.«
»Das geht nicht!« rief Likasch dazwischen. »Ich will die Antwort auf jeden Fall heute noch haben.«
»Dann bleibt sie da!« erklärte Elsner fest.
Der andere zuckte die Achseln.
»Also?« fragte Bärbels Vater.
Likasch machte eine unwillige Bewegung. »Meinetwegen. Es wird hoffentlich um diese Zeit kein Grenzer spazierengehen, ausgerechnet da oben, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.«
»Ich habe es überhaupt nur ausnahmsweise erlaubt«, meinte Elsner, als Bärbel gegangen war.
»Du bist ängstlich, Anton. Solch ein großes Mädel. Sie kennt die Wälder wie ich meine Westentasche. Was soll ihr geschehen? Wenn uns dagegen einer von den Grenzern begegnet, schöpfen sie eher Verdacht. Ich glaube, sie haben schon etwas gemerkt, sonst würden sie kaum die Zollwachen verstärken. Der Lindenwirt erzählte es mir gestern. Woher er's erfahren hat, weiß ich nicht.«
»Es mag sein, wie es will, Likasch, mein Mädel gehört abends ins Haus und damit basta. Ich habe dir den Gefallen getan, aber ein zweites Mal darfst du mir damit nicht wieder angerückt kommen, merk' dir das.«
Elsner erhob sich und trat ins Haus. »Zum Sitzen wird mir's zu kühl. Wir können auch in der Stube warten.«
»Wann mußt du aufbrechen?« fragte Likasch.
»In anderthalb Stunden, sofern Stefan und Hermann pünktlich sind.« Er zündete die Petroleumlampe an, die an einem Draht über dem Tisch hing und mit ihrem spärlichen Schein die Stube knapp erleuchtete.
»Da ist's ja draußen heller«, bemerkte Likasch und setzte sich. »Schade übrigens, daß wir gerade Vollmond haben. Eine Wolkennacht wäre angenehmer.«
»Dir kann es gleich sein, du gehst doch nicht mit«, erwiderte Elsner.
Likasch, der den Vorwurf durchaus merkte, lächelte. »Einer muß mindestens daheim bleiben, sonst schöpft man vielleicht gar noch Verdacht. Deshalb lasse ich auch die ganze Zeit über in meiner Stube Licht brennen und setze mich ans Fenster, damit neugierige Leute sehen, daß der Händler Likasch zu Hause ist und nicht etwa schmuggelt. Sie reden ohnehin schon zuviel über mich, deshalb nehme ich mich besonders in acht, verstehst du?«
Elsner hatte nur oberflächlich zugehört. Seine Gedanken weilten bei Bärbel. Er schaute nach der Uhr, deren Pendel einen langen Schatten an der Wand hin und her warf.
Erst eine Viertelstunde war vergangen. Wie langsam die Zeit dahinkroch. Noch oft schaute Bärbels Vater in diesen anderthalb Stunden zur Uhr. Als dann Stefan König und Hermann Stiller, zwei Holzfäller aus dem unteren Dorfe, eintrafen, brachen die Männer auf. Likasch begleitete sie nur bis zum Waldrande, wo sein Haus lag.
»Ihr bringt die Sachen bald zu mir. Seid aber vorsichtig«, flüsterte er ihnen zu, ehe er vom Wege abbog und hinter dichtem Buschwerk verschwand.
Schräg überm Rücken der Schwarzen Kuppe glänzte am sternenbedeckten Himmel die runde Scheibe des Mondes. Der Wind strich sacht über das dunkle Meer der Wälder hin, das sich kaum bewegte, und gewann erst freieren Lauf, als er die Wiesen hinter der Grenze erreichte.
Auf dem steilen Wege bergan war Bärbel ordentlich warm geworden, da der Wind um ihre Stirn spielte, wurde ihr wohler. Vor ihr im silbrigen Licht des Mondes lagen die ersten Gehöfte von Harla. Bis zu Pavels Haus waren es nur noch wenige Minuten.
