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Stunde um Stunde schlich langsam dahin. Bärbel konnte nicht einschlafen. Unruhig wälzte sie sich hin und her. Es war seltsam, sie kannte keine Furcht und doch ängstigte sie sich um den Vater, vielleicht, weil sie zum ersten Male das nächtliche Tun und Treiben mit angesehen hatte. Zwischen Träumen und Wachen hörte sie dann den Vater heimkommen, wurde ruhiger und schlief bald darauf fest ein.
Als sie erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel. Das Mädchen schaute sich um. Es mußte schon spät sein, denn zwei Frauen kamen mit ihren Beerenkannen den Fahrweg entlang. Auf dem Tische in der Wohnstube lag das Brot, daneben ein Messer. Anton Elsner hatte sich sein Frühstück allein zurechtgemacht und war, ohne sie zu wecken, zur Arbeit gegangen.
Beim Anblick der beiden Frauen erinnerte sich Bärbel an die Kannen im Keller. Nun aber schnell aufstehen, anziehen und so rasch wie möglich hinunter nach Lomnau. Sicher wartete Frau Kammler schon sehnsüchtig auf die Beeren. Am Nachmittag wollte Bärbel noch einmal die Hänge um Weißwasser absuchen, da blieb also nicht mehr viel Zeit übrig.
Sie lief hinters Haus, griff nach dem Pumpenschwengel und holte sich klares, kaltes Wasser aus dem Berg. Dann knotete sie die Zöpfe fest zusammen und schöpfte mit hohlen Händen das Brunnenwasser aus steinerner Schale. Wie herrlich frisch das war! Auch wenn dabei die widerspenstigen Haare um ihre Schläfen mächtig naß wurden, auf dem Wege nach Lomnau trockneten sie bald unter der warmen Augustsonne.
Schimpfen würde ja Frau Kammler nicht, wenn sie wirklich erst am späten Vormittag anlangte. Dafür brachte sie ihr die schönsten Himbeeren, die es in der ganzen Gegend gab, groß wie Fingerhüte. Bärbel kannte die Beeren- und Pilzstellen in den Grenzwäldern ebenso gut wie die alten Frauen, die seit Jahren mit ihren Körben nach der Kreisstadt zum Markt fuhren.
Die junge Lehrersfrau empfing sie sehr freundlich. »Fein, daß du kommst. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen. Stell' die Kannen gleich in die Küche und setz' dich, du wirst sicher von dem weiten Weg müde sein.«
Sie schob ihr einen Stuhl hin, Kaffee wurde in eine große Tasse gegossen, ein Stück Kuchen dazugelegt, und ihr Junge, der dreijährige Ernst, schleppte stolz eine Zuckerbüchse herbei. Er war es so gewohnt, denn immer, wenn Bärbel kam, durfte sie ihm einen Löffel Zucker zum Naschen geben. Solche Dinge merken sich nämlich kleine Jungens recht gut, auch wenn sie, wie Ernst, mit ihren lustigen Augen erst drei Jahre in die Welt schauen. Das Mädchen gab ihm seine zustehende Portion. Für eine Weile schien er zufriedengestellt.
»Ernstelmann auch Tuchen haben«, bat er kurz darauf, als Bärbel ihn auf den Schoß nahm und er sie sofort mit besonderem Vergnügen an ihren langen Zöpfen zog. Sie wollte ihm ein Stück abbrechen, aber Frau Kammler widersprach: »Der Kuchen ist für dich. Er hat genug gegessen.« Den plötzlich traurig gewordenen Blondkopf tröstete sie eilig: »Ernstelmann bekommt morgen Kuchen, Bärbel will doch auch welchen, nicht wahr!«
»Bärbel auch welchen«, kollerte es drollig über die kleine Zunge, die sich abmühte, ein paar an den Oberlippen hängen gebliebene Zuckerkörnchen zu erlangen. Nun lachte er wieder und fand es ganz in der Ordnung, daß Bärbel ihren Kuchen behielt.
Die junge Mutter aber hob ihn in die Höhe: »Siehst du, so ist's schön, Ernstelmann. Immer gut sein zur Bärbel!«
»Dut sein!« rief der Kleine und streckte seine dicken Ärmchen nach dem Mädel aus. »Er will zu dir«, sagte Frau Kammler und lachte. »Sonst ist er gar nicht so zutraulich.« Sie gab ihn Bärbel, die mit ihm eine Zeitlang Holzklötzer aufbauen mußte. Dann zeigte er ihr draußen im Garten die bunten Blumen, dann sein Schaukelpferd, das neben dem Sandkasten lag und das Bärbel wieder auf die Beine stellte. Zuletzt führte er sie wieder hinein in die Küche. Dort zeigte er auf Frau Kammler. »Und das ist Mutti!« erklärte er freudestrahlend. Den Widerschein dieser Freude aber entdeckte Bärbel in den guten Braunaugen der jungen Frau, die mit ihrem wunderschönen, lockigen Haar fast selber wie ein Mädchen aussah.
