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Nach einer sternklaren Nacht zogen am frühen Morgen Wolken herauf, die das Gebirge überklettern wollten. Doch in den ersten Vormittagsstunden schon stauten sich ihre dichten Ballen vor den Hängen an der Grenze, zerfaserten in lauter lose Fladen, und als es Mittag war, rieselte es unablässig aus einem grauen Nebelmeer herab in die dunklen Wälder.
Der Holzfäller Anton Elsner sah ein über das andere Mal zum Fenster hinaus, schüttelte den Kopf, ging in der Stube auf und ab, wieder zum Fenster, und blieb schließlich mißmutig stehen. Dann zog er sich doch noch die gute, blaue Jacke an, die er sonst lediglich an Festtagen trug, aber nur, wenn schönes Wetter war. Lange genug hatte er gewartet. Wenn es bis mittags um zwölf nicht zu regnen aufhörte, so hörte es den ganzen Tag nicht mehr auf, das wußte er aus Erfahrung. Die Wetterecke oberhalb der Schwarzen Kuppe kannte er zur Genüge, da machte ihm keiner etwas vor, auch die Schwägerin nicht, die eben aus der Schlafstube trat und ihn fragte, ob er bei solchem Regen wirklich hinunter nach Lomnau wolle.
»Soll ich vielleicht warten, bis es Abend wird und ich mit meinen Stiefeln im Schmutz versinke?« entgegnete Elsner unwirsch.
»Es hat doch noch Zeit«, meinte darauf die Schwägerin. »Vielleicht läßt der Regen nach. Du wirst ja pitschnaß, ehe du zum Amtsvorsteher kommst.«
Allen Einwänden zum Trotz behauptete der Mann, daß es nicht aufhören würde zu regnen, daß die Sache sehr eilig sei und er das Warten satt habe. Solche Dinge seien wichtig und müßten bald erledigt werden.
Die Schwägerin lächelte, als er den Hut vom Nagel nahm. »Na, geh schon! Ihr Mannsleute seid unbelehrbar.«
Elsner suchte sich aus dem halben Dutzend Weiden- und Eichenstöcken, die nebeneinander auf einem der dicken Deckenbalken lagen, den besten heraus, rief in die Nebenstube: »Anna, ich geh jetzt!«, übersah geflissentlich das Lächeln der Schwägerin und schritt stolz zur Tür hinaus.
Noch stolzer aber betrat er eine reichliche Stunde später das Gemeindeamt von Lomnau. Vor der Tür schlug er sich an einem steinernen Treppenabsatz den rötlichen Lehmboden von den Stiefeln. Dann goß er das Regenwasser vom Hut herunter, das sich dort während der langen Wanderung angesammelt hatte. Keinesfalls durfte er dem Amtsvorsteher zuviel von dem jämmerlichen Wetter draußen ins Zimmer bringen.
Er mußte sich eine Viertelstunde gedulden, ehe er vorgelassen wurde, denn es waren noch andere Leute da, die den Amtsvorsteher Holl sprechen wollten. Holl und Elsner kannten sich schon als Jungen, hatten sie doch dieselbe Schulbank gedrückt. Später waren sie sich seltener begegnet, denn der Sohn vom Bauern Holl kam auf eine höhere Schule in der Stadt und blieb dort mehrere Jahre. Hernach sahen sie sich wieder öfter. Elsner dachte, daß Friedrich Holl, der inzwischen Amtsvorsteher geworden war, ihn, den armen Holzfäller, kaum mehr kennen würde. Doch er merkte bald, daß sich an der alten Schulkameradschaft nichts geändert hatte. Und so war es bis auf den heutigen Tag geblieben.
»Na, Anton, bei dem Regenwetter kommst du zu uns?« begrüßte ihn der Amtsvorsteher und reichte ihm über den langen Tisch hin die Hand. »Setz dich, was bringst du denn Schönes? Siehst ja so feierlich aus.«
»Ich hab' auch allen Grund dazu«, erwiderte Elsner verschmitzt, rückte aber mit seiner Antwort nicht gleich heraus, sondern ließ den einstigen Schulfreund eine geraume Zeit warten.
»Willst du eine Pilzkarte ausgestellt haben?« fragte Holl nach einer Weile.
»Nä, nä.«
»Holz kaufen?«
»Nä, nä. Übrigens krieg' ich's bei uns oben in Panitz billiger als bei euch.«
»Sag schon, was du auf dem Herzen hast«, forderte ihn, ein wenig neugierig, der Amtsvorsteher auf.