In der Ferne bellte ein Hund. Dann und wann raschelte es im Laubwerk rechts und links des Weges, wenn der Wind vom nahen Walde herüberwehte. Sonst blieb es still bis auf Bärbels gleichmäßige Schritte.
Hoffentlich traf sie den Freund vom Likasch an. Im Hause schien allerdings niemand mehr wach zu sein. Es war alles finster. Sie ging um das Gehöft herum und sah, wie eine Frau mit der Laterne aus dem Stall kam. Kurz vor der Haustür begegneten sie einander.
»Guten Abend, wohnt hier …«
Plötzlich rasselte eine Kette. Dicht neben ihr sprang ein mächtiger Hund aus seinem Verschlag und bellte so laut, daß ihre Worte im Lärm untergingen. Im gleichen Augenblick öffnete sich die Haustüre. Ein älterer Mann trat heraus und gebot zunächst dem Hunde Ruhe. Winselnd ließ sich das Tier im Innern des Verschlages nieder.
»Wo kommst du her?« fragte der Mann, während er der Frau die Laterne abnahm und sich den späten Ankömmling betrachtete.
»Der Likasch schickt mich zu Ihnen. Sie heißen doch Pavel?«
»Ja«, sagte der Mann. »Vom Likasch kommst du? Was will er?«
»Sie sollen den Brief durchlesen und mir gleich Antwort mitgeben.« Der Mann, der ganz gut Deutsch sprach, nur etwas härter als die Leute auf der anderen Seite der Grenze, nahm den Brief und gab seiner Frau die Laterne zurück zum Halten. Im Schein der winzigen Flamme las er die wenigen Zeilen, die Likasch auf einen Zettel gekritzelt hatte. Er knüllte das Papier samt dem Umschlag mißmutig zusammen und schob es in die Hosentasche.
»Wo soll ich Leute hernehmen – so spät«, murmelte er.
»Was hat Likasch geschrieben?« wollte die Frau wissen.
»Ah, nichts«, entgegnete Pavel mit einem Blick auf das Mädchen.
»Kennst du Likasch gut?« fragte er Bärbel.
»Ja. Er wohnt nicht weit von uns weg und kommt immer zum Vater«, sagte sie.
»So? Zum Vater kommt er?« – Pavel hielt inne. Er überlegte sekundenlang. »Warte einstweilen drinnen bei meiner Frau, ich bin bald wieder da«, sagte er und stieß mit dem Fuß die Tür zurück, daß Bärbel eintreten konnte.
Es dauerte aber beinahe eine halbe Stunde, ehe er wieder erschien. Er kam nicht allein. Zwei Männer mit Tragkörben auf dem Rücken warteten hinter dem Hause. Pavel schrieb drinnen in der Stube einige Zeilen auf ein abgerissenes Stück Papier, faltete es und gab die Antwort Bärbel. »Verlier' es nicht«, sagte er und hieß sie mitkommen. Die beiden Männer, mit denen sich Pavel in fremder Sprache unterhielt, luden sich gegenseitig die vollbepackten Körbe wieder auf, die sie einstweilen abgesetzt hatten. Pavel winkte Bärbel, sie solle ihnen folgen. Er selber nahm einen dritten Tragkorb auf den Rücken, und so zogen sie zu vieren los, jedoch nicht, wie Bärbel erwartet hatte, den Weg entlang, sondern quer über die Wiesen zum Walde, der an dieser Seite näher an das Dorf Harla heranreichte. Drei, vier Baumreihen gingen sie waldeinwärts und bogen dann rechtwinklig um, daß sie zwar von drinnen das ganze Gelände unterhalb des Waldes bis zur Grenze hinauf beobachten konnten, selber aber weder vom Wege noch von den Wiesen aus gesehen wurden. Keiner sprach ein Wort. Es war totenstill. Nur die dürren Zweige knackten unter den Füßen der mühsam Dahinschreitenden.