»Möchtest du nicht bei uns bleiben«, fragte sie, »vielleicht später, wenn du aus der Schule bist? Ich brauchte jemanden für den Jungen, einen Menschen, der es gut mit ihm meint, auf den man sich verlassen kann; das wärest du doch.«
»Ich käme gern zu Ihnen«, sagte Bärbel leise und wurde ein wenig rot dabei. »Aber jetzt nicht.«
»Weshalb? Du hättest es gut bei uns, könntest dir den weiten Schulweg sparen …«
»Jetzt muß ich beim Vater bleiben. Er braucht mich doch. – Bei uns oben ist es sehr schön, Frau Kammler. Ich möchte auch gar nicht weg«, setzte sie hinzu und dachte an den Wald und das Haus davor, in dem sie glücklich und zufrieden lebte. Was war da schon ein weiter Schulweg. Auch im Winter ging sie ihn gern, wenn der Schnee das Haus noch einsamer und den Wald noch stiller machte.
»Auf Bäumen kann man bei uns allerdings nicht herumklettern«, sagte die junge Frau, »wenigstens nicht, ohne gesehen zu werden.«
»Wissen Sie denn, daß ich auf Bäume klettere? Sie kommen doch nie nach Panitz.«
»Nun, wer könnte es mir erzählt haben? Rate mal?«
»Einer bloß«, antwortete Bärbel etwas verlegen, »der Förster Brusse.«
»Getroffen! Du wärst manchmal ein halber Junge, sagte er neulich. Stimmt das?«
»Oh, den werde ich aber ausschelten, wenn ich ihn treffe.«
»Aber Bärbel, weshalb denn?«
»Weil er gepetzt hat.«
»So was ist doch nicht schlimm, im Gegenteil, es macht einem Wildling, der wie du oben in den Bergen aufgewachsen ist, alle Ehre«, meinte die Lehrersfrau. – »Soll ich dir was verraten?«
»Ja.«
»Als Mädel habe ich im stillen die Jungen beneidet, daß sie auf Bäume klettern durften, über Zäune springen und sich die Hosen zerreißen …«
»Warum haben Sie es nicht auch getan?« fragte Bärbel mit der selbstverständlichsten Miene der Welt.
»Ich durfte es nicht. Wir wohnten in der Stadt. Mein Vater war Beamter und achtete streng darauf, daß seine Tochter sittsam und artig in sauberen Kleidern durch die Straßen ging. Wehe, wenn ein Fleckchen entdeckt wurde oder ein Riß. Weißt du, mein Vater meinte es gut, nur wäre es mir zehnmal lieber gewesen, wenn man mir nicht so teure Kleider gekauft hätte, in denen ich mich immer nur in acht nehmen mußte.«
»Habe ich's da nicht viel schöner?« sagte Bärbel freudig.
Die junge Frau Erna Kammler betrachtete den »Wildling« eine Weile. So frisch und froh sah Bärbel aus. Nein, man brauchte keine schönen Kleider, um glücklich zu sein, dachte sie bei sich, als sie in Bärbels lachende Augen sah.
»Freilich hast du's schöner«, erwiderte sie, während im gleichen Augenblick der Gedanke in ihr hochstieg, daß es bewundernswert und merkwürdig zugleich war, so allein, ohne Gespielin in dem verlassenen Waldwinkel zu hausen, dem Vater die Wirtschaft zu führen, keine Mutter mehr zu haben, die sich um einen kümmerte, und trotz alledem zufrieden zu sein. Wie viele Kinder ihrer Bekannten konnten sich an dem Wildling, wie der Förster das Mädel im Scherz genannt hatte, ein Beispiel nehmen.
Ihrem Jungen aber, das stand fest, wollte sie es später nicht wehren, ein richtiger Junge zu sein, sich auszutoben nach Herzenslust und mit zerrissenen Hosen nach Hause zu kommen. Er sollte nachholen, was sie in ihrer Kindheit versäumt hatte und brauchte trotzdem kein Frechling zu werden.
Sie begleitete Bärbel ein Stück die Dorfstraße hinauf, wo sie in einem Gehöft Butter holte. Ernstelmann trippelte nebenher. Es ging darum sehr langsam vorwärts.
»Wieviel Himbeeren wollen Sie noch haben?« fragte Bärbel, als sie sich trennten.
»Richtig, das hätte ich beinahe vergessen: ich brauche sie erst Anfang nächster Woche, weil mir mein Mann am Sonnabend neue Gläser aus der Stadt mitbringen will. Wird es da noch welche geben?«
»Oh ja, in Weißwasser vielleicht nicht mehr, aber weiter oben überm Höllengrund, dort kommt nämlich die Sonne später hin, und da fangen sie erst jetzt an reif zu werden«, erwiderte Bärbel. »Gut sind sie! Im vorigen Jahre hat die Försterin welche aus dem Höllengrund gekauft, die waren dunkelrot und zuckersüß.«
»Fünf bis sechs Pfund genügen mir. – So, Bärbel, hier ist das Geld für die heutigen. Grüß den Vater schön von mir, komm gut heim und nächste Woche sehen wir uns wieder. Ernstelmann, gib das Händchen. So …«
Ernstelmann tat, wie ihm befohlen. »Bärbel – wied'sehn«, sagte er und legte seine kleine Hand in die des Mädchens. Als Bärbel schon ziemlich weit weg war, winkte er immer noch, mit beiden Händen sogar. Zuletzt wollte er nachlaufen und zog seine Mutter aus Leibeskräften nach jener Richtung.
»Da mußt du allein gehen«, meinte Frau Kammler zu ihm und machte ein betrübtes Gesicht. Deshalb besann er sich und bat vorsichtshalber nur: »Bärbel, bald wiedertommen.«
»Ja, Bärbel kommt wieder.«
Ernstelmann nickte zufrieden und ging mit Butter einkaufen.