»Also, kurz und bündig, ich möchte dir eine amtliche Anzeige machen.«
»Eine amtliche Anzeige? So, so. – Was Schlimmes?«
»Nä, nä. Gar nichts Schlimmes, etwas sehr Gutes sogar. Wir haben nämlich ein Kind gekriegt! – Was, da bist du jetzt erstaunt! Ja, ja, deshalb komme ich auch bei dem verteufelten Wetter hierher, damit du's einträgst.«
Holl erhob sich und schüttelte Elsner die Hand. »Das ist aber eine Überraschung. Natürlich werden wir's gleich standesamtlich eintragen. – Wie soll er denn heißen?«
»Wer?«
»Der kleine Kerl«, sagte der Amtsvorsteher und sah in ein ziemlich verblüfftes Gesicht.
»Aber Friedrich, es ist doch gar kein Junge, es ist doch ein Mädchen«, erklärte Elsner.
»Ach so. Ich dachte, es wäre ein Junge. – Schade.«
Der Holzfäller horchte auf: »Schade? Wieso schade?«
»Ich dachte halt bloß so«, wandte Holl ein, »weil sich doch die Väter zuerst immer einen Jungen wünschen …«
»Nä, nä, da bist du arg auf dem Holzwege, lieber Friedrich. Ich freue mich über ein Mädchen genau so wie über einen Jungen, verstanden? Was hast du eigentlich gegen die Mädchen?« meinte Elsner und gab sich durchaus nicht zufrieden, als der Amtsvorsteher ihm bestätigte, es müßten schließlich auch Mädchen auf der Welt sein, nur hätte er gedacht, daß das erste Kind vom Anton Elsner eben ein Junge wäre.
»Im Gegenteil, so 'n Mädel kann später der Mutter helfen. Überhaupt sind Mädel viel artiger als die Nichtsnutze von Jungen, die den lieben langen Tag bloß Unsinn im Kopfe haben. Nä, nä, ich bin froh, daß es ein Mädchen ist, und der Herr Amtsvorsteher wird wohl nichts dagegen einzuwenden haben«, bemerkte Anton Elsner etwas ärgerlich über die sonderbare Einstellung des anderen. Er zählte eine ganze Reihe Tugenden auf, die den Mädchen eigen wären. Die Jungen kamen dabei schlecht weg.
»Wenn's ein Junge gewesen wäre, hättest du gerade umgekehrt geredet, ich kenne dich schon«, erwiderte Holl und schlug ein umfangreiches Buch auf. »Aber du brauchst dich doch nicht zu ärgern, woher soll ich dir's an der Nasenspitze ablesen, ob du einen Jungen oder ein Mädel anmelden willst.« – »Na ja, es ist schon gut«, beschwichtigte Elsner.
Der Amtsvorsteher begann mit seinen Eintragungen. »Wie soll sie heißen?« fragte er, während er schrieb. Als keine Antwort erfolgte, wiederholte er, von dem Buche aufsehend, seine Frage. »Wie mir's scheint, hast du darüber überhaupt noch nicht nachgedacht.«
Elsner ertappte sich bei demselben Gedanken. Wahrhaftig, den Namen hatte er ganz und gar vergessen, nicht einmal mit seiner Frau darüber gesprochen. Er drehte verlegen am obersten Knopf der Jacke, doch fiel ihm darum nichts Gescheites ein.
»So ist's richtig, kommt einer her aufs Amt, will die Geburt einer Tochter anmelden und weiß nicht, wie sie heißen soll. Ja, wenn man's allzu eilig hat, muß man doppelt laufen. Da dreh halt wieder um, frag daheim und komm morgen wieder«, sagte Holl und wollte das Buch zuklappen. – »Das wäre doch gelacht, wenn wir keinen Namen fänden, und umkehren mag ich bloß, wenn du mich begleitest«, erwiderte der Anton, wobei er eine nicht mißzuverstehende Kopfbewegung nach dem Fenster zu machte, auf dessen Blech der Regen einen langweiligen Marsch trommelte.
»Sollt mir einfallen«, lachte der Amtsvorsteher. »Aber beim Namensuchen will ich dir gern behilflich sein. Wenn ich nur wüßte, ob deine Frau damit einverstanden ist.«
»Das wird sie schon«, sagte Elsner, »wir müssen eben einen schönen Namen finden.«
»Ist das Mädel blond oder dunkel?«
»Ziemlich schwarze Haare hat sie, aber das ändert sich später oft, darauf kannst du nicht viel geben.«
»Hm, hast recht«, meinte Holl und sann nach. Dann nannte er einige Namen, doch dem Holzfäller gefielen sie nicht. Er schüttelte jedesmal den Kopf. Holl zählte weiter auf.
»Weißt du keine besseren?« unterbrach ihn Elsner.