Kurz vor der Grenze hielt Pavel, der zuletzt ging, das Mädchen am Arm fest. Gleichzeitig pfiff er leise. Die beiden Männer vor ihm blieben stehen. Sie atmeten schwer unter der Last. Einer nahm den Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Du gehst jetzt allein«, flüsterte Pavel der Bärbel zu. »Ein Stück rechts vom Waldrand kommst du auf den Weg zurück. Den findest du doch?«
»Ja.«
Pavel war vorsichtig. Ein Mädchen plappert leicht etwas aus. Und den Schleichweg durch den Wald, den sie jetzt bis zur Lichtung nahmen, den brauchte außer den Eingeweihten niemand zu wissen. Nicht einmal die anderen kannten ihn, die Panitzer, die drüben warteten.
Bärbel war es so viel lieber. Pavel hätte ihr keinen größeren Gefallen tun können, als sie wegzuschicken. Die Männer, die da schweigend vor ihr herstapften, als seien sie gar keine Menschen, sondern Pferde, die jemand nächtlicherweise eingeschirrt hatte und die nun keuchend ihre Last schleppten, sie kamen ihr unheimlich vor. Viel freier fühlte sie sich, als sie wieder mit dem Weg, dem Wald, dem Mond und den Sternen allein war.
Von der Grenze herab begann sie ein Stück zu rennen, um die Männer möglichst weit im Rücken zu haben. Erst als der Weg sich verengte, als die vom Mondlicht überhellte Gasse der Bäume so schmal wurde, daß kein Strahl mehr zu Boden fiel, verlangsamte sie ihre Schritte, denn das Wasser, das bei Gewittern die steilen Wege abwärts floß, hatte die Erde zerfurcht und Steine angeschwemmt, daß einer leicht fallen konnte, wenn er nicht achtgab.
Eine Stunde mochte sie wohl schon gegangen sein, betreut von des Himmels flackernden Lichtern, die in dieser Sommernacht besonders klar schienen. Endlich öffnete sich der Wald vor ihr wie ein breites Tor. Die Lichtung war erreicht. – Da standen auch mitten in der sonst baumlosen Schneise die beiden einsamen Fichten, wo der Vater warten wollte. Damit er sie sehen konnte – die Schneise war nach unten zu ziemlich breit – lief sie hart am Rande entlang hinab und lauschte, bis sie ihren Namen hörte, leise und vorsichtig gerufen. Aber des Vaters Stimme hatte sie doch erkannt. »Gut, daß du wieder da bist«, sagte Elsner und nahm den Zettel in Empfang. Es war so hell, daß er ihn lesen konnte. »Also, sie kommen?«
»Ja. Sie sind schon unterwegs und werden bald da sein; drei Männer mit großen Körben«, setzte sie wichtig hinzu.
»Du meinst, daß es uns zu schwer wird?«
»Euch sicher nicht, aber wenn der Likasch mit wäre, der würde arg schwitzen. Er stöhnt ja schon, wenn er seinen Handwagen ziehen muß«, meinte Bärbel leichthin.
»Ja, der Likasch«, sagte Elsner, »der richtet's so ein, daß … na, schon gut, Bärbel, geh heim, leg dich schlafen. Wir kommen auch bald, und so lange sollst du nicht warten.«
»Ich möchte aber gern. Es sind doch Ferien, da kann ich mich ausschlafen.«
»Nein, Bärbel, ich will's nicht. Und ich hab' auch dem Likasch gesagt, daß so etwas wie heute nicht wieder vorkommt.«
»Aber es ist doch gar nicht weit nach Harla. Du siehst, ich bin schon wieder da, und eine Tafel Schokolade habe ich mir verdient.«
»Ja, ja, geh jetzt. Laß sie dir gut schmecken.«
Was hatte denn der Vater? Er war auf einmal so seltsam. Bärbel sah ihn an, aber da sein Gesicht im Schatten lag, konnte sie nicht erkennen, ob es gut oder böse in ihm ausschaute. Sonst ließ sich das sehr leicht feststellen, denn Anton Elsner gehörte zu den Leuten, die ihre Gefühle nicht versteckten.
Sie gab ihm die Hand. »Gute Nacht, Vater!«
»Gute Nacht. Schlaf schön!«
Ein Windstoß fegte über die Lichtung. Elsner ging zu den anderen in den Wald zurück.