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Gerhards Vater, der Zollbeamte Wilhelm Erdmann, hielt sich an diesem Tage wegen einer wichtigen Besprechung bei Inspektor Mayerhofer im Kaltensteiner Hauptzollamt auf. Die beiden Männer unterhielten sich eingehend miteinander. Sie hatten das Gespräch fast beendet, als Erdmann am Fernsprecher verlangt wurde.
Der Inspektor reichte ihm den Hörer, den er von der Gabel genommen hatte: »Sie werden von Oberlomnau gewünscht. Ich glaube, Ihre Frau will Sie sprechen.«
»Meine Frau?« fragte Erdmann verwundert und meldete sich. Er erschrak heftig, als er erfuhr, was vorgefallen war. »Du mußt mir die Wahrheit sagen!« rief er erregt in die Muschel.
»Was eigentlich mit ihm los ist, weiß ich selbst nicht«, antwortete Frau Erdmann. »Er klagt über starke Kopfschmerzen, außerdem ist ihm übel. – Nein. – Selbstverständlich habe ich ihn gleich ins Bett gesteckt.«
»Ich komme sofort zurück. – Ja. – Den Zug erreiche ich noch!« rief Erdmann in den Fernsprecher und legte hastig den Hörer auf.
Aus Bruchstücken des Gesprächs hatte Mayerhofer ungefähr erraten, worum es sich handelte. »Da nehmen Sie nur gleich einen Arzt mit«, riet er, »in solchen Dingen muß man vorsichtig sein.«
»Eben dachte ich auch dran. Wohnt einer hier in der Nähe? Ich habe nämlich nicht mehr viel Zeit zum Zug.«
»Zwei Häuser weiter; Doktor Lorenz. Die Sprechstunde ist zwar vorüber, aber es wäre möglich, daß Sie ihn noch antreffen«, meinte der Inspektor.
Erdmann verabschiedete sich von seinem Vorgesetzten und fand glücklicherweise Doktor Lorenz noch im Sprechzimmer vor. Der junge, freundliche Arzt versprach mitzukommen, nur müsse er vorher zwei eilige Krankenbesuche machen. »Sie können mit in meinem Wagen Platz nehmen. Die Besuche dauern höchstens zwanzig Minuten. Wir fahren dann gleich nach Oberlomnau weiter. Mit dem Auto sind wir bedeutend rascher an Ort und Stelle, als wenn wir bis Weißwasser die Bahn benutzen und hinauf nach der Grenze laufen. – Einverstanden?«
»Gern, Herr Doktor. Ich bin sogar froh, daß es so schnell geht.«
Eine knappe Stunde später stand Doktor Lorenz an Gerhards Bett. Er hatte den Jungen eingehend untersucht und eine schwere Gehirnerschütterung festgestellt.
»Vor allem völlige Ruhe, auf keinen Fall aufstehen«, sagte er am Schluß seiner Untersuchung und gab noch verschiedene Anordnungen. »Sie können Gott danken, daß es so abgegangen ist, ich meine, ohne größere innere Verletzungen, Brüche usw. Wie lange war er eigentlich bewußtlos?«
»Das weiß ich eben nicht«, erwiderte Frau Erdmann, die mit ihrem Mann und ihrer Schwester ängstlich auf das Ergebnis der Untersuchung gewartet hatte.
»Wieso? Wer hat ihn denn aufgefunden?«
»Ein Mädchen.«
»Kann ich das Mädchen sprechen?« fragte der Arzt.
»Leider nicht, Herr Doktor, wir haben nämlich keine Ahnung, wer sie ist und wo sie wohnt. Gerhard und unsere Jüngste, die Sibylle, sind ihr unlängst im Walde begegnet. Nun hat sie heute nachmittag zufällig den Jungen unter dem Baume gefunden, hat ihn hierher gebracht und ist kurz darauf verschwunden. Ich wundere mich ja selber über dieses Mädel. Ein Beamter von der Zollstation hat sich noch nach ihr umgesehen, aber sie war schon weg.«
»Merkwürdig, daß sie so mir nichts, dir nichts ausgerückt ist. – Seid ihr etwa zusammen auf den Baum geklettert, daß sie vielleicht Angst hatte?« fragte Doktor Lorenz den Jungen.