»Such selber«, polterte der Amtsvorsteher heraus, »dir soll's einer recht tun! Übrigens gehört es auch nicht zu meinem Amt, Namen auszusuchen, die muß man mitbringen, Anton. Hast du mich verstanden?«
Der Holzfäller wollte etwas entgegnen, denn nach seiner Ansicht war es durchaus Sache des Gemeindeamtes, in solchen Fragen mitzuhelfen. Aber im selben Augenblick rief draußen im Flur eine Frauenstimme: »Bärbel, du sollst doch von der Treppe weggehen!«
Elsner horchte unwillkürlich auf. Wie zum Zeichen eines zwar plötzlichen aber unumstößlichen Entschlusses legte er seine grobe Holzhackerfaust auf den Tisch und sagte: »Jetzt weiß ich's; Bärbel soll sie heißen!«
Holl nickte: »Gut, wie du willst.«
»Gefällt dir der Name?«
»Wenn er mir nicht gefiele, würdest du ihn trotzdem nehmen. Das weiß ich genau. Aber er gefällt mir. Es liegt so was Frisches, Fröhliches drin. Willst du nicht noch einen zweiten hinzunehmen, vielleicht den von der Schwägerin? Sie würde sich bestimmt freuen, denn gekümmert hat sie sich doch all die Jahre um euch, als deine Frau krank war.«
»Das stimmt. Schreib also noch dazu: Katharina.«
Der Amtsvorsteher tauchte die Feder ins Tintenfaß und schrieb in das dicke Standesamtsbuch der Gemeinde Lomnau die Namen Barbara Katharina Elsner. Gerade als er mit Schwung zum »B« bei Barbara ansetzte, geschah etwas Merkwürdiges. Die Sonne, die sich den ganzen Tag über versteckt gehalten, schaute ein paar Sekunden lang durch ein Wolkenloch ins Amtszimmer. Zwei helle Kringel lagen just auf der noch tintenfrischen Eintragung, daß Holl innehielt und erstaunt durchs Fenster äugte. Der Holzfäller folgte dem Blick. Wie aus einem klaren Auge schaute der Himmel hernieder auf die regenschwere Erde, ehe sich Wolken davorschoben und der lustige Schein auf dem Buch ebenso plötzlich verschwand, wie er gekommen war.
»Das bedeutet sicher was Gutes, Anton«, sagte Holl und schob dem glücklichen Vater des Mädchens Barbara Katharina Elsner das Buch zum Unterschreiben hin. »Hoffentlich bringt sie dir viel Sonne ins Haus.«
»Das wird sie schon«, meinte der andere. Mit ungewohnter Hand setzte er seinen Namen unter die Urkunde.
»Mußt aber gut zu ihr sein, nicht gleich böse werden, wenn sie dich ärgert«, sagte Holl, ehe er sich von dem einstigen Schulkameraden verabschiedete.
»Wie meinst du denn das?« fragte der Holzfäller, obgleich er sich ungefähr denken konnte, was der Amtsvorsteher damit andeuten wollte.
»Bist doch ein alter Dickschädel. Wenn nicht gleich alles so geht, wie du's dir ausgemalt hast, fährst du aus der Haut und donnerst. Das meinte ich, Anton. So war's früher in der Schule und manchmal auch später noch.«
»Oh, ich werde schon still sein. Mit der Zeit wird man ja ruhiger. – Hab' schönen Dank!«
Zweifelnd sah ihm Holl nach. An das Ruhigerwerden glaubte er nicht recht. Ein gutmütiger Kerl war er gewiß, der Anton, aber leicht aufbrausend und starrköpfig obendrein. Hatte er sich einer Sache verschworen, brachte ihn keiner so leicht davon ab, da hing der Anton dran wie Pech und Schwefel, ob es gut auslief oder schlecht. So war er als Junge gewesen, so hielt er es als Mann. Und nun schenkte ihm der Himmel solch ein zierliches, zerbrechliches Wesen, mit dem einer behutsam umgehen muß. Nicht gleich schimpfen, wenn es eine Nacht durch schreit, lieber Anton, immer schön ruhig bleiben, ja, das wird dir sehr schwer fallen, sagte der Amtsvorsteher zu sich, als er die Tür hinter dem Holzfäller einklinkte.
Anton Elsner aber dachte weder ans nächtliche Schreien noch an den Regen, der ihm nach einer Viertelstunde wieder vom Hutrand in den Jackenkragen lief. Für ihn schien die Sonne, auch wenn der Himmel droben grau war.
Barbara hieß es nun, das kleine Ding. Bärbel würde er sie rufen. Und einstweilen hatte die Sonne Pate gestanden, vorhin, als der Amtsvorsteher ihren Namen in das wichtige Buch eintrug. Daheim wollte er davon erzählen, denn es war zweifellos ein gutes Zeichen, daß die heute so geizige Sonne gerade in jenem Augenblick ihr Gold durch den schmalen Wolkenritz schüttete, mitten auf die Seite mit dem Namen Barbara.
»Bärbel …« sagte der Holzfäller Anton Elsner leise vor sich hin und begann im Takt seiner gleichmäßig ausholenden Schritte ein Lied zu pfeifen.