»Nein.«
»Na? Nicht schwindeln, Gerhard, das hat keinen Sinn, ich will dir doch helfen«, sagte der Arzt mit freundlicher Strenge.
»Wirklich, ich war ganz allein auf dem Baum.«
»Du weißt auch nicht, wie sie heißt?«
Gerhard, dem das Sprechen Mühe machte, nickte: »Bärbel.«
»Wie denn noch? Der Mensch rennt doch mindestens mit zwei Namen in der Welt herum.«
»Sie hat damals bloß gesagt, sie … sie heiße Bärbel«, entgegnete Gerhard. Er sah dabei den Arzt so ruhig an, daß Doktor Lorenz die Gewißheit bekam: nein, der Junge lügt nicht.
»Eigenartig ist es auf jeden Fall«, meinte Frau Erdmann. »Sonst machen sich Kinder immer höchst wichtig, wenn sie bei Unfällen Zeuge sind.«
»Oder sie laufen weg«, sagte Doktor Lorenz. »Aber es lag für diese Bärbel gar kein Grund vor, das Weite zu suchen, im Gegenteil, Sie können ihr sehr dankbar sein. – Hm, verstehen Sie das?« wandte sich Doktor Lorenz an Gerhards Vater.
»Offengestanden, nein. Vielleicht läßt sie sich wieder mal hier blicken. Ich werde meine Kameraden verständigen. Die zerbrechen sich nämlich auch die Köpfe, weshalb das Mädel plötzlich Reißaus nahm.«
Doktor Lorenz schaute nach seiner Armbanduhr. »Also bis morgen, Gerhard, und ruhig liegen bleiben.« Er gab dem Jungen die Hand und ging zur Tür. Erdmann begleitete ihn die Treppe hinunter.
»Sie sind Süddeutscher?« fragte der Arzt.
»Ja, aus Baden. Haben Sie es gemerkt?«
»Sofort, an der Sprache natürlich, vielmehr am Klang. Ein Badenser kann sich schlecht verleugnen, auch wenn er Hochdeutsch spricht. – Wie fühlen Sie sich nun bei uns? Bißchen einsam hier oben, nicht wahr?«
»Ach, Einsamkeit sind wir Grenzer gewöhnt, dafür ist die hiesige Gegend wunderschön.«
»Wird eigentlich viel geschmuggelt?« fragte Doktor Lorenz nebenbei.
»Noch vor einem halben Jahr soll es gar nicht mehr schlimm gewesen sein, sagen meine Kameraden – ich bin nämlich erst kürzlich nach Oberlomnau versetzt worden –, aber jetzt nimmt die Schmuggelei derart überhand, daß wir sogar Verstärkung bekommen.«
»So?«
»Ich war deswegen heute im Hauptzollamt.«
»Sind die Leute so schwer zu fassen?«
Die beiden Männer waren am Gartenzaun angelangt. Erdmann öffnete die kleine Gittertür und ließ den Arzt vorangehen. »Sehen Sie sich diese riesigen Wälder an«, sagte er. »Wie wollen Sie da jemanden erwischen, namentlich nachts, wenn einer den nächsten Baum kaum erkennen kann? Im Sommer mag es halbwegs gehen, aber in den dunklen Herbstnächten, bei Sturm und Regen, da können Sie Woche für Woche auf der Lauer liegen, wenn der Zufall nicht zu Hilfe kommt, ist schwerlich was zu machen.«
»Kein leichter Dienst, Herr Erdmann«, meinte der Arzt anerkennend.
»Ich will mich nicht beklagen, es gibt auch andere Leute, die sich plagen müssen, aber so schön, wie sich unser Leben von der Weite ansieht, ist es leider nicht. Die meisten denken: die Grenzer haben's fein, sie atmen immer in frischer Luft, wohnen im Walde, wo es keinen Lärm und keinen Fabrikrauch gibt, dürfen spazierengehen, ja, ja, Herr Doktor, solche Meinungen hört man manchmal. Die Kehrseite vergessen die Leute, wenn sie zufällig einmal die Nase in die Zeitung stecken und etwas von Kämpfen mit Schmugglern lesen. Das müssen dann aber schon größere Sachen sein, sonst berichten die Zeitungen überhaupt nicht erst darüber.«
»Sind es denn größere Banden in unserer Gegend?«
»Ja und nein, Herr Doktor. Geschmuggelt wird ja immer etwas. Man kann die Grenzbevölkerung nicht wegen jeder Kleinigkeit behelligen, ich meine, in die Häuser gucken und nachschnüffeln. Das schafft bloß böses Blut und macht die Grenzer, wie sie uns nennen, unbeliebt. Aber leider haben wir in letzter Zeit feststellen müssen, daß, wahrscheinlich von der Harlaer Seite drüben, ein regelrechter Warenschmuggel eingesetzt hat. Es müssen sich mehrere daran beteiligen. Wir beobachten es schon eine ganze Weile. Eines Tages greifen wir zu.«
»Können denn große Transporte überhaupt ungesehen herüber?« fragte Doktor Lorenz, während er seinen Wagen aufschloß, der ein Stück abseits von der Straße auf einem Waldweg stand.
»Das wohl nicht, denn es führen nur zwei Zollstraßen hinüber, und die anderen Wege sind schlecht befahrbar. Deshalb wird alles in kleineren Mengen, aber eben von vielen über die Grenze gebracht, verstehen Sie.«
»Glauben Sie, daß die Leute es auf eigene Faust machen? Ich nehme viel eher an …«
»Sehen Sie, Herr Doktor, Sie denken dasselbe, was wir schon längst vermuten: daß nämlich einer die Schmuggelei organisiert und eine Menge Helfershelfer hat. So sieht es nämlich aus. Bloß kennen wir leider diesen einen nicht.«
»Schmuggeln etwa Leute aus der Bevölkerung?«
Erdmann hob die Achseln ein wenig: »Es muß wohl so sein. Fremde wissen mit den Schleichwegen ebensowenig Bescheid, wie ich mit Ihrer Kunst, Herr Doktor.«
Der Arzt schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, Herr Erdmann, da möchte ich Ihnen widersprechen. Ich bin hier in der Gegend geboren. Als Dorfjunge – meinem Vater gehörte das Sägewerk in Lomnau – habe ich mit Dorfjungen zusammen auf der Schulbank gesessen und kenne also einigermaßen den Menschenschlag. Das sind alles brave, biedere Waldarbeiter, Holzfäller, ein paar Kleinbauern darunter –, die treiben keinen Schmuggel, das sind ehrliche Leute, glauben Sie mir.«
»Vielleicht war es früher so, vor dem Kriege, Sie werden es schon wissen, und ich glaube es Ihnen gut und gern. Nur hat es inzwischen schlechte Jahre gegeben. Der Graf, dem die Wälder gehören, hat zuletzt wenig Holz schlagen lassen, weil es im Vorjahre schlecht bezahlt wurde, da läßt sich mancher zu etwas verleiten, was er sonst nie und nimmer machen würde. Die Leute täten mir selber leid, wenn es eines Tages hart auf hart ginge, aber danach fragt dann keiner. Die eigentlichen Schmuggler, ja, die stecken im Hintergrunde und werden gewöhnlich nicht erwischt.«
»Also ist im Grunde genommen die Not schuld daran«, sagte Doktor Lorenz mehr für sich, während er in den Wagen stieg und das Türfenster herabließ. »Was meinen Sie, Herr Erdmann?«
»Zuerst ja, aber es ist schon häufig dagewesen, daß Leute, die eine Zeitlang geschmuggelt haben, nicht mehr davon loskamen, auch wenn sie wieder gute Arbeit erhielten. Es geht ihnen wie den Wilderern, die können ihr gefährliches Handwerk auch nimmer lassen.«
»Das kann ich von unseren Leuten gar nicht glauben«, entgegnete der Arzt. Gern hätte er sich noch weiter mit dem Grenzer unterhalten, doch die Zeit drängte, weil er die weniger eiligen Krankenbesuche bis zu seiner Rückkehr nach der Stadt verschoben hatte. Durch das offene Fenster reichte er Erdmann die Hand und bat anzurufen, falls es mit Gerhard schlimmer werden sollte. Erdmann versprach es.
»Gute Fahrt!«
»Danke!« rief Doktor Lorenz, während er den Motor anspringen ließ. Mit mäßiger Geschwindigkeit rollte der Wagen die kurvenreiche Zollstraße hinab.